Zum zehnten Mal schleicht sie am Fenster vorüber. Zum unzähligsten Mal schweift der Blick zur Uhr. Jedes Mal sind gerade ein paar Minuten verstrichen. Aber jede Minute wiegt schwer. Er ist zu spät.
Mal wieder.
Was er wohl heute als Grund vorbringen wird?
Eine weitere Runde durch die Wohnung, Blick aus dem Fenster, Blick auf die Uhr, schließlich der Griff zum Handy. Er hat nicht geschrieben, natürlich nicht. Das tut er nie. Für gewöhnlich ruft er an. Kein verpasster Anruf, das hätte sie gehört. Außerdem hat sie ständig kontrolliert. Die lange Zeiger weist bereits senkrecht nach unten. Er ist über eine halbe Stunde zu spät. Zu ihrer Verärgerung mischt sich langsam Sorge. Ob er wieder in Schwierigkeiten steckt?
Eine weitere Runde um Esstisch, Wohnzimmerfenster mit Blick auf die Straße, ihr Finger streicht gedankenverloren über das Fensterbrett. Nichts. Länger hält sie es nicht mehr aus. Der Weg führt sie zur Garderobe, wo sie Jacke und Schlüssel greift und auf die Straße hinuntereilt.
Von ihm ist weit und breit nichts zu sehen. Ein paar Maiwanderer spazieren vorbei. Sie grüßt freundlich und zückt ihr Handy. Mit nervösen Fingern sucht sie sein Foto in der Kontaktliste und drückt auf das grüne Symbol. Sofort springt die Mailbox an. Frustriert lässt sie das Telefon zurück in ihre Jackentasche gleiten. Wenn er jetzt nicht bald auftaucht, brauchen sie nicht mehr los. Sie könnte alleine gehen, aus Trotz. Es wäre nicht das erste Mal. In diesem Moment erregt ein Fahrzeug am Ende der Straße ihre Aufmerksamkeit, aber es ist nicht sein silbergrauer BMW. Sie seufzt, dann spannt sie sich an. Langsam fährt das Polizeiauto auf sie zu. Sie hält die Luft an. Er hat sich doch in Schwierigkeiten gebracht, sie hat es gewusst. Die Beamten schauen sorgsam in alle Richtungen, nicken ihr freundlich zu, aber sie halten nicht an. Doch kein Unfall, von dem sie ihr berichten müssen.
Sie atmet aus. Ein weiterer Versuch ihn zu erreichen, bleibt erfolglos.
Eine Familie kommt lachend vorbei, zwei Erwachsene die Hand in Hand spazieren, er zieht einen Bollerwagen, in dem ein Kleinkind vergnügt gluckst. Ein größerer Kind an der anderen Hand der Mutter, plappert munter drauflos. Sie zieht das harmonische Bild in sich auf, während sie sich gleichzeitig fragt, ob sie das jemals mit ihm haben wird. Erneut versetzt zu werden, schmerzt. Wie unzuverlässig er ist, hat er zuverlässig mehr als einmal bewiesen. Sie seufzt. Vielleicht wäre es klüger, die Sache gleich zu beenden, bevor sie noch mehr investiert und noch mehr Erwartungen nicht erfüllt werden. Aber es tut weh. Erst recht mit dem Bild einer glücklichen Familie vor Augen, die am ersten Mai gemeinsam wandert.
Er wollte sie zu einem ganz besonderen Ausflug einladen. Sie lacht trocken. Der Einstieg war ihm schon mal gelungen. Entschlossen marschiert sie los. Ein Spaziergang ist jetzt genau das, was sie braucht. Sie wird nicht zu Hause sitzen und warten. Nicht mehr. Sie muss den Kopf frei bekommen, ihren Entschluss fassen. Wenn sie ihn erst erreicht, wird sie Schluss machen. Endgültig. Genug ist genug. Keine weiteren Ausreden, Ausflüchte oder Chancen. Das war seine letzte.
Sie hat die Abzweigung der Straße gerade erreicht, als hinter ihr die Bremsen quietschen.
