Als ich mich in meinen Uni-Email-Account eingeloggt hatte, um ihm die Silvester-Email zu schreiben, wie ich es mir vorgenommen hatte, wartete schon eine Nachricht von ihm in meinem Posteingang. Als ich sie anklickte, klopfte mein Herz so sehr, dass mir schwindelig wurde. Vor Freude dann gleich noch viel stärker. Er fragte nämlich, ob ich denn Silvester etwas vorhabe. Schrieb, dass er es ja kaum glauben könne, wenn nicht, aber dass er in diesem Fall gerne mit mir den Jahreswechsel verbringen würde.
Ich konnte es, in diesem Fall seine Nachricht, ebenfalls kaum glauben. Vor allem konnte ich nicht glauben, dass ich diese Mail erst jetzt las, nur wenige Stunden vor der Uhrzeit, die er vorgeschlagen hatte. Als würden die paar Sekunden das wieder wettmachen, tippte ich besonders hastig. Nein, ich hatte nichts vor. Ja, ich würde ihn gerne sehen. Außerdem, wichtig: ich hasste Feuerwerk, ob das schlimm sei?
Die Antwort kam so rasch, als habe er darauf gewartet. Er schickte seine Adresse. Er freue sich, mich zu sehen. Und nein, das träfe sich super, auch er sei kein Freund von Feuerwerk. Wir konnten also in seiner Wohnung bleiben und das Spektakel ignorieren.
Wie zu erwarten war seine Wohnung in einer teureren Gegend als die meine. Aber er verdiente ja auch Geld, ich war hauptberuflich Bafög-Bezieherin. Als ich auf den Klingelknopf drückte schlug mir das Herz bis zum Hals und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihm nicht auffiel, wie aufgeregt ich war; er war ja ein aufmerksamer Mensch. Als ich vor ihm stand ruhten seine Augen wie immer ruhig und klug auf mir. Er nahm mir den Mantel ab, und sagte, ich solle im Wohnzimmer warten, er würde noch rasch Tee kochen. „Du magst doch Tee, oder?“ Ich nickte. Auch wenn er mich schon im Park geduzt hatte, stellte dieses Personalpronomen noch immer kaum sagbare Dinge in mir an. Ich war so verwirrt, dass ich selbst die einladend gefüllten Buchregale kaum beachtete. Stattdessen setzte ich mich einfach aufs Sofa. Als er mit einem Tablett hereinkam, das er auf dem Couchtisch abstellte, wirkte es zuerst, als wolle er sich neben mich setzen, doch dann wählte er doch einen Sessel an der angrenzenden Tischkante. Kurz überlegte ich, ob er das tat, weil er nicht neben mir sitzen wollte, oder ob er wollte, dass es ihm möglich war, mich anzusehen. Ich auf jeden Fall war froh, ihn sehen zu können.
Ihn bei mir zu haben war gut. Schon in den paar Ferienwochen, in denen ich ihn nicht sah, hatte ich ihn schrecklich – lächerlich? – vermisst und nun schaute ich ihn an, als wolle ich alles an ihm auswendig lernen. Er trug einen schwarzen Wollpullover, er schenkte Tee ein, er wirkte schüchterner, als ich ihn je erlebt hatte. Es überkam mich eine fast unerträgliche Zärtlichkeit.
„Möchtest du Milch in deinem Tee?“ Ich nickte und während ich die weißen Wirbel betrachte, die im Braunschwarz versanken, fühlte ich mich plötzlich so aufgewühlt, dass ich aufspringen musste. Verwundert sah er zu mir hoch. „Ist alles in Ordnung?“ Ich fuchtelte so verzweifelt in der Luft herum, dass ich lächerlich aussehen musste. „Ich bin so enorm heftig verliebt, ich ertrag‘ das nicht.“ Ich klang wohl bekloppt, aber mir war nach Weinen zu Mute.
Er blieb sitzen, doch er griff nun nach meinen Händen und bugsierte mich um das Tischchen herum, sodass ich direkt vor ihm stand. Seine Knie berührten meine Beine. Trotz meines seltsamen Betragens blieb sein Blick ruhig und lieb und offen. „Ich bin auch enorm heftig verliebt. Aber ich vertraue auf uns. Wir schaffen das.“
Ich sah auf seinen Mund, der so viele Gedichtworte formte und kluge und schlicht gute Dinge sagte. Und der selbst, wenn er meine Sprache imitierte, das nicht wie ein Sich-Lustig-Machen wirken ließ, sondern wie die einzig mögliche Annährung in einer Welt der Worte. Ich weiß nicht, ob meine Knie nachgaben oder ich mich fallen ließ oder er mich zog oder alles, doch auf ein Mal saß ich auf ihm und meine Lippen bedeckten seine. Seine Hände umfassten mich und ich spürte sein Lächeln und seine Atem.
Und in diesem Moment wichen all das Herzschlagen und all die Aufregung einer unglaublichen Ruhe. Alles war gut. Zwischen Worten und Blumen und Peinlichkeiten war ich angekommen und sein Kuss erfüllte mich so, dass nicht mal Platz für das kleinste Gedicht in meinen Gedanken blieb, da Worte eben doch nicht überall hinreichen.