Es war kurz vor sieben Uhr morgens, als Mark seinen Wagen auf einen freien Parkplatz vor der Rezeption parkte. Erschöpft von der langen Fahrt, öffnete er sogleich die Tür und streckte mit einem Laut der Erleichterung die Beine aus. »Erster Teil wäre geschafft«, sagte er tonlos zu sich selbst und schloss für einen Moment die Augenlider. Nur das beruhigende Meeresrauschen und das Rufen der Möwen aus der Ferne waren zu hören und er überlegte, wie weit das Wasser noch entfernt lag. Seichte Brisen wehten ihm um die Nase und genüsslich sog er tief die salzhaltige Luft in seine Lungen. Genauso hatte er sich das vorgestellt.
»Wieso hat der Schuppen zu? Wollen die ihre Gäste nicht in Empfang nehmen?« Noch während die Person sprach, ertönte ein dumpfes Klappern und Mark öffnete die Augen. Vorbei mit der idyllischen Ruhe. Was hatte er auch erwartet? Dass er hier mutterseelenallein einen Urlaub verbringen konnte?
»David, mache hier bitte nicht so ein Theater. Der Empfang wird gleich geöffnet. Noch elf Minuten.«
Langsam wandte Mark den Kopf zum Fenster der Beifahrerseite und erkannte durch die Scheibe zwei junge Männer. Beide waren mit Hawaiihemd und kurzer Hose gekleidet, dazu eine bunte Blütenkette um den Hals. Falsches Reiseziel, dachte Mark und amüsierte sich über die beiden.
»Boar, ich hab keine Lust zu warten.« Der Brünette ließ erneut die gläserne Außentür erzittern und schlug mehrmals mit der flachen Hand gegen die Scheibe.
»Höre bitte auf damit. Mann ... du bist schlimmer als deine Schwester, wenn sie zickig ist.« Der Rothaarige war sichtlich genervt und versuchte den Anderen von dem Eingang wegzuziehen.
»Muss uns im Blut liegen, Sascha«, flachste David und sah Sascha an. »Wo ist sie überhaupt?«
»Na, wo wohl?«
»Schon wieder? Sie war doch vor 'ner halben Stunde noch.«
»Ja, was weiß ich? Frag' sie doch bitte selbst, woher sie die ganzen Liter nimmt. Ich bin keine Frau.«
»Nein, Schatz, das bist du nicht«, sagte ein junges Mädchen, die sich breit grinsend zu den beiden gesellte und Sascha einen Kuss auf die Nasenspitze drückte. Die dunkel gewellten Haaren reichten bis zu ihrem Po. Auch sie trug ein farbenfrohes Oberteil und passte optisch zu den beiden anderen Begleitern.
»Also Jungs, wie schaut's aus? Habt ihr schon die Schlüssel?«
»Nein. Die machen erst in ...«, Sascha schaute auf seine Armbanduhr, »exakt sieben Minuten auf.«
»Gehts vielleicht noch etwas präziser? Sechs Minuten und zwanzig Sekunden, vielleicht?« David rollte übertrieben mit den Augen und sah seine Schwester an. »Wie hältst du es nur mit jemandem aus, der so akribisch genau ist? Zählt er auch deine BH's und Schlüpfer nach? Oder deine Socken?«
Mark musste über die unsinnigen Fragen des Dunkelhaarigen lachen und hielt sich die Hand vor den Mund. Was für ein verrückter Typ dieser David doch war.
»Quatsch«, erwiderte das Mädchen und winkte mit der Hand ab. »Er studiert eben Mathematik, die sind alle so. Erik aus seinem Kurs ist noch viel schlimmer. Aber jetzt wo du das so fragst ...«
»Hallo? Ich stehe direkt neben euch? Und rede bitte nicht so negativ über Erik. Der hat ein wirklich beeindruckendes Gedächtnis und schreibt nur gute Noten«, grätschte Sascha dazwischen und blickte seine Freundin vorwurfsvoll an.
