Inspiriert durch die Sixty Minutes Challenge, beginnt hier Minervas Geschichte. Der Prompt war "Walpurgisnacht", gefolgt von "Alte Traditionen".
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Ich hatte es so satt.
Ein weiterer, sinnloser Tag, an dem ich als Verkäuferin gearbeitet hatte, lag hinter mir. Warum ich mich für diese Ausbildung entschieden hatte, weiß ich nicht mehr. Tagtäglich bediente man Kunden, von denen viele einfache Höflichkeitsfloskeln, wie "Guten Tag", nicht beherrschten. Manchmal wurde man auch angeschnauzt. Und dabei musste man immer lächeln! Ich hatte einen Laden allein zu versorgen, das bedeutete für mich: Belegte Brötchen zuzubereiten, Teiglinge garen und fertig zu backen, die Verkaufstheke einzuräumen, Torten schneiden, Preisschilder richtig anzubringen, und natürlich die Kasse zu zählen und einzuräumen. Und wehe, das Wechselgeld stimmte am Ende der Schicht nicht!
Dies bedeutete für mich, mitten in der Nacht aufzustehen und mit dem Fahrrad zur Arbeit zu düsen. Als Verkäuferin, nicht als Bäckerin ... Und dann am besten alles in einer Stunde fertig bekommen, schließlich musste der Laden geöffnet werden! Es wurde mir alles zu viel.
Noch dazu erhielt ich kurz vor dem Feierabend eine Whatsapp Nachricht von meinem Freund. Er wollte sich mit mir treffen. Wenigstens ein Lichtblick, dachte ich erfreut. Ich sollte mich täuschen.
Wir trafen uns in einem Café, nicht weit von meiner Arbeitsstelle. Seine Umarmung war zögerlich und etwas steif. Ich begann mir Gedanken zu machen ... Er seufzte und kam gleich zum Punkt, dass er von unserer Beziehung gelangweilt war, und wir uns auseinandergelebt hätten. „Sei mir bitte nicht böse, Sabine. Aber ich möchte mich von dir trennen."
„Schön", sagte ich nur. Ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg und sich Tränen in meinen Augenwinkeln bildeten. Ich drehte mich um, schnappte mein Fahrrad und machte mich auf den Weg nach Hause. Wie ich dort angekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Auf dem Bett liegend, weinte ich in mein Kissen. "Mau?", kam es aus einer Ecke, dann sprang Alice, meine Katze, neben mich auf das Bett. Sie kuschelte sich an mich. Dankbar streichelte ich ihr schwarzes Fell. Alice war nicht ganz schwarz, sie hatte eine weiße Stelle am Kinn.
Ich wollte und konnte nicht mehr, hing düsteren Gedanken nach. Sie hatten mit Schlaftabletten zu tun. Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben. Wozu sollte ich einem Job nachgehen, den ich auf Dauer nicht ertrug? Noch dazu fühlte ich mich wie ein ungeliebtes Mauerblümchen mit meinen braunen Haaren, unauffälligen Klamotten und der Brille. Ich war wohl einfach langweilig und beschwerte mich zu viel.
Mit diesen herunterziehenden Gedanken schlief ich irgendwann von selbst ein. Alices Schnurren spendete mir etwas Trost, die treue Seele.
„Minerva... gib nicht auf... du bist zu Höherem berufen ..."
Diesen Satz hatte ich noch im Kopf herumschwirren, als ich erschrocken mitten in der Nacht erwachte. Ich hatte noch immer meine Straßensachen an, und lag auf dem vom Heulen noch nassen Kissen. "Moment mal ... Minerva, wer ist das?", sagte ich in das stille Zimmer hinein. Alice spitzte die Ohren, als ich sprach. Sie sah mich aufmerksam und abwartend an.
Das war der Moment, an dem sich mein Leben veränderte.
Durch einen Traum. Seltsam, aber wahr.
Als hätte ein Traum Kräfte in mir geweckt, die bisher verborgen geblieben waren.
Nun hellwach stand ich auf und lief seltsam beschwingt in die Küche, um meine Katze zu füttern. Das hatte ich am Abend vergessen. „Verzeih mir bitte, Alice", sagte ich zu ihr. „Mau", sagte sie, wie als Bestätigung. Gemächlich lief sie zu ihrem Napf, um zu fressen. In meinem Kopf rotierten die Gedanken. Mir wurde schwindelig, sodass ich mich an der Küchenzeile festhielt. Es war, als strömte Wissen auf mich ein. Wissen, das ich noch nicht deuten konnte. Von Trauer keine Spur mehr.
Ich ging zurück in mein Schlafzimmer und schaltete den Laptop an. Ein Wort kristallisierte sich aus dem Gedankenwirrwarr heraus. "Hexe". Ich googelte es, da ich mit dem Begriff nicht viel verband, außer schrullige, alte Frauen mit Warzen an der Nase und einem geflickten, schwarzen Hut. Durch das Internet lernte ich dazu. Ich las gefühlt die restliche Nacht, meldete mich in Foren an, die mir mehr Wissen versprachen.
Kurz bevor ich schlafen gehen wollte fiel mir ein, dass ich zur Arbeit musste. Mist! Das hatte ich total ausgeblendet! Ich fühlte mich gut, aber entsetzlich müde. Daher rief ich bei der Arbeit an und meldete mich krank. Das würde Konsequenzen haben, dies wusste ich. Doch es ging gerade wirklich nicht. Ich wollte den Laptop ausschalten, zögerte jedoch. In diesem Moment traf eine Email ein.
"Hallo Minerva :)
Du bist neu hier, wie ich sehe. Ruf mich mal an:
01xx xxxxxxx
Liebe Grüße,
Juliana",
las ich.
Ich staunte. Da interessierte sich jemand für mich. Oder schrieb diese Juliana alle Leute an, die sich in besagtem Forum anmeldeten? Ich wollte es herausfinden. Doch erst brauchte ich eine Mütze voll Schlaf. Nachher würde ich noch zum Arzt gehen, und einen Krankenschein holen müssen...
Mit erst einmal gestillter Neugier kuschelte ich mich ins Bett, in dem Alice schon auf mich wartete. Diesmal träumte ich nichts, fühlte aber einen tiefen Frieden in mir.
Mir fiel zunächst nicht auf, dass ich den Namen "Minerva" gar nicht angegeben hatte.