Nachdem Mark vom Bett aufgestanden war, blieb er noch einen Moment davor stehen und rieb sich verschlafen übers Gesicht. Davids trommelartiges Klopfen an der Tür, klang für Mark wie einer dieser penetrant klingenden Wecker, den er zur Schulzeit an seinem Bett stehen hatte und der ihn jeden Morgen daran erinnerte aufzustehen. Jedes Mal wenn er den Alarm gestoppt hatte und im Bett noch etwas liegen geblieben war, stand kurze Zeit später seine Mutter im Zimmer und zog ihm die Decke weg.
Mark lief zur Tür, öffnete sie und blickte direkt in Davids mürrische Miene.
… Verrückter Kerl …
»Sag mal, bist du taub?«, platzten ihm auch schon Davids Worte entgegen, während der sich ungefragt an ihm vorbei drängte. Ungläubig schüttelte Mark den Kopf.
»Komm doch herein. Wie bitte? Ob du störst? Nein, ich hatte sowieso mit dir gerechnet.« Mark spielte einen imaginären Dialog und schloss die Tür. Als er sich zu David umdrehte, hatte der es sich bereits auf dem Bett bequem gemacht.
»Gehts dir gut?«,fragte David und tippte mit seinem Finger gegen die Schläfe.
Mark schüttelte amüsiert den Kopf, weil ihn David offensichtlich für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. »Bis gerade eben noch, ja. Was machst du hier? Ich dachte wir treffen uns am Café?«, wollte er von David wissen und nahm im nächsten Moment das noch aufgeschlagene Buch von der Bettdecke, um es in der Schublade verschwinden zu lassen. Es war ihm peinlich, da es entgegen seiner gestrigen Aussage, kein Psychothriller war.
»Bist du sicher?«
»Ja, das bin ich. Also, was machst du hier?«
»Ich bin geflüchtet.«
»Lass mich raten, die beiden haben sich abgeknutscht und dich in die Mitte geholt?«, wollte Mark neugierig wissen und holte währenddessen ein Kurzarmhemd aus dem Schrank. Mit einem zerknitterten T-Shirt würde er sich nicht vor die Tür trauen.
»Du hast ziemlich komische Fantasien, weißt du das?«
»So? Habe ich?« Mit einer fließenden Bewegung zog er sich das T-Shirt über den Kopf und stopfte es im Anschluss in einen Kleidersack. Unordnung war noch nie seine Art gewesen. Daran trug seine Mutter auch nicht gerade wenig bei. Ordnung sei das halbe Leben, hatte sie ihm immer eingebläut.
Er spürte Davids Blick auf sich liegen und aus unerfindlichen Gründen wurde ihm warm. Nach einem kurzen Blick über seine Schulter, bestätigte sich seine Vermutung. Bisher hatte es ihn nie gestört, wenn jemand seinen Körper musterte. Aber in diesem Fall war es anders.
»Du machst viel Sport, ja?« Anerkennend hielt David seinen Daumen hoch und legte sich im nächsten Moment auf den Rücken, schob sich seinen Arm unter den Kopf und schien noch immer den freien Oberkörper zu betrachten.
»Mal mehr, mal weniger. Also, was ist passiert, dass du hier aufkreuzt?« Über die Schulter blickend zog er eine Augenbraue hoch und wurde im nächsten Moment von einem Laut abgelenkt. Zum Fenster blickend fand er eine Möwe auf dem Terrassentisch sitzen. Sie pickte gegen den Holzfisch, der am Blumentopf hing.
»Ich hab gelesen und dann kam Sascha mit meiner Schwester vom Strand zurück. Nachdem sie mir ihre ach so tollen Fotos vom Strand gezeigt haben, bin ich einfach abgehauen. Küsschen hier, Küsschen da, im Sand gekritztelte Herzen und ein Freundschaftsbecher in der Eisdiele.« David machte eine abwertende Geste und schaute angeekelt.
Mark war nicht imstande sich eines Lachens zu erwehren. »Also so richtig kitschige Fotos, ja? Ich habe sie gestern vom Café aus am Wasser gesehen. Sie scheinen sehr glücklich miteinander zu sein, oder? Wie lange sind sie schon zusammen?« Er zog sich das Hemd an und wieder kam es ihm so vor, als würde David ihn dabei beobachten.