Während die drei diskutierten, bemerkte Mark eine Bewegung zu seiner linken Seite. Eine in einem apricotfarbenen Kostüm gekleidete Dame schloss soeben die Rezeption auf und trat ein. Ohne weitere Zeit zu verlieren, nahm er seine Unterlagen aus der Tasche und stieg aus dem Auto. Mit schnellen Schritten eilte er auf das hölzerne Gebäude zu und warf einen kurzen Blick über seine rechte Schulter zu den noch immer lautstark sprechenden Gästen. Was für eine komische Truppe.
Nachdem Mark den Schlüssel abgeholt und seinen Wagen vor dem Bungalow zum Stehen gebracht hatte, staunte er nicht schlecht. Ein weiß gestrichenes Ferienhaus mit einem Strohdach. Und es lag, wie versprochen, zwischen den Dünen. Von dieser Stelle war bereits ein fantastischer Blick auf das noch ruhige Gewässer gewährleistet. Bis auf die wenigen Jogger und Hundebesitzer, die ihre Runden drehten, war der Strand nicht weiter besucht. Aber das würde sich sicherlich noch ändern, sobald die Sonne hoch genug stehen würde und damit die ersten Badegäste vor die Tür lockte.
Im Inneren der Hütte warf Mark sich zuerst auf das riesige Doppelbett und streckte alle Viere von sich. »Urlaub«, sagte er frohlockend und schaute sich in unveränderter Position um. Durch die rechts liegende Fensterfront mit einer Flügeltür, die auch zu der Außenterrasse führte, fiel reichlich Licht in den offen gestalteten Raum. Direkt daneben eine Kochnische, die zum Zubereiten von Speisen einlud. Davor ein aus Geflecht bestehender Tisch mit mehreren Sitzgelegenheiten, an denen eine vierköpfige Familie Platz finden würde. Gegenüber auf der linken Seite stand ein zweitüriger Kleiderschrank und eine Kommode mit vier Schubladen. Mark fragte sich, ob der Stauraum nicht zu knapp bemessen war, wenn hier eine kleine Gruppe wohnen würde.
Im nächsten Moment drang das Aufheulen eines Motors durch die Fenster und nur einen Wimpernschlag später mischte sich eine bekannte Stimme dazu. Dahin war es mit der göttlichen Ruhe.
»Wieso steht hier 'ne Karre vor unserem Haus?« Das war eindeutig dieser David. Frech, laut und eine Stimmlage, die Mark noch immer in den Ohren klingelte.
»Welche Nummer hat es denn?«, fragte eine weibliche Person.
»Ich seh' nicht mehr als du.« Das Öffnen der Autotür war zu vernehmen. »Vierunddreißig«, kam auch gleich die patzige Antwort.
»Dann müssen wir noch genau zwei Häuser weiter. Wir haben sechsunddreißig. Dann kann es nur das da vorne auf der rechten Seite sein, weil das Linke mit fünfunddreißig beschriftet ist.« Die akkurate Aussprache und die präzise Formulierung ließ Mark schmunzeln. Noch nie hatte er einen Menschen so detailliert sprechen hören.
»Warum hältst du dann hier, du Depp? Fahr weiter, ich hab Hunger.«
Mark war erleichtert, als das ratternde Geräusch des Autos und das Stimmengewirr sich zunehmend entfernte und er betete gen Himmel, dass die Unterkunft der drei jungen Leute weit genug entfernt liegen würde, da das ständige Gezeter nicht zu seinem täglichen Begleiter werden sollte. Die herrschende Stille mit dem leisen beruhigendem Wellenrauschen ließen ihn erschöpft die Augen schließen und in einen traumlosen Schlaf gleiten.
Als Mark erwachte, blinzelte er auf die Wanduhr, deren Gehäuse aus einem blau-weiß gestreiften Rettungsring bestand, und stellte gelassen fest, dass über eine Stunde vergangen war. Egal, er hatte Urlaub. Gähnend erhob er sich und widmete seine Aufmerksamkeit dem Koffer, dessen Inhalt er in die vorgesehenen Stauräume packte.
Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, schnappte sich Mark den Schlüssel und entschied sich für einen Besuch in dem Strandcafé. Ein koffeinhaltiger Wachmacher war jetzt genau das Richtige, um die müden Lebensgeister zu vertreiben.
