Lysander hatte den Carabinieri zuerst ein zweites Loch ins Ohr gequatscht, um ihnen verständlich zu machen, dass die Situation nicht die war, die sie schien. Dass die Frau sich nur verteidigte.
Auch wenn es mühselig war, denn für alle ersichtlich war sie anlasslos auf den Mann zugestürmt und hatte ihn verprügelt.
Doch dann zeigte sich, wie schwach Lucifer nach dem Kampf in der Kapelle noch immer war. Der arme Sünder, den er aus der Hölle auf sie gehetzt hatte, löste sich vor Aller Augen auf und verschwand. Das war gewöhnlichen Menschen unmöglich zu erklären und glücklicherweise bat niemand darum.
Die Carabinieri rieben sich verwundert die Augen, fragten, wer sie wären, gaben sich mit Plattitüden zufrieden und schlenderten zurück auf ihren Posten.
Ly erschien es logisch, dass letztere Umnachtung aller Beteiligten auf eine geheime Einflussnahme des Himmelsoktogons zurückzuführen war.
Oder sein Vater hatte sich wieder eingemischt.
Aber er ließ es auf sich beruhen, denn immerhin konnten er und die Walküre unbehelligt gehen.
Schwer umdüstert verlief ihr Marsch heim schweigend.
Die wie Insektenschwärme um hin schwirrenden Cherubim hellten seine Gedanken nicht eben auf. Offenkundig wollte der Weltenlenker ihn weiterhin nach oben einbestellen und sie versuchten, den Befehl zu übermitteln. Doch er zerbrach sich den Kopf über Lucifers Schwäche. Normalerweise war der mit Engelszauber nicht so leicht zu beeindrucken. Deshalb schloss Lysander messerscharf, dass es die Kombination aus Engelszauber und Luisas heidnischen Gedöns aus Asgard war, was Luce zu schaffen machte.
Nicht mal genügend Energie hatte der, um Luisas Weg mit den üblichen Fettnäpfchen und Ungeschicklichkeiten zu pflastern, mit denen er sie sonst plagte. Was Lys Gedanken zu ihrem eigentlichen Schutzengel Damiano führte. Er hoffte inständig, dass dessen Verletzungen nicht gar so schwerwiegend waren, und er sich vom ersten Aufeinandertreffen mit dem Satan schnell erholte. Gedanken und Gefühle fuhren Karussell in seinem Schädel, weshalb er kaum bemerkte, dass sie bereits im Treppenhaus standen, als Luisa das Wort an ihn richtete: „Am liebsten würde ich ja direkt los“, sie schloss ihre Wohnungstür auf, „Die Adresse habe ich, die olle Bibel habe ich....“
„Und er ist schwach“ Lysander wedelte den lästigen Cherubim-Schwarm davon, „Du kennst ihn ja nicht so gut. Ich glaube nicht, dass wir alleine etwas gegen ihn ausrichten, aber gemeinsam“, er zuckte mit der Hand Richtung Straße und meinte die Kapelle San Marco, „das hat ihm zugesetzt.“
Sie stand schon halb in ihrer Diele, tastete nach dem Lichtschalter. „Ich weiß, was du meinst. Aber ich muss herausfinden, welche Notiz aus der Bibel ich als Spruchschlüssel brauche. Komm mit rein. Dann können wir...verdammt, was ist das denn für ein Gesumme?!“
Die Cherubim, dachte er, sagte aber nichts.
Denn als sie das Licht anknipste, blieb ihm das Wort im Halse stecken.
Ihr nicht. „Was ist das denn für eine Scheiße!?“
„Schlangen“, wisperte er.
„Das sehe ich selbst!“
Und es war nicht zu übersehen. Der Fußboden ihres Wohnzimmers war eine einzige Schlangengrube. Zischelnd und züngelnd wanden sie sich zu Hunderten auf ihrem Parkettfußboden. Krochen die Sofabeine hinauf, schlängelten sich um die Blumentöpfe und linsten zischend aus jedem Gefäß. Zornig pfefferte sie ihre Handtasche unter die Garderobe und machte einen Schritt in den Raum, bevor er sie zurückhalten konnte. Sofort, das sah er, wand sich das Gewürm um ihren bestiefelten Fuß wie eine Schlinge und zerrte sie kopfüber in die Höhe.
Ohne nachzudenken, stürzte er ihr mit ausgestreckter Hand entgegen, wissend, dass ihm dasselbe widerfahren würde, und so war es dann. Nebeneinander baumelten sie unverankert unter der Decke.
Wie verrückt trat sie mit dem freien Bein um sich gegen einen unsichtbaren Gegner. „Aaarrrgh!“
„Luisa“, versuchte er sie zu beruhigen und vor allem nach ihrer Hand zu greifen. Wohin auch immer das hier führte, sie mussten es gemeinsam meistern.
Ihr Haar, das wie ein rotgoldener Vorhang nach unten hing, berührte ihn sachte im Gesicht, aber zu packen bekam er sie nicht.
