"Fräulein Stapf?"
Ich nickte nur. Mit ungläubigem Blick und aufgerissenen Augen musterte ich den Mann vor mir. Groß, dunkle Augen, das schwarze Haar zurückgekämmt und unter einem Zylinder verborgen. Der zweireihige Frack mit dem schicken Stehkragen zugeknüpft. Flüchtig registrierte ich die glänzenden Knopfreihen. Darunter ein weißes Hemd mit einem aufgebauschten Kragen. Ein Einstecktuch in derselben Farbe. Selbst die polierten Stiefel, in welche die Anzugshose mündete, wirkten antik. Ich schüttelte den Kopf.
"Wirklich stilecht", bemerkte ich anerkennend und scannte das kantige Gesicht mit den sorgsam rasierten Wangen. "Kennen wir uns?", fragte ich, ließ meinem Gegenüber aber keine Gelegenheit, um zu antworten. "Sie sind Schauspieler."
Jetzt lachte er und entblößte eine Reihe ebenmäßiger Zähne und zwei Grübchen auf den glatten Wangen. "Jost Stapf." Eine kräftige Hand mit schwarzen Härchen fuhr zu seinem Hut und zückte den gleichen. "Wir hatten noch nicht die Ehre. Hocherfreut dich endlich kennenzulernen." Er setzte den Zylinder wieder auf und streckte mir die Hand entgegen. Wie von selbst folgte ich dem Automatismus und nahm sie entgegen. "Luise Stapf", flüsterte ich, aber das wusste er ohnehin schon. Er ließ meine Hand nicht los, sondern führte mich wie ein Gentleman zur Kutsche. Staunend blieb ich davor stehen. Erst nach einigen Sekunden dachte ich daran, meinen Mund zu schließen. Aus der Nähe glänzte das Holz der Vertäfelung tiefschwarz. Ich begutachtete mein Spiegelbild darin, schweifte aber bald zu dem meines Begleiters über. Was für eine imposante Erscheinung!
"Ziemlich beeindruckend, nicht wahr? Es ist das neueste Modell", erklärte er nicht ohne Stolz in der Stimme.
Zaghaft streckte ich die Hand aus, berührte den glatten Lack. So musste sich Cinderella gefühlt haben, als sie der Märchenkutsche gegenüberstand. Hart und echt. Die Droschke löste sich unter meinen Fingerspitzen nicht in Luft auf. Die Pferde schnaubten und eines schlug mit seinem Schwanz.
"Hübsche Tiere", bemerkte ich.
"Das sind sie." Er lächelte.
"Darf ich sie streicheln?"
"Nur zu!"
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte nach vorn und tätschelte den Rappen an der Flanke. Die Blicke des Kutschers verfolgten jede meiner Bewegungen, aber er selbst grüßte mich nur stumm mit einem angedeuteten Kopfnicken.
"Fräulein Stapf, wollen wir?", fragte mein Begleiter. Wie war doch gleich sein Name? Stapf, hatte er gesagt, was für ein Zufall. Der Vorname war mir entfallen.
"Wohin wollen wir? Und warum sollte ich mitkommen? Wir kennen uns doch gar nicht. Das ist mir alles ein bisschen zu viel."
Ich machte ein paar Schritte von ihm weg. Er seufzte.
"Luise, bitte. Ich habe so lange auf diese Gelegenheit gewartet."
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. "Genug jetzt! Glaubst du wirklich, ich steige mit einem wildfremden Mann in eine Kutsche und lasse mich entführen?"
"Aber wir gehen doch nur etwas essen", entgegnete er. "Und unterhalten uns." Der Blick in seinen dunklen Augen veränderte sich. "Ich verstehe. Du hast Angst um deinen Ruf. Ich hätte doch auf Bertha hören und eine Anstandsdame mitbringen sollen." Er seufzte erneut. "Aber glaub mir. Ich bin ein Ehrenmann und du bist bei mir sicher. Wir sind schließlich -"
Weiter ließ ich ihn nicht kommen. "Genug!" Ich unterstrich die Worte mit einer Geste meiner Hände. "Es reicht! Du sagst mir jetzt, wer dahinter steckt. Wer das alles bezahlt hat!"
Er wirkte hilflos. "Wir. Deine Familie. Wir möchten dich kennenlernen. Alle freuen sich auf dich." Er trat an die Kutsche und öffnete die Tür. Zwei gegenüberliegende Sitzbänke mit rotem Samtüberzug. Die dunklen Vorhänge des Fensters auf der anderen Seite waren zugezogen.
Ich war verwirrt. Das Innere wirkte einladend und übte eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus. Konnte ich wenigstens einen Blick hinein riskieren? Ich würde mich schon nicht überrumpeln lassen. Dass ich einstieg, war ausgeschlossen. Da musste der Herr Schauspieler sich schon ein wenig mehr ins Zeug legen.