"Halt, Mona, warte!", ruft eine Stimme, die sie noch vor Minuten sehnsüchtig herbeigesehnt hat. Sie dreht sich nicht um.
Sie hört, wie der Motor abgestellt wird, wirft einen kurzen Blick über die Schulter, ohne stehen zu bleiben. Er hat mitten auf der Straße angehalten, reißt die Fahrertür auf und stürmt auf sie zu. "Es tut mir leid, Mona, bitte lass es mich erklären." Sie dreht sich weg, nicht ohne zu registrieren, wie atemlos er klingt.
Er packt sie am Arm und sie fährt herum. "Was fällt dir-"
Erschrocken hält sie inne. "Wie siehst du denn aus?"
Er streicht sich über Gesicht und Hemd. "Lass es mich erklären."
Die schwarzen Streifen verteilt er dabei erst recht überall. "Ich hatte einen platten Reifen. Mitten auf dieser verfluchten Landstraße zwischen Venningen und Bodenheim."
Sie mustert ihn eindringlich, dann sein Auto. Sein weißes Hemd ziehren dunkle Spuren, den sonst so makellosen Lack bedecken Schlammspritzer.
"Wenn das deine Ausrede ist, hast du dich wirklich ins Zeug gelegt. Was hattest du dort zu suchen?" Sie lacht abfällig. "Und wieso trägst du ein Hemd? Ich dachte, wir wollten wohin?"
"Wollen wir auch. Ich habe eine Überraschung geplant." Er seufzt. "Ein Picknick mitten im Grünen. Es wird dir gefallen."
"Und wieso hast du nicht angerufen? Ich habe mir Sorgen gemacht."
"Tut mir leid, ich hatte keinen Empfang, muss mir auf diesem Feldweg etwas in den Reifen geholt haben. Kurz vor der Abzweigung nach Bodenheim hat es einen Knall getan, und das war's. Bin mitten im Wald liegengeblieben."
Bevor sie etwas erwidern kann, bleibt ihr Blick an der offenen Fahrertür hängen. "Was ist das?"
"Das ist für dich!" Er eilt auf sein Auto zu. "Warte kurz. Bitte", fleht er. "Ich hatte mir das alles so anders vorgestellt", murmelt er.
"Ich mir auch", erwidert sie, aber er hört es nicht mehr.
Als er zurück ist, hält er einen gigantischen Strauß roter Rosen in der Hand. Er fällt auf die Knie, mitten auf dem Gehweg.
"Mona, eigentlich wollte ich dich heute etwas Wichtiges fragen. Ich weiß, du bist jetzt sicher sauer, dass ich es mal wieder vermasselt habe. Es tut mir leid." Er wirkt ehrlich zerknirscht. Ihr fehlen die Worte, sie hat begonnen zu zittern.
Mit einem unsicheren Blick schauen seine blauen Augen zu ihr auf. "Mona, ich lieb dich wirklich. Ich hatte mir das alles so schön ausgemalt, wie ich dich zu diesem Picknick entführe und dir dann diese Frage stelle. Ich traue mich kaum, aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte. Mona, willst du meine Frau werden?"
Zögerlich streckt er ihr die Blumen entgegen. Der süße Duft liegt vielversprechend in der Luft. Ihr Herz klopft, ihre Stimme versagt, irgendwo hupt ein Auto. Sie greift geistesabwesend nach dem dargebotenen Strauß und nickt. Er atmet erleichtert aus, erhebt sich.
"Ja", haucht sie und er zieht sie an sich, küsst sie zärtlich.
Das Hupen wird lauter. Er löst sich von ihr. "Jaja, ich fahr ja gleich weg. Geduld! Die Frau meiner Träume hat gerade meinen Antrag angenommen", ruft er. Sie lacht und er zieht sie mit sich zum Auto.
Wenig später brausen sie los zu einem verspäteten Picknick, in Richtung einer gemeinsamen Zukunft, alle Sorgen und Zweifel - verschwunden, vergessen. Fürs Erste oder für immer? Das weiß man nie.