Ryan kniete keuchend am moosbewachsenen Waldboden und starrte sein Spiegelbild in dem kleinen, ruhig fließenden Bachlauf vor sich an. Schon jetzt spürte er den Ruf des Mondes, dabei waren es noch mindestens zwei Stunden bis zum Mondaufgang. Der Wolf rumorte in seinem Inneren, heulte, verlangte freigelassen zu werden und das am Besten sofort.
Seine Augen wechselten zwischen ihrem normalen Grau und dem Bernstein der Wolfsaugen. Auch das Farbspektrum, welches Ryan wahrnahm, änderte sich immer wieder, flackerte wie eine Kerze im Wind. Sein Geruchssinn schärfte sich mit jeder Minute, die verging, und Ryan hatte Mühe seine menschliche Gestalt zu halten.
Warum genau Ryan sich so an seine menschliche Gestalt klammerte und gegen den Wolf wehrte, wusste er selbst nicht. Er hielt inne und dachte über die Tatsache nach, dass er ein Werwolf war; ein Mensch, der sich in einen Wolf verwandeln konnte, wenn die Bedingungen stimmten. War das wirklich so schlimm? Hinderte ihn diese Tatsache daran sein Leben zu Leben, wie er es für richtig hielt? Die Antwort darauf lautete Nein. Auch wenn er nun bei Vollmond als Wolf unterwegs war, so behinderte ihn dies doch die restliche Zeit über nicht und abgesehen vom Prozess der Verwandlung war es auch nicht schmerzhaft oder unangenehm. Ryan fühlte sich wohl, wenn er endlich die pelzige Gestalt angenommen hatte und seine Welt so vollkommen anders wahr nahm.
Natürlich war es seltsam auf zwei Beinen, aber behaart wie sonst was, mit lang gezogener Schnauze, sabbertriefenden Fängen und leuchtenden Augen durch die Nacht zu streifen, aber er tat ja niemandem weh damit. Er achtete immer darauf, dass er weit entfernt von Menschen war, wenn die Zeit für die Verwandlung da war, damit er niemandem sein eigenes Schicksal zu teil werden ließ. Er hatte inzwischen akzeptiert, was er geworden war und konnte damit leben. Ihn trieb nicht mehr die Verzweiflung, die Angst vor dem Ausschluss aus der Gesellschaft und all die anderen Kleinigkeiten, die ihm plötzlich Schwierigkeiten machten, waren zu Nichtigkeiten geworden im Angesicht der Tatsache, was er alles durch diesen unbedachten Biss dazu gewonnen hatte.
Er war stärker; erkrankte nicht mehr so schnell; war körperlich von viel besserer Konstitution und der ihm bisher so verhasste Sport machte plötzlich Spaß. Die Bewegung an der frischen Luft, sei es durch das Joggen, Yoga und das leichte Krafttraining, welches er begonnen hatte, hatten sich ebenfalls positiv auf seine Gesundheit ausgewirkt. Er war schlanker und erschien kräftiger. Seine Haltung war aufrechter und er ließ sich nicht mehr so leicht die Butter vom Brot nehmen. Es war, als hätte er mit dem Biss eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein bekommen.
All diese Dinge hatten sich positiv auf sein Leben und seine Karriere ausgewirkt und Ryan wollte sie um Nichts in der Welt missen. Er liebte den Wolf in seinem Inneren, der ihm soviel positive Veränderung gebracht hatte, und das teilte er ihm auch mit.
Als Reaktion darauf sah Ryan vor seinem Inneren Auge, wie der Wolf auf eine Replik seiner selbst zusprintete und sprang. Als Wolf auf Mensch traf, verschmolzen sie in einem gleißenden Lichtspektakel miteinander und wurden Eins. Ryan und sein Wolf waren eins. Er fühlte es. Diese Dualität, die ihn seit dem Biss immer ein wenig irritiert hatte, war mit einem Mal verschwunden. Ryan war nicht nur Mensch und hatte einen Wolf im Inneren. Er war Mensch UND Wolf. Zwei Seiten der selben Medaille.
Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Ein Knoten schien sich in seinem Inneren gelöst zu haben, denn im einen Moment war er ein Mensch, der keuchend am Boden kniete, und dann ließ er einfach los und glitt zum allerersten Mal mühelos und ohne Schmerzen mit dem nächsten Herzschlag hinein in dieses andere Wesen in ihm, so dass anstelle des Menschen ein pechschwarzer Wolf dessen bernsteinfarbene Augen im Dämmerlicht zu leuchten schienen am Ufer des Bauchlaufes ruhte.
Ryan starrte verblüfft sein Spiegelbild an. Es war zwar nicht so bunt wie früher, aber er konnte durchaus erkennen, dass er ein Wolfs war und nicht dieses Mischwesen, welches man aus den Legenden kannte, welches halb Mann, halb Wolf war. Diese Form hatte er in der Vergangenheit immer angenommen und jede Wandlung hatte ihm Schmerzen bereitet, ihn an den Tagen der Verwandlung müde, irritiert und sehr aggressiv sein lassen.
Ryans Lefzen hoben sich und seine Zunge hing zwischen den Zähnen aus der leicht geöffneten Schnauze, während er hechelnd die Witterung aufnahm. Es gab soviel Neues zu entdecken in dieser Form. Hörte er da einen Hasen im Dickicht? Bevor Ryan darüber nachdenken konnte, hatte er sich schon erhoben und sich auf leisen Sohlen auf den Weg gemacht, welchen seine Nase ihm wies.
Das er wenig später mit einem frisch erlegten Hasen aus dem Unterholz zurück auf die Lichtung kam und diesen dort in aller Seelenruhe verspeiste, zeigte, wie sehr er sich seinen Instinkten ergeben hatte. Ryan war zwar bewusst, was dort passierte, aber der Wolf in ihm hatte die Führung übernommen.
Als der Alpha seines Rudels auf die Lichtung trat, ließ Ryan von seiner Mahlzeit ab und drehte sich ohne zu Zögern auf den Rücken und bot dem erfahreneren Wolf die Kehle dar. Dieser schnüffelte nur kurz an ihm und machte sich dann über die Reste von Ryans Mahlzeit her, bevor er ihn auffordernd mit der Schnauze an der Seite anstupste, nur um dann mit langen Sätzen seinen Weg tiefer in den Wald zu finden.
Ryan zögerte nicht. Er folgte. Immerhin gab es dort draußen noch mehr zu sehen und zu erkunden.
Und es gab den Rest des Rudels, welches er nun treffen würde.
Vielleicht war es doch nicht so schlimm ein Werwolf zu sein.
~Ende~