»Wann machen sie mal keine? Du musst dir mal ihren Status bei Facebook ansehen, alles voll davon. Ich glaub sie sind ein knappes Jahr zusammen. Und wie glücklich sie sind, höre ich ja oft genug.«
»Na, dann ist es ja noch recht frisch. Wie sieht's aus? Gehen wir oder machst du es dir jetzt auf meinem Bett bequem?« Die Hände in die Hüfte stemmend wartete er auf David.
»Klar, lass uns gehen.« Sogleich erhob er sich vom Bett.
Auf der Kommode begann das Smartphone zu vibrieren und Mark seufzte auf. Als hätte der Anrufer gewusst, dass er gerade gehen wollte. Im Display erkannte er den Namen seiner Mutter. Er deutete David an ruhig zu sein.
Was ist jetzt wieder?
»Hi.«
»Hallo mein Spatz, ist alles gut? Hast du das Gewitter gut überstanden? Ich habe in den Nachrichten gehört, dass es an der Küste ordentlich gewütet hat.« Ihre Stimme klang besorgt.
»Ja, Mama. Ist irgendwas Wichtiges? Ich wollte nämlich gerade los.«
»Nein, aber ich wollte mal hören, ob auch wirklich alles in Ordnung ist. Das Gewitter hat hier gegenüber in einen Baukran eingeschlagen, bei den Pennekamps, weißt du? Daneben wird gerade gebaut und Erika meinte heute morgen, dass «
… Von Höcksken auf Stöcksken …
»Mama! Sei mir bitte nicht böse, aber ich wollte jetzt wirklich los. Ich habe Hunger. Können wir morgen quatschen?« Im Hintergrund bemerkte er David, der sich über das Gespräch zu amüsieren schien.
Im Lautsprecher erklang ein Seufzen.
»Ist gut, mein Junge. Pass bitte auf dich auf, ja? Und melde dich. Du bist so weit weg und dann noch alleine. Wenn du wenigstens mit Melanie gefahren wärst, dann …«
Mark stöhnte laut auf und ließ seine Mutter erst gar nicht aussprechen. »So, ich lege jetzt auf. Grüß mir Papa, ja?«
»Ja Schatz, das mache ich. Hab dich lieb«, trällerte sie.
»Ich dich auch. Tschüss.«
Mark stieß geräuschvoll den Atem aus und steckte das Smartphone in die Hosentasche. Sich durch die Haare fahrend kam ihm dabei der Gedanke, das Gerät einfach liegenzulassen. Gerade als er mitteilen wollte, dass sie jetzt gehen könnten, giggelte David los.
»Ich dich auch, Mutti. Küsschen.«
Mark musste dabei zusehen, wie sein gegenüber Luftküsse vollführte und sich lachend über ihn lustig zu machen schien. Obwohl er das Gespräch mit seiner Mutter weniger erheiternd fand, konnte er sich nicht dagegen wehren, in das Gelächter mit einzusteigen. »Ich revidiere, ich mag dich doch nicht«, flachste er und streckte David die Zunge heraus. Er war aufgrund des erheiternden Wesens des Jungen dankbar, dass er ihn kennengelernt hatte. Er griff nach seiner Tasche und wollte sagen, dass sie jetzt losgehen könnten, als David ihm erneut zuvor kam.
»Ach komm', tief im Herzen liebst du mich, ich spüre das. Und jetzt lass uns endlich gehen, bevor ich verhunger.«
Mark sparte sich jegliche Erwiderung und winkte ungesehen mit der Hand ab. Er fragte sich, ob David wirklich so sehr von sich selbst überzeugt war, wie er immer tat, und auch ob er damit wohl bei anderen Mitmenschen aneckte.
»Mark«, stöhnte David im Türrahmen.
»Ja, ja, ich komme.« Zur Tür gehend schnappte er sich den Schlüssel vom Tisch und verließ mit David den Bungalow.
Die mit Salz geschwängerte Abendluft sog Mark tief in seine Lungen. Er erinnerte sich, dass seine Mutter einmal gesagt hatte, wie Gesund die Seeluft doch sei, und ganz Unrecht schien sie damit nicht gehabt zu haben, denn in diesem Moment spürte er die belebende Brise, die ihm ins Gesicht blies und seine Haare in alle Richtungen wehte. Ein ganz anderes Gefühl als die Stadtluft, deren Abgase er bis vorgestern noch eingeatmet hatte. Spontan kam ihm die Idee ans Meer zu ziehen. Raus aus der Stadt und hinein in eine schönere Welt mit Meerblick.