Einem fluchenden Pendel gleich schwang sie hin und her.
„Luisa! Bitte! Halt still!“
Da bekam er ihre Hand zu fassen. Erschüttert von der Berührung, konnte er sie kaum festhalten, als ob sie aus Flammen wäre, aber schließlich hingen sie still.
„Was jetzt?“, flüsterte sie wütend.
„Keine Ahnung“, gestand er ein. Ein Blick nach unten offenbarte ihm das Verschwinden der Schlangen. Alles sah wieder gewöhnlich aus. Ein Blick nach oben, und er sah nur die verblassten Fresken, die auch seine Wohnungsdecken zierten. Ein hoher Pfeifton kam heran.
„Was ist das?“
„Luisa, ich....“
Dann summten die Cherubim, überlagerten das Pfeifen.
Ein greller Blitz peitschte ihre Augen, es gab einen Ruck und sie schwebten frei durch einen Korridor. Fremdartige Fresken schauten sie an. Vogelsphinxen, Chimären wuchsen aus den Schatten, erstarrt in der Gebärde des Warnens und des Gewährens.
Dann tat sich eine Höhle vor ihnen auf, die Wölbung voller Sterne. Erleichterung durchströmte ihn und manifestierte sich, als sie von weißen Tauben umflattert wurden. Er wusste, das war der Weg, den Nicht-Engel zum Kuppeloktogon gingen.
Wobei das mit den Schlangen selbstredend Lucifers miserable Idee gewesen war. Aber man hatte sie gerettet. Womöglich den Cherubim sei Dank. Er konnte sich nicht erinnern, dass die jemals zuvor einen Nutzen gehabt hatten, aber jetzt...
Immer noch Luisas Hand umklammernd fühlte er ihr Schaudern. Dann polterten sie mit Rumms auf den Marmorboden.
„Aua!“ Luisas aufgebrachter Schrei brach sich an den Wänden und zauberte den Ausdruck tiefer Missbilligung in das Antlitz des Weltenlenkers, der steif auf dem Löwenthron saß.
„Ein Wort des Dankes wäre angemessen“, spuckte er aus.
Lysander blinzelte. „Ja, danke“, murmelte er, „Und größer wäre mein Dank, wenn Ihr den Blödsinn ausschalten würdet.“
Noch einmal blinzelte er in die kurvenweiche Apsis, aus dem ihm geecktes Mosiakgeflimmer entgegen flog, in dessen Mitte er den brokatgewandeten Weltenlenker vor lauter Licht kaum ausmachte. „Der ganze Zirkus dient nur dem Zweck, in nicht-christlichen Gästen Bewunderung zu zeugen. Dabei sieht es nur aus, wie eine Migräneaura.“
„Halt den Mund!“, donnerte es ihm entgegen.
„Wenns beliebt.“ Lysander zuckte die Achseln.
„Was glaubst Du, wer Du bist?“, grollte die erhöhte Gestalt, „dass Du denkst, dich mit heidnischem Zauber vereinigen zu dürfen! Allein unsere sakralsgerechten Taten sind gegen Lucifer....!“
„Die Wirkung unserer schwächlichen Methoden ist erschöpft“, spuckte Lysander zornig aus, „Wir haben ihn nur zus.....“
„Und unseren Befehl zu missachten und nicht zu erscheinen!“
„Wir haben die Adresse schon!“
„Adresse?“, der Weltenlenker sah verwirrt aus, „Du glaubst, ich rief dich, um dir die Anschrift des Eingangs zur Hölle zu geben?“
„Nicht?“ Lysander schob sich das dunkle Haar aus der Stirn und schickte einen Seitenblick zur Walküre, die interessiert die Porphywände musterte und mit langen Fingern drüber strich.
„Von wem?“ Die Gralsgestalt klang erzürnt.
„Sein Vater war da“, Luisa, zerzaust und rotwangig, zuckte mit dem Daumen zu Lysander, „Im Dom. Er hat den Folianten mit den Bräuchen mitgebracht. Da stand sie drin.“
Der Weltenlenker wurde aschfahl. „Sein Vater?“, murmelte er, um es brüllend zu wiederholen, „Dein Vater!“
„Ich freu‘ mich nicht grad drüber. Ich wünschte, er würde mich meine Sachen alleine machen lassen.“
Lysander fühlte sich scharf gemustert. Aber er spürte das Unwohlsein des Chefs. Es war für den nie angenehm, wenn sich höhere Instanzen einmischten, selbst wenn sie Privatiers waren.
„Verzeihung, Herr“, huschte es scheu vom Eingang und alle wandten sich hin. „Wir sind auf den hohen Gast nicht vorbereitet“, stammelte der Torwächter, „Verzeihung.“
Und an ihm vorbei trat in den Raum die Lichtgestalt. In allen Lungen stand sekundenlang die Luft, selbst Luisa war einen Augenblick atemlos. Lysander sah seinen Vater flehend an.
