Die Türklingel schellte und riss mich jäh aus meiner Lektüre. Erst als die Anrede aus der Gegensprechanlage tönte, fiel es mir wieder ein - "Hoch verehrtes Fräulein Stapf?"
Aus den Augen, aus dem Sinn - natürlich hatte ich vergessen, mit meinem Bruder über den Brief zu reden. Ich hatte viel gelesen, aber die Zeitschriften noch immer nicht angerührt. So viel zu meinen guten Vorsätzen, die Zeit zu nutzen. Man konnte ohnehin nirgendwo hin und verließ das Haus nur zum Einkaufen und wenn man zu den Unglücklichen gehörte, die noch zur Arbeit gehen mussten. Systemrelevante Berufe nannte man diese. Die Bibliothek, in der ich arbeitete, war seit Wochen geschlossen, aber wenigstens ermöglichte mir mein Job, mich mit Lesestoff für die nächsten fünfzig Jahre einzudecken. Lesend hatte ich die Welt um mich herum völlig vergessen. Regelrecht ausgeblendet und war hinabgetaucht in die Reiche der Phantasie und die Schicksale der Vergangenheit. Social Media mied ich in diesen Tagen - nur Fakenews und Hiobsbotschaften, wohin man klickte. Außerdem an diesem Tag, dem 1. April, gespickt mit scherzhaften, semilustigen Meldungen. Danach stand mir nicht der Sinn. Selbst den Fernsehapparat hatte ich nach wenigen Minuten frustriert wieder ausgeschalten.
Irritiert starrte ich jetzt auf den Sprechknopf und drückte die Taste. "Ja lustig. April, April", entgegnete ich leicht genervt, auch wenn ich die Stimme nicht erkannt hatte. Sie ignorierte meine Ansage. "Fräulein Stapf, wenn sie soweit wären, die Kutsche steht bereit."
"Einen Moment" - ich wusste nichts mehr zu sagen und eilte ans Fenster. Da stand wirklich eine Kutsche. Schwarz lackiert. Hochgeschlossenes Verdeck, mit verdunkelten Fenstern wie die Droschken aus dem viktorianischen England. Davor zwei schwarze Pferde mit glänzendem Fell. Edles Geschirr. Auf dem Kutschbock saß ein Kutscher mit Peitsche und eckigem Zylinder in einem schlichten, schwarzen Frack. Wer machte sich denn für einen Aprilscherz so viel Mühe? Ich rieb mir die Augen und bestaunte den Anblick aufs Neue. Es fiel mir fast schwer, mich davon zu lösen, aber ich erinnerte mich, dass jemand unten auf mich wartete. Ein Blick in den Spiegel. Oh Gott! So konnte ich nicht hinunter. Meine Haare waren zu einem eiligen Dutt gebunden. Ich konnte mich nicht einmal mehr erinnern, ob ich am Morgen die Haare gekämmt hatte. So ein Mist! Schnell riss ich mir das Haarband vom Kopf und die Joggingpants von den Füßen. Stolpernd kam ich vor dem Kleiderschrank zu stehen, zog ein Kleid heraus, schlüpfte eilig hinein und fuhr mir mit den Händen durch die Haare. Das musste genügen. Mir war ohnehin klar, dass mich nur jemand hereinlegen wollte, auch wenn ich anerkennen musste, dass sich dieser Unbekannte wirklich ins Zeug gelegt hatte.
Schlüssel, Handy, fertig. Mit einem Krachen schlug die Haustür hinter mir ins Schloss und zwei Stufen auf einmal nehmend, hechtete ich die Treppe hinunter, nicht ohne einen letzten Blick aus dem Fenster im Flur geworfen zu haben. Ja, da standen sie noch, die beiden Pferde, die edle Kutsche und warteten. Auf mich? Zumindest war es keine optische Täuschung. Ein wenig atemlos riss ich die Haustür auf und erstarrte.