Durch einen Schlag gegen seinen Arm sah er auf.
»Langsam bin ich beidigt. Ich hätte jetzt auch mit der Laterne hier sprechen können, die hätte mir wenigstens zugehört. Gibt's irgendwie Stress zuhause, dass du ständig mit dem Kopp woanders bist?« David blickte ihm mit Falten auf der Stirn entgegen.
»Tut mir leid, es liegt nicht an dir. Komm, lass uns gehen, dann erkläre ich es dir später.« Mark klopfte ihm auf die Schulter und schob ihn zum Schotterweg.
Plötzlich hörte Mark ein lautes Klingeln, und noch ehe er den Fahrradfahrer kommen sah, schnappte er sich David instinktiv, schob ihn vom Weg und drückte ihn direkt an seine Brust. Er sah noch wie der Radfahrer mit einem Schlenker vorbeifuhr und im nächsten Moment über die Schulter blickend rief: »Macht die Döppen los!«
»Hey! Das ist hier keine Rennstrecke, du Penner«, spuckte David dem Radfahrer hinterher. »Was ein Idiot.«
Mark musste daran denken, was alles hätte passieren können. Die Szenen, die sich in seinem Kopf abspielten, waren erschütternd. Und er selbst würde die Schuld daran tragen, weil er David ungeachtet auf den Weg gedrängt hatte.
»Als ich vorhin gesagt hab, du liebst mich, meinte ich das eigentlich anders. Du kannst mich jetzt aber wieder loslassen.«
Mark kam der Aufforderung nach und nahm seine Arme von David. »Tut mir leid, dass ich nicht aufgepasst habe. Beinahe hättest du jetzt nicht nur ein blaues Auge gehabt.«
»Ja, ja, schon gut. Ist doch nichts passiert. Kommst du? Ich hab Hunger.«
»Ich auch.« Mark nickte. Er betrat den Kiesweg und im Augenwinkel erkannte er David, der wiederholt zu ihm herübersah.
»Wie alt bist du eigentlich?«, wollte David von ihm wissen.
»Fünfundzwanzig. Warum?«
»Na, wegen deiner Mutti. Wohnst du noch zuhause?«
»Nein. Ich bin vor knapp vier Jahren ausgezogen. Und das war auch gut so. Und du?«
»Ich hab’ mit neunzehn die Flucht ergriffen, weil mein Alter mir ständig auf den Sack gegangen ist. Da war deine Mutti doch bestimmt traurig, als du gegangen bist, oder?«
»Traurig?«, fragte Mark und fuhr mit dem Kopf herum zu David. »Es war ein Drama wie im Buche. Als ich ihr von meinem Vorhaben erzählt habe, hat sie einen Heulkrampf bekommen. Erst als ich ihr versichert habe, dass ich regelmäßig zu Besuch komme, hat sie sich etwas beruhigt.«
»Immerhin hat deine geweint. Meine war anscheinend froh, als ich gesagt hab, dass ich ausziehe. Ihr Spruch, ich solle den Schlüssel dalassen, war ihr einziger Kommentar dazu. Und glaub mal ja nicht, dass mir einer von denen beim Umzug geholfen hat, ich hab's dann allein hinkriegt. Nur meine Schwester hat mir etwas geholfen.« David trat gegen einen Stein, der die nächsten Laterne erreichte.
»Ja, wie die Niagarafälle. Glaub mir, sowas willst du nicht live erleben. Ich war ehrlich gesagt froh, als ich weg war. Mein bester Freund hatte mir dabei geholfen, die alten Sachen in die neue Wohnung zu fahren und später standen ein paar meiner Jungs vom Verein auf der Matte. So schnell konnte ich gar nicht gucken, wie die meine Möbel aufgebaut haben.« Mark bemerkte Davids gekippte Stimmung. »Ihr habt also kein gutes Verhältnis zueinander, richtig?«
»Vergiss es! Wir sehen uns nur noch auf Geburtstagen, sonst nicht. Aber ist auch egal. Ich brauche die nicht. Sollen sie in ihrem Suff und der Drecksbude verkommen.« Er schien einen Punkt in der Ferne zu fixieren.