Bitte, misch dich nicht ein, bettelte er mit den Augen, doch der hob, mit einem weichen Lächeln, nur leicht die Hand. „Unser werter Generalissimus ist nicht erquickt, dass ich mich aus dem Ruhestand erhebe“, seine lang bewimperten Kastanienaugen leuchteten, „So sei unbesorgt. Es ist nur Streit, den ich zu schlichten bemüht bin.“
„Ähm...“,brachte Ly raus.
„Tja“, seufzte Luisa, wobei Lysander den schmachtenden Blick bemerkte, den sie auf seinen Vater warf.
„Öh, nun“, stockt der Weltenlenker und befingerte seinen Brokatumhang, „Es geht um die Liste.“
„Welche Liste?“ Lysander kratzte sich unter dem Auge.
„Ich glaub, Dein Boss hier meint die Liste der Helden, die ich aus der Hölle befreien und nach Walhalla bringen soll.“
„Scharfsinnig, Deine Walküre“, Lys Vater zwinkerte dem zu, „Und unser werter Lenker der Himmelsharmonie fürchtet, wenn Ihr, Luisa, der Aufgabe alleine nachginget, entkämen zu viele Sünder der Höllenpein.“
„So Ihr es sagt“, der Weltenlenker fühlte sich sichtlich unwohl, „es wird nur zweien erlaubt sein, zu gehen.“
„Ja“, spitzte Luisa und kramte in ihrer Hosentasche, „ich habe hier einen Zettel. Könnt Ihr Runen lesen?“
Der Mann auf dem Thron nahm das zerknüllte Blatt mit spitzen Fingern. Luisa rückte auf, linste ihm über die Schulter. Bald half sie ihm bei den Übersetzungen, derweil Lysander neben seinem Vater stand.
„Er ist froh, wenn Du wieder in den elysischen Gefilden bist“, zischte er ihm zu, „warum ist er so angepisst über Dein Erscheinen?“
„Ach Junge“, er tätschelte dem die Schulter, „Er weiß, dass ich vom Konzept der Hölle nicht so viel halte.“
„Und was heißt das jetzt für mich?“
„Sieh zu, dass du so viele wie womöglich rausholst.“
Ein Gedanke, der ihm gar nicht so zuwider war, allein, weil viele Befreite Lucifer Verdruss bereiteten. Um den Thron herum schien man sich einig zu sein. Lenker und Walküre schauten zu ihnen herbei.
„Dürfen wir dann jetzt gehen?“, fragte Lysander bemüht höflich.
Vorsichtshalber suchte der Chef Einverständnis bei Lysanders Vater. Der nickte Gewährung.
„So seid bereit",dröhnte es vom Thron, "in der Vereinigung großer Mächte....“
Sie ließen ihn sitzen und palavern, seine Stimme floß wie ein Perlenstrom hinter ihnen her bis hinaus in die Terrassengärten. Neben den Rosen blieben sie stehen und blickten hinab auf die Erde.
„In Florenz ist es schon Nacht“, konstatierte Luisa, „Wollen wir nicht hier schlafen?“
„Ich weiß nicht.“ In der Gegenwart seines Vaters fühlte sich Ly stets so dilettantisch unvollkommen. „Du bist eine Walküre. Ob Dein Gott das gutheißen würde?“
Er sah in ihre Turmalinaugen, klar und frisch, mit goldenem Schimmer darin. Ihm war bewusst, wie lahm das klang. Und dann schenkte ihm Vater auch noch dieses milde Lächeln. „Magdalena würde sich freuen.“
„Sag Mutter...“, dann hielt er inne. Er hatte sie lange nicht mehr gesehen und plötzlich schien es ihm eine gute Idee, seine Mutter noch einmal zu besuchen, ehe er in die Hölle hinabstieg. „Meinetwegen.“
Vorbei an Palästen und sittichgleichen Gestalten schwebten sie mehr, als dass sie gingen.
"Was sind die elysischen Gefilde", plapperte die Walküre, "gehen wir da jetzt hin?"
"Nein", lächelte Lysanders Vater, "wir sagen das immer nur ironisch. Um den Weltenlenker zu ärgern."
"Aber was ist es denn?"
"So was ähnliches wie euer Walhalla", Ly kickte ein Sternchen bis zum Polo-Platz, "nur bei den Mittelmeergöttern. Es regt ihn auf."
"Und euer Gott?", sie war kurz stehengeblieben und hetzte nun hinter ihnen her, "stört den das nicht."
Ein amüsiertes Schnauben entfuhr der Lichtgestalt, die sachte den Kopf schüttelte. "Nein, ihn stört das nicht."
Darüber hinaus aber bekam sie keine Erklärung mehr und mühte sich nicht, das alles zusammenzubekommen. Zumal ihr Magen knurrte. „Gibt es da auch was zu essen“, zwitscherte sie mit den Augen auf die Kristallwesen, die sich unterwegs tief vor ihnen verneigten,“Ich meine, ihr seht alle so ausgezehrt aus.“
Lysanders Vater warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Selbst Lys Lippen umspielte ein Lächeln.