Mit Isa als Katze auf dem Arm teleportierte er sich im Morgengrauen in die Wohnung auf der Via Cavour. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Auch wenn es sich als belanglos herausstellte, war es ärgerlich, denn die Wohnung sah aus wie ein Handgranatenwurfstand. Überall leere Weinflaschen, auf dem Boden verteilte Klamotten. Er setzte Isa auf dem Boden ab und schlängelte sich an dem Chaos vorbei in Damianos Schlafzimmer. Unter dem Federbett schimmerte ein dunkler Lockenkopf hervor. Schräg über dem dazugehörigen Korpus schlummerte verdreht Damiano. Nackt. Nicht übel anzusehen, aber der Ärger tickte in ihm. Er pfiff einmal scharf durch die Zähne. Damiano schreckte hoch. Der Lockenkopf stöhnte.
„Gibt es hierfür eine Erklärung?“, mit dem Arm umfasste Lysander das Durcheinander.
„Ich wusste nicht..Du warst nicht da..“ Mit verklebten Augen stierte Damiano ihn an. Unter der Decke kroch ein junger Mann, mit erheblicher Ähnlichkeit zu Michelangelos Davidstatue, hervor. Verlegen linste er zwischen seine langen Ponysträhnen. „Äh, ich glaub‘ ich geh dann mal besser“, tappend kramte er sich seinen Plünnen zusammen, „Tut mir leid“, nuschelte er dabei, „Hab nicht gewusst, dass er einen Typen hat.“
Wenn er das so sah, umso besser. Er sollte sich verziehen. Mit der Standpauke wartete Lysander, bis der Typ durch die Tür geschlichen war. Dann sah er Damiano nur an und hob eine schmale Braue.
„Mann!“, fuhr der auf, „Ich bin zum ersten mal ein Mensch. Und du warst nicht da...“
„Da dachtest Du, eine wilde Party wäre genau das Richtige. Lungert hier noch irgendwo ein Mädchen herum?“
„In der Bar, in der ich war, war keins“, brummte Damiano. Sein Gesicht war fleckig, er wirkte vollkommen übernächtigt. Von unten, aus Luisas Wohnung hörten sie die Dusche rauschen. „Sie ist wach, Damiano. Und es ist Deine Aufgabe, sie zu schützen.“
„Jaja.“
Aus der tiefer gelegte Wohnung erscholl ein spitzer Schrei. Es rumpelte und Glas zerbrach. Dann erreichte sie ein lästerlicher Fluch. „Geh duschen, entmaterialisiere Dich und mach Deine Arbeit“, befahl Lysander gereizt, und suchte nach Isa. Er fand sie wie wild an einer Zimmerpalme kratzend, um die diverse Blätter verteilt lagen.
„Was ist das für eine Katze?“ Damiano blinzelte verwirrt.
„Das ist Isa“, Ly hob sie hoch, was mit etlichen Schwierigkeiten verbunden war, weil sie die Palme partout nicht losließ, „Ich nehme sie mit runter, um eine Beziehung zu unserem Schützling aufzubauen.“
„Isa? Die Tochter des Weltenlenkers?“ Damianos herz pochte schneller, in einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst, „Du warst oben? Was hast Du rausbekommen?“
„Die Frau unten ist eine Walküre, die von Odin geschickt wurde, um Leute aus der Hölle zu holen, die versehentlich dort schmoren.“
„Weil sie so ehrbar waren?“ Damiano schob sich seine wild durchenandergeratenen Locken aus der Stirn.
„Nein“, erklärte Ly gepresst, während er mit Isa kämpfte, die wild strampelnd versuchte, aus seinem Griff zu türmen. Er wusste, dass sie sich nur einen Spaß mit ihm machte. „Weil sie in Walhalla sitzen sollten. Das war bisher nur eine Legende. Ich erkläre es Dir später. Du wirst da unten gebraucht.“
Und tatsächlich rumpelte schon wieder irgendetwas, gefolgt von einem neuen Fluch, dieses Mal auf nordisch. Ohne Schutzengel war die Walküre verloren.
„Okay, tut mir leid.“ Mit zerknirschter Miene schlich Damiano ins Bad.
Lysander griff Isa fester und lief die Treppen hinab. Er schellte.
Wartete.
Setze sein bestes Lächeln auf, als sie die Tür öffnete.
Und dort stand Luisa, die er ja schon mal gesehen und gesprochen hatte, aber mit seinem neuen Wissen um ihr wahres Naturell kam sie ihm auf einmal sehr viel wilder vor. Ihr rotgelocktes Haar stand wirr vom Schopfe ab und leuchtete wie feuchtes Laub in der Oktobersonne. Sie war nur in einen Bademantel gehüllt, der vorne leicht aufklaffte und einen halben Anblick auf zwei wohlgeformte stramme Brüste freigab. Er ignorierte das ebenso, wie er versuchte zu ignorieren, dass sie sich einen Eisbeutel an den Hinterkopf drückte. „Ja!“, blaffte sie.