Der warme Sand war angenehm und kitzelte zwischen Marks Zehen. Die kühlen Brisen, die von dem Meer herübergetragen wurden, ließen seine blonden Haare in alle Richtungen wehen und weckten Körper und Geist zugleich. Noch in Gedanken versunken, bemerkte Mark erst nach dem dritten Klingeln sein Handy. Augenblicklich machte sich ein schlechtes Gewissen breit, als das Gerät mit großen Buchstaben den Namen "Mutter" anzeigte.
»Hi, Mama.«
»Mark? Gott sei Dank ... bist du gut angekommen? Ich habe mir Sorgen gemacht.« Maritas Stimme klang aufgeregt.
»Ja, die Autobahn war frei. Ich habe noch eingecheckt und bin jetzt auf dem Weg ins Café. Von dort hätte ich euch auch gleich angerufen.«
»Jage mir nicht noch einmal so einen Schrecken ein, hörst du?«, kam es vorwurfsvoll durch den Lautsprecher. »Wie ist das Wetter? Sie haben gestern Abend in den Nachrichten ein Unwetter gemeldet. Das soll ganz Deutschland betreffen ... schrecklich.«
»Mama ...«, stöhnte Mark, »hier scheint die Sonne. Ich sehe keine einzige Wolke am Himmel. Hör' mal, ich bin jetzt da. Ich schicke euch zwischendurch ein paar Bilder, ja?«
»Ja, ist gut, Spatz. Pass' bitte gut auf dich auf, mein Junge. Viel Spaß.«
»Mach' ich. Bis dann.« Mark legte auf und stellte das Smartphone im selben Moment auf Lautlos. Noch einmal wollte er nicht gestört werden.
Das Café, das eigentlich eine dieser typischen Strandhütten war, sah dennoch sehr einladend aus. Das auf Holzpfählen gestützte Bretterhaus war weiß lackiert und in schwarzer Schrift war der Name "Strandliebe" zu lesen. Eine steile Treppe führte hinauf zu der Außenterrasse, die mit einem gläsernen Windschutz ausgestattet war und Platz für zahlreiche Gäste bot. Aus dem Inneren des Hauses tönte dezente Musik nach außen und gelegentlich unterbrach das Klappern von Geschirr die rhythmischen Klänge. Mark setzte sich an einen im Halbschatten stehenden Tisch, der unter einem gelb-weiß gestreiften Schirm ruhte. Von diesem Standpunkt gab es einen fantastischen Blick auf die Meereswellen, die vom Sonnenlicht in verschiedenen Farben schimmerten. Traumhaft. Einen tiefen Atemzug nehmend, fand die frische Meeresbrise ihren Weg in seine Lungen und entfaltete ein wohltuendes Gefühl. Lauter werdende Schritte, die sich mit dem knarzenden Geräusch der Bodendielen vermischten, verebbten und eine freundliche Stimme erklang.
»Guten Morgen. Haben Sie schon gewählt?«
Erschrocken zuckte Mark zusammen und schenkte der Bedienung seine Aufmerksamkeit. Eine hübsche Südlanderin, kam es ihm in den Sinn und fand den Namen "Maria" auf einem kleinen silbrigen Namensschild, das auf der schwarzen Bluse angebracht war und im Schein der Sonne funkelte.
»Guten Morgen. Ehrlich gesagt habe ich noch nicht in die Karte gesehen, aber ein Latte Macchiato habt ihr sicherlich, oder?«
»Aber ja. Klassisch, Karamell, Haselnuss oder Vanille? Suchen Sie sich was aus. Von mir bekommen sie alles, was sie möchten.« Lächelnd zückte sie einen Stift und Block.
Für Mark war die letzte Bemerkung eine nette Vorstellung, allerdings bezog sich die Äußerung sicherlich nur auf die Getränkewahl.
»Ich fange erst mit einem Klassischen an.«
»Sehr gerne.« Mit diesen Worten rauschte die Servicekraft ab und Mark sah ihr einen Moment lang nach. Das schwarze Haar trug sie zusammengebunden zu einem Zopf, der bei jedem ihrer Schritte hin und her wiegte.