»Sie trinken?«
David schnaufte. »Wenn du mit Trinken ne Kiste Bier und ne Pulle Wodka am Tag meinst, dann ja.«
»Das tut mir leid. War das schon immer so?«
»Nein. Erst als mein Alter gekündigt wurde. Da war ich sechzehn. Meine Mutter hat dann später angefangen, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Meine Schwester war zu diesem Zeitpunkt schon längst über alle Berge, wegen ihrem Studium, und ich musste mir den Scheiß jeden Tag mit ansehen. Egal, lass uns über was anderes reden.«
Mittlerweile hatten sie den Dielenweg am Strand betreten. Mark reagiert intuitiv und legte David einen Arm um die Schultern. »Weißt du was? Wir setzen uns jetzt einen Moment hier in den Sand und schließen die Augen.«
David zog eine Augenbraue hoch. »Und was soll das bringen?«
»Mach es einfach.« Mark ließ sich nieder und klopfte neben sich. »Komm her.«
Zögerlich folgte David der Anweisung. »Und jetzt?«
»Lehn dich zurück und genieße das Meeresrauschen. Und bevor du jetzt fragst, was das bringt, mach es einfach.« Er ließ sich rücklings in die feinen Gesteinskörnchen sinken und schloss die Augen.
»Komische Idee.« Zögerlich folgte David der Aufforderung und legte sich auf den Boden.
»Aber eine Gute.«
Während sie schweigend darlagen liefen in Marks Kopf einige Szenarien ab. Das Bild von betrunkenen Eltern, die ihren Sohn wenig bis gar nicht beachteten, stimmte ihn traurig. Wie musste der Junge nur damit klargekommen sein? Von Freunden hatte der auch nicht gesprochen. Für Mark klang das alles furchtbar und er konnte sich nicht ausmalen, wie schlimm so etwas für Einen sein musste. Zu Marks Kinderzeit waren seine Eltern immer sehr fürsorglich gewesen und er hatte jegliche Unterstützung von ihnen bekommen. Bei David schien das alles anders gewesen zu sein. Bei dem Gedanken wurde Mark ganz anders. Am Liebsten würde er den Jungen an sich drücken, um ihm damit zu zeigen, dass er ihn mochte.
»Mark?«
»Ja?» Mark drehte den Kopf zu Seite und blickte geradezu in Davids Augen, in denen er eine unausgesprochene Dankbarkeit zu erkennen glaubte, dabei wurde ihm ganz warm ums Herz.
»Ach nichts, vergiss es.« Er sah kurz zum Meer und wandte sich wieder an Mark. »Aber was geht dir durch den Kopp, wenn du immer so nachdenkst? Ein Mädchen, in das du verliebt bist? Du bist immer total abwesend und reagierst nie.«
… Du bist zurzeit in meinem Kopf …
»Tut mir leid. Ich war schon immer ein Denkertyp. Frag meine Mutter und sie wird dir Geschichten darüber erzählen, bis du umfällst. Als Kind habe ich schon über alles gegrübelt, ich kennen es also gar nicht anders. Aber ein Mädchen war jetzt nicht dabei«, sagte Mark und schmunzelte. »Aber weißt du was? Ich schenke dir jetzt meine vollste Aufmerksamkeit und versuche besser aufzupassen.« Mark legte seine Hand auf Davids Schulter. Für einen kurzen Moment dachte er daran, wie es wohl für Außenstehende aussehen musste, dass zwei Jungs sich nebeneinanderliegend in die Augen sahen und berührten. Aber es war ihm in diesem Augenblick egal.
»Na, ich werde dich daran erinnern, wenn du wieder diesen Psycho-Blick drauf hast.« Auf Davids Stirn bildeten sich Falten.
»Was ist? Du glaubst mir nicht?«
»Ich nehm dich beim Wort. Aber jetzt mal was anderes. Was hast du morgen vor?«
»Ich habe mir ehrlich gesagt noch nichts vorgenommen.« Mark setzte sich auf. »Warum?«
»Sollen wir morgen an den Strand? Ich finde, dass wir mal etwas Bräune vertragen könnten.«
»Von mir aus können wir das machen«
»Cool. Hey, guck mal da!«, David zeigte in eine Richtung.
Mark kam der Aufforderung nach und erkannte auf dem Meer ein schnelles Motorboot, dahinter eine Gruppe jubelnder Personen auf einer gelben Banane. Als eine Welle kam und sich das schlauchbootartige Obst kurz von der Wasseroberfläche abhob, wurden die Freudenschreie lauter.