„Hallo“, sülzte er, „erinnern Sie sich noch?“
„Natürlich“, ihr Tonfall wurde weicher, „Sie und Ihr Freund haben mir gestern geholfen, den Weihnachtsbaum zu entsorgen.
Und geholfen, am Leben zu bleiben, fügte er in Gedanken hinzu, aber er lächelte nur breiter. „Genau. Sie sind ja Tierärztin“, er schob Isa ein Stück nach vorne, „Und ich habe mir gestern diese Katze angeschafft und dachte, ich frage Sie mal, ob sie gucken könnten, ob sie gesund ist.“
Sie verengte die Augen und musterte das grauweiß getigerte Tier. „Eine Silvertabby“, resümierte sie, „wenigstens kein Wildling. Die schleppen alle möglichen Krankheiten mit sich herum. Kommen sie rein.“ Sie zog ihren Bademantel fester um sich und die Tür weiter auf.
„Darf ich?“,fragte er und meinte Isa, die er absetzen wollte. Luisa nickte und verschwand im Schlafzimmer. „Zieh mir nur schnell was an.“
Isa blickte sich um und stakste schnurstracks in einen Karton neben der Heizung. „Lies ihre Gedanken“, wisperte er, „dazu habe ich Dich mitgenommen.“
Sie grinste. Er schwor, sie grinste, ehe sie sich dran machte, den Karton anzukauen. Unterdessen kam Luisa mit ihrer Arzttasche zurück.
„Wollen Sie nen Kaffee?“, fragte sie und er bejahte. Er fühlte Damianos Präsenz und war erleichtert, ihn dabei zu haben, auch wenn der Engel etwas verkatert sein dürfte. Apropos Kater. Die Katze Isa zerpflückte den Karton, biss ihn in Einzelteile und spie kopfschüttelnd Konfetti durchs Wohnzimmer. Ein Buch, telepathierte sie ihm, sie denkt an ein Buch.
Ein Buch? Luisa erreichte ihre Küchenzeile, öffnete den Schrank und holte zwei Kaffeebecher raus, die sie falsch herum in den Vollautomaten stellte. Telepathie, dachte er an Damiano adressiert. Und tatsächlich drehte sie die Becher um, bevor sie den Knopf drückte und das Mahlwerk ertönte. Isa verließ den Karton und malträtierte eine Socke, die auf dem Sofa herum lag. „Sie ist sehr wild“, entschuldigend deutete er auf das Fellwesen.
„Sie sieht ja auch noch jung aus“, Luisa gab ihm seine Tasse und schnappte sich die Katze. Während sie sie abtastete und das Mäulchen aufsperrte, um hinein zu sehen, resümierte sie: „Sieht alles gut aus. Ist sie geimpft?“
„Ja“, log er, weil er Isa nicht mit einem ominösen Wirkstoff außer Gefecht gesetzt sehen wollte. Die wand sich wieder aus dem menschlichen Griff und raste eine Yuccapalme hoch, an deren Blättern sie verbissen herumzerrte. Durch das Grün hindurch sendete sie ihm Signale. Ein Buch. Sie braucht den Spruch aus einem Buch, um irgendetwas zu öffnen.
„Soll ich Sie sie chippen?“ Die Walküre nahm ein Gerät aus ihrer Tasche. Er warf einen raschen Seitenblick auf Isa, die an der Palme klammerte und ihn mit kugelrunden Augen anstierte. Wag es, sagten sie stumm.
„Nein, ich...äh, lieber nicht.“ Die Frau maß ihn, als wollte sie ihn einer Prüfung unterziehen. Seit er wusste, dass sie eine Walküre war, mit einem Auftrag, eine Geheimagentin des Nordens, war er von einer latenten Ehrfurcht erfüllt. Er war nie einem Wesen aus den anderen Religionen begegnet und es hieß, die aus dem Norden wären rabiat.
„Das ist aber besser. Falls sie Ihnen mal entwischt.“
„Ich überlege mir das“, räumte er charmant ein und tastete sich an ein anderes Thema heran, „Der Kerl, der gestern hier war. Der im Anzug...“
„Ach, der gutaussehende Bursche?“
Scheiße, dachte er unchristlich, es war Mist, wenn Luce ihr gefiel. Das würde ihm zuspielen, wo er sich an sie heranmachen wollte, um zu verhindern, dass sie die Helden aus seiner dreckigen Hölle befreite.