Erst jetzt bemerkte Mark, dass er ohne Tasche losgegangen war und somit auf das Lesen des Buches verzichten musste. Wenig begeistert darüber griff er zu der Speisekarte. Namen wie "Zucchinischiffchen auf hoher See", "Hering im Strandkorb" und "Möwenfutter mit Wattwurm" ließen ihn augenblicklich auflachen. Wer zum Teufel dachte sich solche Namen aus?
»Boar David ... du bist 'ne Sau. Ich hab' mir grade erst die Haare gekämmt«, empörte sich eine weibliche Stimme, die Marks Aufmerksamkeit erregte, als er den gerufenen Namen vernahm.
Bitte nicht schon wieder.
Sich nach der Lärmquelle umsehend, erkannte er die junge Dame von zuvor, die jetzt mit angewidertem Gesichtsausdruck die Terrasse betrat und sich mit spitzen Fingern ein grün schimmerndes Gestrüpp aus ihrer Mähne wischte. Oh Mann ... selbst hier war keine Ruhe zu finden. Mark seufzte.
»Stell dich nicht so an. Früher haben wir uns sogar mit Quallen beworfen.« Das kehlige Lachen, das darauf folgte, löste in Mark etwas Ungewöhnliches aus, dass er sich nicht erklären konnte. Hinter dem Mädchen tauchten die beiden jungen Männer auf, der eine grinste frech, der andere schüttelte den Kopf.
»Da war ich auch noch ein Kind.«
»Ihr seid schlimmer als meine elfeinhalb Jahre alten Zwillingsschwestern zusammen, wisst ihr das? Ich hätte meiner Statistik mehr Beachtung schenken sollen. Denn die besagte, dass ein reibungsloser Urlaub mit euch beiden nicht möglich ist. Auf einer Skala von Eins bis Zehn war das eine saubere Neun. Und das ist die letzte Stufe zur absoluten Unmöglichkeit. Warum habe ich mich nur dazu breitschlagen lassen, es doch zu versuchen?«
»Na, weil du sonst von deiner Erbsenzählerei nicht loskommst. Außerdem wäre es ohne mich kein richtiger Urlaub. Jeder liebt meine Anwesenheit, auch ihr. Ich weiß es! Tief in meinem Herzen aus Stein fühle ich es auch ein wenig.« Gespielt theatralisch griff David sich an die eigene Brust.
Das amüsierte Grinsen, das sich auf Marks Lippen legte, ließ sich nicht vermeiden. Was war das Bitteschön für ein Freak? Unglaublich.
»So, die Latte. Bitteschön. Haben Sie noch etwas gefunden?« Die Bedienung servierte die Kaffeespezialität vor Mark auf den Tisch und deutete fragend auf die Karte in seiner Hand.
Hat sie eben gezwinkert?
»Oh, ich hatte sie nur überflogen. Im Moment wäre ich aber glücklich, Danke.«
»Prima. Ach, ich habe Sie hier noch nie gesehen. Sind Sie heute angereist?«
»Ja, heute Morgen. Wir werden uns aber jetzt öfters sehen. Ich bin für drei Wochen hier.«
»Dann wünsche ich Ihnen einen tollen Aufenthalt. So, ich muss weiter«, sagte sie freundlich und deutete mit einem Kopfnicken zu den drei jungen Leuten, zu denen sie nun ging.
Mark verrührte die zwei Schichten aus Milch und Espresso zu einer goldbraunen Flüssigkeit und gönnte sich den langersehnten Wachmacher. Den Blick richtete er über den Rand des Glases hinweg auf das Trio. Was sie untereinander sagten, konnte er nicht verstehen, da nur ein Stimmengewirr herrschte und viele Worte von dem Wind weggetragen wurde. Marks Blick legte sich wie von selbst auf den verrückten David. Und immer wenn er den Blick versuchte abzuwenden, gelang es ihm einfach nicht. Die Erinnerung an die aufmüpfige Art und die flapsigen Sprüche, die der Junge von sich gegeben hatte, ließen Mark erneut schmunzeln.
Und in diesem Augenblick fand er den zappeligen Typ unterhaltsamer als irgendeinen Bestseller-Roman.