»Hammergeil! Sollen wir das auch mal machen?«, fragte David.
»Gerne, scheint wirklich Spaß zu machen. So, und jetzt lass uns weiter, ich habe Hunger.«
Als sie das "Strandliebe" erreichten, setzten sie sich an denselben Tisch, an dem sie bereits am Morgen gesessen hatten. Maria empfahl ihnen wärmstens zum Abendessen das "Strandliebe Spezial", ein aus Meeresfrüchten und deftigen Bratkartoffeln sowie einem Krabbensalat bestehendes Menü, das beide wählten und aßen.
»Na, Jungs, hat's geschmeckt? Darf ich euch noch einen Nachtisch bringen?«, fragte Maria und räumte die Teller vom Tisch. Sie schien bei guter Laune zu sein, denn ihre Stimme klang fröhlich und das Lächeln erreichte ihre Augen.
»Was kannst du uns denn empfehlen?«, fragte David und nahm die Karte zur Hand.
Marias Gesichtsausdruck wurde verschwörerisch, als sie sich ein wenig zu ihnen herunterbeugte. »Ich hätte da genau das Richtige für euch, meine Spezialmischung. Vanilleeis mit karamellisierten Mandelsplitter, frischen Erdbeeren und weißer Schokoladensauce. Na, wie klingt das für euch?«
»Das klingt nach richtig guten Gaumensex«, sagte David.
Mark lächelte. »Da kann ich nicht Nein sagen.«
»Schön, dann bis gleich.« Mit diesen Worten entfernte sich Maria und Mark sah ihr nach. Selten hatte er eine derartig freundliche Bedienung erlebt und würde ihr nachher ein gutes Trinkgeld spendieren.
»Erzähl mir was.« David lehnte sich mit seinen Ellenbogen auf den Tisch.
Mark sah ihn an. »Was möchtest du denn hören?«
»Weiß nicht. Warum bist du nicht mit einem Freund oder so hierher gekommen?«
»Weil die entweder arbeiten müssen oder schon woanders um Urlaub sind. Ist aber nicht schlimm.«
David nickte. »Hast du Geschwister?«
»Nein, ich bin Einzelkind. Allerdings hatte meine Mutter vor mir ein Kind verloren. Sie sollte Hannah heißen.«
David wich Marks Blick aus. »Sorry.«
»Schon gut. Ich kannte sie ja nicht.«
»Ist deine Mutter vielleicht deswegen so drauf?«
Mark zuckte mit seinen Schultern. »Du hättest sie vorhin mal hören sollen, als sie mir wieder ihre Sorgen berichtet hat. Das ist nervig und ehrlich gesagt möchte ich nicht jeden Tag dieselbe Leier hören. Aber wenn ich mich nicht melde, wird es nur schlimmer. « Er seufzte.
»Sag ihr doch, dass du viel unterwegs bist und dass du dich bei ihr meldest, wenn es passt. Oder erzähl ihr, dass du jemanden kennengelernt hast, das kann im Urlaub schnell passieren.«
»Soweit war ich auch schon«, sagte Mark. »Sie kennt mich und weiß, dass ich nicht der Typ für schnelle Bekanntschaften bin. Sie würde es mir wahrscheinlich eh nicht glauben.«
»Na, dann schieb mich doch vor« David hob seine Arme gen Himmel und reckte das Kinn. »David der Auserwählte, Herrscher des Norden und …«, begann er theatralisch eine Rede zu schwingen.
… Nicht das schon wieder …
»Und was? Beschützer von Mark dem Einsamen?«, unterbrach Mark ihn lachend. Er bemerkte, dass einige der Gäste belustigt herübersahen. In diesem Moment fühlte er sich wie in einem Theater auf der Bühne. Nur, dass die Hauptrolle einem anderen gebührte.
David hielt in seiner wahnwitzigen Ansprache inne. Das Kinn reibend blickte er nach oben und brummte. »Gar nicht so schlecht, aber eigentlich dachte ich eher an Hüter von Mark dem Ratlosen«, fuhr er in seiner Inszenierung fort.
»Du hast doch echt einen Schatten.«
»Glaub mir, wenn ich deiner Mutter das so verklicker, dann hält sie denn Ball flach. Wetten?«
»Oder sie wirft einen nach dir. Sag mal, du stehst nicht irgendwie unter Drogen, oder so?«
»Hey! Jetzt bin ich beleidigt«, echauffierte sich David. Er lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wer ist beleidigt?« Maria war zu ihnen an den Tisch getreten, in ihren Händen zwei Teller.