„Ja, genau“, er schickte ein Sternenstrahlen aus seinen Augen, „Vielleicht ist es Ihnen nicht entgangen, dass wir uns kennen“, er sah sie nicken, während sie sich einen Schal schnappte und ihn wenig elegant um den Hals schlang „und ich möchte Sie vor ihm warnen. Er ist, nun sagen, wir, ein...“
„Lügner“, vollendete sie den Satz knochentrocken, „das sieht man. Wenn man Loki kennt, kennt man sie alle.“ Der letzte Teil war so dahin gemurmelt, aber sie blickte erschreckt auf und wirkte, als wollte sie die Worte zurück zwischen ihre kirschroten Lippen schieben. Mit einem Mal bemerkte er, wie schön sie war. Ganz anders als diese sittichgleichen Wesen oben im Oktogon. Die so filigran und durchscheinend die Vollendung von Schönheit sein sollten. Aber das waren sie gar nicht. Diese Frau hier war schön. Kraftvoll. Sie strahlte eine ungeheure Energie aus, sodass er glaubte, sich zu verbrennen, wenn er sie berührte. Was natürlich Humbug war. Doch wie vollendet war sie im Vergleich zu beispielsweise Isas Schwalbenkörperchen. Zeichnungen aus dem Folianten über die Legenden kamen ihm in den Sinn. Allerlei nordische Gestalten waren darin abgebildet und er stellte sich die hohen schöngehenden Beine in Wickelgamaschen vor. Unheilig, dachte er, und allein deshalb imstande, Lucifer zu widerstehen. Jede andere hätte der längst gefügig gemacht oder ausgelöscht.
„Ich wollte Sie nur warnen“. Er wagte sich vor und zwinkerte, was ihr ein Lächeln entlockte und ihn antrieb, Konversation zu machen. „Sie haben keine Praxis?“, fragte er und suchte mit den Augen Isa, die auf dem Esstisch herumstolzierte und an einem Blatt Papier nagte. San Marco, telepathierte sie ihm, das Kloster San Marco.
„Nein, lohnt sich nicht“ Luisa schritt in die Diele und nahm ihre Jacke vom Haken, was einer Aufforderung gleichkam, „Ich mache nur Hausbesuche.“
„Soll ich Sie hinfahren“, was ein schwachsinniges Angebot war. War es so weit weg, dass sie ein Auto brauchte, würde sie ihr eigenes nehmen.
So schüttelte sie nur den Kopf. „Das Kloster San Marco. Ist ja direkt hier.“
Wie wahr. Es war nur 500 Meter die Straße runter, stadtauswärts.
„Gibt es dort Tiere? Ich meine abgesehen von den Kanarienvögel, die Fra Angelico einst an die Wände malte.“
Ihr Lachen bezauberte ihn, denn es war laut und herzhaft. Nie zuvor hatte er einen Nicht-Menschen weiblicher Art so lachen hören. „Nein, danke. Der Kurator hat einen Hund mit Koliken.“
Er lachte freundlich mit und pflückte Isa vom Tisch. Mit ihr unter dem Arm trat er in das kühle dunkle Treppenhaus. „Dann sagen Sie mir, was Sie von mir bekommen“, spielte er auf die Behandlungskosten an. Während sie die Tür versperrte, winkte sie ab. „Sie können mich ja mal zum Essen einladen.“
Was war das denn jetzt? Flirtete sie mit ihm? „Es wird mir eine Ehre sein.“
„Vergnügen wär‘ schöner“, gab sie vergnügt zurück, „Melden Sie sich, ja?“ Damit marschierte sie die Stufen hinunter. Sie warteten, bis ihre Schritte verhallt waren, und Straßenlärm für kurze Zeit hineinfloss. In Gedanken schickte er Damiano, der um sie herum schwirrte, hinterher, und versprach ihm, gleich dematerialisiert nachzukommen.
„San Marco“, sagte Isa ernst, als sie plötzlich wie ein Engel neben ihm stand, „Das Kloster San Marco und ein Buch.“
„Du sagst, sie braucht einen Spruch oder einen Satz, um etwas zu öffnen? Eine Tür?“
„Das weiß ich nicht, Ly, aber mir ist kalt.“
„Dann werd wieder Katze. Dann hast Du Fell.“
„Warum Du immer so rücksichtslos sein musst.“
Du wolltest unbedingt mit. Also, Isa. Einen Spruch aus einem Buch. Welches Buch liegt in einem Kloster?“
„Eine Bibel, natürlich“, auf zierlichen Füßen hüpfte Isa auf und ab, „Aber für eine Bibel muss sie nicht nach San Marco.
Langsam setzte er sich in Bewegung, um die Treppen hoch zu schlurfen. Isa schwebte neben ihm her. Als er die Tür aufstieß, hatte er einen Geistesblitz. „Es ist eine ganz bestimmte Bibel. Dort im Kloster San Marco.“
„Die Savonorolas?“
„Ganz genau. Und sie ist voll mit seinen handschriftlichen Randbemerkungen.“
Zum Sofa schwebend, wo sie sich sofort eine Wolldecke ausbreitete, vollendete Isa den Gedanken. „Sie braucht irgendeine gotteslästerliche Bemerkung von Girolamo Savonorola.“
Lysander nickte. „Ich glaub, ich geh mal Damiano helfen.“
„Besser ist das.“