»Er«, sagte Mark wie aus der Pistole geschossen, auf David zeigend und breit grinsend. »Darf ich vorstellen, der neue Herrscher des Nordens. Und bitte sprich ihn nur noch mit Eure Hoheit an, sonst fühlt er sich gekränkt.« Er rollte mit den Augen.
»Oh, ich bitte um Verzeihung. Eure Hoheit, darf ich Euch meine Eiskreation anbieten, um Euch milde zu stimmen?« Sie deutete eine Verbeugung an und präsentierte einen der Teller.
David nickte. »Das gefällt mir.« Er lächelte und deutete auf den Tisch. »So stellet es auf die Tafel und ich werde euch mit meinem Zorn verschonen. Und nun hinfort mit euch. Mir beliebt es mit Mark dem rastlosen Halunken zu speisen.« Er machte eine wegweisende Handbewegung und warf Mark bei der Erwähnung seines Namens einen trotzigen Blick zu, bevor er erneut sein Kinn nach oben reckte.
Maria lachte auf und beugte sich im nächsten Moment zu Mark herunter, dabei schirmte sie mit einer Hand ihren Mund ab. »Hat der irgendwas genommen?«
»Das hatte ich ihn eben auch schon gefragt. Von da an war er beleidigt«, sagte Mark und gestikulierte ahnungslos.
»Lass ihn erstmal meine Eiskreation essen, dann beruhigt sich der Herrscher schon wieder.« Sie richtete sich auf und sah beide abwechselnd an. »So Jungs, und jetzt haut rein, bevor es schmilzt.« Lächelnd drehte sie sich um und steuerte einen Tisch mit einer vierköpfigen Familie an.
Mark betrachtete den Teller und staunte nicht schlecht, als ihm sofort die in herzform geschnittenen Erdbeeren auffielen. Anscheinend hatte sich Maria richtig viel Mühe gegeben. Aber warum? Hatte sie etwa ein Auge auf ihn geworfen? Um sich sicher zu gehen, ob an seiner Theorie etwas dran war, lugte er auf Davids Eis, aber fand das Gleiche vor. Ihm kam es so vor, als wäre es eine Art Freundschaftsbecher, die sich nur frisch verliebte Paare am Valentinstag bestellten.
Seine Exfreundin hatte letztes Jahr zum einjährigen ihrer gemeinsamen Beziehung auch so etwas bestellt. Sie hatte dann davon Fotos gemacht und diese anschließend in ihren Status gesetzt. Wahrscheinlich um ihren Freundinnen damit zu zeigen, wie glücklich ihre Beziehung doch sei. Erst hinterher war ihm aufgefallen, dass sie nur sich selbst und das Eis fotografiert hatte.
»Was ist? Willst du dein Eis nicht?«, erkundigte sich David und hielt in seiner Tätigkeit, eine Erdbeere mit dem Löffel zu erwischen, inne und sah auf.
»Doch. Eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass mein neuer Herrscher mir die Erlaubnis erteilt es essen zu dürfen.«
»Erlaubnis erteilt. So nehmet es mein erhabener Halunke. Jetzt mal ohne Scheiß, das ist richtig lecker.«
»So sieht es auch aus.« Mark begann zu essen und brummte genießerisch.
Nachdem sie anschließend noch einige Cocktails getrunken hatten, liefen sie angeheiert über den Strand. Es war bereits dunkel. Nur der sichelförmige Mond stand hoch am Himmel und spendete ein wenig Licht, das sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Mark bemerkte, wie David einen anderen Weg einschlug, direkt auf das Wasser zu.
»Wo willst du hin?«
»Komm mit, dann zeig ich es dir«, rief David lachend zu ihm herüber. Mark wandte sich zu ihm herum und folgte ihm. Eigentlich hatte er sich schon auf sein Bett gefreut, aber er konnte ihn doch in diesem Zustand nicht alleine ans Wasser gehen lassen. Als er zu ihm aufgeschlossen war, stand David bereits mit den Füßen im Wasser. »Was hast du vor?«
»Hast du schon mal etwas richtig verrücktes getan?«
»Kommt drauf an, was du darunter verstehst.« Mark sah, wie David sich das Hemd über den Kopf zog und achtlos in den Sand warf.
»Ich wollte das schon immer mal tun. Zieh dich aus, wir gehen schwimmen.«
»Bitte? Das meinst du doch jetzt nicht ernst, oder?«
»Doch. Na los, mach schon.« David streifte sich die Hose von den Beinen und drehte sich zu ihm herum.
Die Situation wurde für Mark zunehmend verrückter. Was bezweckte David damit? Sollte er sich hier einfach ausziehen und ins Wasser springen? Im nächsten Moment bekam Mark etwas ins Gesicht. Stoff.
»Muss erst ich dich ausziehen?«
»Du bist doch verrückt. Was ist, wenn uns jemand sieht?«, sprach Mark seine Bedenken aus und öffnete sein Hemd, während er sich immer wieder umsah. Danach zog er sich die Hose aus und stand nur noch in Boxershorts vor David, bei dem er mit erschrecken feststellen musste, dass der sie nicht mehr trug. Er wandte den Kopf zu Seite und spürte wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Seit wann war ihm das Bild eines nackten Mannes unangenehm? Seine Teamkollegen sah er jedes Mal nackt und es hatte ihm nie etwas ausgemacht. Warum auch? Es waren Männer wie er selbst.
»Es ist dunkel. Und selbst wenn hier jemand ist, dann sind wir immer noch im Wasser. Siehst du hier irgendwen? Ich nicht.«
Mark sah sich erneut um und zog im nächsten Moment seine Shorts aus. Sein Herz raste in diese Sekunde. »Was soll das überhaupt bringen?«
»Spaß. Nicht mehr nicht weniger. Komm«, sagte David und tastete sich ins Wasser vor.
Mark ging ihm hinterher und sah nur die groben Umrisse des Jungen vor sich. Kälte umspülte seine Füße und augenblicklich bekam er eine Gänsehaut am ganzen Körper. Doch je weiter er ins Wasser trat, desto weniger fiel diese ins Gewicht. Der Nervenkitzel etwas Verrücktes oder gar Verbotenes zu tun, bereitete Mark ein Abenteuer, das für ihn einen aufregenden Reiz hatte. Er hörte wie David freudig johlte und sah ihn kurz darauf von der Wasseroberfläche verschwinden, einen Wimpernschlag später wieder auftauchen. Mark tat es ihm gleich und er spürte, wie sich sein Körper rapide abkühlte. Als er wieder auftauchte, bekam er eine Wasserfontäne ins Gesicht und hörte David lachen.
Mark schwamm augenblicklich auf Ihn zu. »Na warte!« Er packte ihn, drückte ihn unters Wasser und schubste ihn von sich.
In diesem Augenblick musste er David gedanklich zustimmen, dass diese Aktion total verrückt war aber auch unheimlich viel Spaß machte. Mit dem Eintauchen ins Wasser hatte Mark das Gefühl, sich zeitgleich in eine andere Welt zu begeben, in der es keine Belastungen gab dafür aber Freiheit und Abenteuer, also genau das, was er sich so sehr wünschte. Dass er das ausgerechnet mit dem verrückten David erlebte, den er erst eine kurze Zeit kannte, rückte den Jungen für Mark in ein neues Licht. In dieser Sekunde dachte er darüber nach, ob er sich wirklich zu David hingezogen fühlte. Vielleicht lag es auch nur an den vielen Cocktails, deren Alkohol ihm die Sinne zu vernebeln schien und ihn so etwas denken ließ, aber in den letzten Stunden war er nüchtern gewesen und hatte ganz ähnliche Überlegungen gehabt. War es wirklich möglich, dass ein anderer Mann ihm etwas gab, was seine bisherigen Freundinnen nicht hatten geben können?
»Mark?«
»Ja?«
»An was denkst du gerade?«
… Ich bin mir nicht sicher …
»Daran, dass mir das gerade viel Spaß macht obwohl es total irre ist. Warum?«
»Weil du der erste bist, der es länger als einen Tag mit mir aushält und meinen Blödsinn mitmacht. Das passiert selten, weißt du? Als ich dir gesagt hab, dass ich alle anderen auf die Palme bringen würde, habe ich nicht gelogen. Meine Schwester meinte mal, ich wäre ein sozialer Härtefall. Eigentlich ist mir das auch egal, aber manchmal ist es das nicht. Kann ich jetzt schwer beschreiben, wie ich das meine. Dennoch glaube ich, dass wir uns ganz gut verstehen und noch einen geilen Urlaub haben werden, oder?«
Hatte David jetzt einen sentimentalen Moment? Mark konnte es nicht richtig deuten, aber seine Worte klangen aufrichtig und ehrlich, oder sprach da der Alkohol aus ihm?
»Ich denke auch. Bis jetzt war doch alles gut zwischen uns. Und hey, du hast zwar eine Macke, aber auf eine liebenswerte Weise. Und jetzt möchte ich gerne aus dem Wasser, mir wird nämlich kalt. Sollen wir gehen?«
»Jup.«
Als sie sich angezogen hatten und wenig später an Davids Bungalow ankamen, horchte Mark auf und grinste. Anscheinend war Sascha mit Davids Schwester gerade schwer beschäftigt, glaubte er dem lauten Stöhnen, das durch die Fenster nach außen drang.
»Ich gehe jetzt mal davon aus, dass du die beiden nicht stören möchtest, oder? Möchtest du dann heute noch einmal bei mir schlafen?«
»Bloß nicht«, zischte David. »Wenn das für dich okay ist, dann ja.«
»Natürlich ist es das. Lass uns gehen.«
Es waren nur wenige Schritte bis zu Marks Ferienhaus. Er schickte David direkt unter die Dusche und legte ihm trockene Kleidung ins Bad. Nachdem auch Mark geduscht hatte, legte er sich neben David ins Bett und schaltete das Licht aus. Augenblicklich begann wieder das Kribbeln in seinem Magen und er glaubte den Körper des Jungen neben sich spüren zu können.
»Mark?«
»Ja?«
»Danke.«
»Wofür?«
Es raschelte und die Matratze bewegte sich.
»Dafür, dass ich hier schlafen darf.«
Mark glaubte den warmen Atem an seiner Wange zu spüren. Anscheinend hatte sich David mit dem Gesicht zu ihm gewandt.
»Kein Ding.«
Es vergingen nur wenige Sekunden, als er Davids Flüstern vernahm.
»Mark?«
»Ja?«
»Ich mag dich auch.«
Die Worte zauberten Mark blitzartig ein Lächeln auf die Lippen und bescherten ihm eine Wärme, die sich in seinem ganzen Körper auszubreiten schien.
»Gute Nacht, David.«
»Nacht.«
Den Atemzügen lauschend, starrte Mark in die Dunkelheit, dabei kreisten seine Gedanken um David, den er tagsüber als Wirbelwind empfand und doch in diesem Augenblick so friedlich schlafend, als hätten sich seine Winde gelegt, erlebte. Dass David in ihm etwas auszulösen schien und damit möglicherweise eine neue Ebene geschaffen wurde, die er bis zu diesem Zeitpunkt zu betreten nie geglaubt hatte, stellte er sich dennoch vor, wie er sie betrat und wie es wohl mit einem anderen Mann an seiner Seite wäre. Wie würde sich ein Kuss mit David anfühlen? Immerhin hatte er es in Gedanken längst getan. Die alleinige Vorstellung davon, es in der Realität zu tun, ließen Marks Lippen kribbeln und er legte sich einen Finger auf sie. Doch wie würde David darauf reagieren? Unzählige Fragen tauchten auf, über die Mark sich den Kopf zerbrach. Wenn er mit einem Mann zusammenkommen würde, was wäre dann? Wie würde sein Umfeld wohl darauf reagieren oder seine Eltern dazu stehen? Würden sich einige von ihm abwenden, als sei er ein aus der Bahn geratener Junge? Oder würden sie ihn dafür verurteilen, dass er sein Leben so gestaltete, wie er es für richtig hielte? Es waren noch weitaus mehr Fragen in seinem Kopf, auf die er Antworten suchte, aber Davids plötzliche Regung holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Er spürte, wie sich der warme Körper an ihn schmiegte und im nächsten Moment legte sich dessen Arm auf seine Brust, direkt über sein Herz, das augenblicklich zu rasen begann. Ein Schmunzeln schlich sich auf seine Lippen und zögerlich streichelte er hauchzart Davids Hand und flüsterte: »Was machst du nur mit mir?« Es kam ihm so vor, als hätte David für einen Flügelschlag lang die Luft angehalten, daraufhin lief Mark ein Schauer über den Rücken. Hatte David ihn etwa gehört? Erst als Davids leises Säuseln wieder einsetzte, beruhigte er sich. Und darüber schlief Mark langsam ein.