6. März 2020.
Rums! „Aua!“ Ein Einkaufswagen rammt mich und ich mache erschrocken einen Satz zur Seite. Dabei pralle ich direkt in Hannes, der auf dem Vorplatz des Supermarktes neben mir läuft.
Dieser hält mich an den Schultern fest. „Juli, sachte. Oder willst du mit mir eine Romcom filmen?“
Fassungslos drehe ich mich zu ihm um. „Hast du das gesehen?! Der Typ da ist einfach in mich reingefahren!“ Empört verschränke ich die Arme vor der Brust und starre vorwurfsvoll dem Mann mit dem Einkaufswagen hinterher.
Dieser ist mit Konserven und Wasserkanistern bepackt. Dem ruppigen Herrn laufen Schweißperlen die Stirn runter, während er den Wagen über den Parkplatz zu seinem Auto manövriert.
Ich blinzele. „Drehen die jetzt alle total durch?!“
Hannes fährt sich durch die gewellten Haare. „Keine Ahnung, Juli. Eine Ausgangssperre ist in aller Munde. Sie haben es auch schon bei mir auf der Arbeit erzählt. Es ist möglich, dass in den kommenden Tagen alle Läden zumachen.“
Kopfschüttelnd wende ich mich ab. „So ein Blödsinn. Dieses Corona ist doch auch nur irgendeine Grippe. Die Leute sollen sich mal nicht so haben. Viele benehmen sich, als stünde die Apokalypse bevor.“ Ich mache eine abfällige Geste zum Eingang unseres Supermarktes. In diesen fluten mehr Menschen, als es für einen Freitagabend normal ist.
„Ich schätze, wir sollten das wirklich ernst nehmen.“ Hannes schiebt einen Chip in einen Einkaufswagen. Er stupst mich an, damit ich ihm in den Laden folge.
Weil uns im Eingangsbereich ein Ehepaar mit prall gefülltem Korb passiert, bleibe ich wie erstarrt stehen. Beide sind von oben bis unten in weiße Schutzkleidung gehüllt. Selbst ihre Schuhe stecken in Schutzhüllen, die ich sonst nur von meinem Job aus der Pflege kenne. Sie sehen aus, als kämen sie aus einem hochverseuchten Krisenherd.
Hannes ist erneut in mich rein gerannt. „Juli, verdammt nochmal! Sperr die Glubscher auf und vergiss das Laufen nicht, okay?!“
Mit aufgerissenen Augen drehe ich mich zu ihm um. „Alter, hast du das gesehen? Die tun ja so, als werden wir alle... sterben?!“ Haltsuchend umklammere ich seinen Arm.
Hannes seufzt. Er ignoriert die angespannten Leute, die sich an uns vorbei drängen. Trotzdem bemerke ich, dass auch er nicht so cool zu sein scheint, wie er sich gibt. „Hast du keine Nachrichten geschaut?“, fragt er. „Es handelt sich halt nicht nur um eine Grippe. Menschen sterben davon. In Italien ist das Virus total außer Kontrolle geraten und... Naja, das ist halt ziemlich ansteckend. Sagt man.“ Er bückt sich und packt zwei Blumentöpfe in den Einkaufswagen.
Eine Großfamilie drängelt sich an uns vorbei. Mit Argusaugen beäuge ich die achtlosen Kinder, die ihren Eltern nachschlendern. Ich ziehe Hannes alarmiert an mich. „Na dann: Pass bloß auf! Hol dir ja nichts weg.“
Hannes schaut irritiert zu mir runter. Dadurch, dass ich ihn an mich gezogen habe, sind wir einander plötzlich sehr nah. „Wir schlafen nicht mal mehr in einem Bett zusammen, vergessen? Du kannst dir bei mir gar nichts wegholen. Und deshalb... lässt du mich jetzt besser los.“ Drohend hebt er die Augenbrauen.
Schmollend lasse ich von seinem Arm ab.
Hannes nimmt Sicherheitsabstand zu mir ein.
Seit wir nicht mehr zusammen sind, achten wir vermehrt darauf, einander nicht öfter zu berühren, als nötig. Das ist komisch, weil wir jahrelang sehr vertraut miteinander umgegangen sind. Derzeit ist vieles komisch zwischen uns. Die Trennung war zwar vorhersehbar, aber nicht geplant. Dass wir noch immer in unserer Einzimmerwohnung zusammenwohnen, konnten wir bis jetzt nicht ändern. Bezahlbarer Wohnraum ist in Berlin knapp. Hannes hat sich mittlerweile zwei Wohnungen angeschaut. Unter den zahlreichen Bewerbern haben die Vermieter jedoch jemanden anderen ausgewählt als ihn.
„Du kannst mich trotzdem anstecken! Du wohnst schließlich noch bei mir, du Blödmann!“ Murrend folge ich ihm durchs Drehkreuz in den Einkaufsbereich hinein.
„Du wohnst ja wohl bei mir“, gibt er überlegen zurück.
„Die Wohnung läuft auf uns beide“, erwidere ich und verdrehe die Augen.
„Ich bin gespannt, ob du dir die Bude dann auch wirklich alleine leisten kannst.“ Hannes grinst.
„Arschloch.“ Genervt wende ich mich von ihm ab. Ich lehne mich an ein Obstregal, während Hannes Äpfel und Bananen abwiegt. Mein Blick fällt auf das Drehkreuz, durch das sich eine Person mit türkisem Mundschutz zwängt. Bis jetzt hatte ich sowas nur im Krankenhaus gesehen.
„Die übertreiben doch alle“, murmele ich zu mir selbst. „Wie schlimm soll es schon werden?“ Ich versuche, mich damit zu beruhigen. Meine Finger haben den Knopf meines Mantels gefunden und spielen nervös daran herum.
„Hast du was gesagt?“, ruft Hannes über die Schulter zu mir rüber. Sein Rücken ist der einzige sichere und verlässliche Anker, den ich in diesem Supermarkt sehen kann. Der Rest hier ist recht befremdlich. Die Leute erlebe ich zunehmend gestresst und teilweise sogar panisch. Ihre Körbe und Einkaufswägen sind prall gefüllt und ihre Gesichter verbissen oder von Schals und Masken verdeckt.
„Nee“, erwidere ich. Er soll nach meinem schwachen Moment zwischen den Veilchen nicht erfahren, dass mir das Szenario hier so viel Angst macht, dass ich für einen Augenblick seine Nähe gesucht habe.
Hannes schnappt sich den Wagen. „Wir brauchen Futter für Church. Na komm!“
Mürrisch schiebe ich die Fäuste in meine Jackentasche und folge ihm. Mich nervt es total, dass ich einen Monat nach unserer Trennung noch immer mit meinem Ex zusammen wohne. Den Blick auf die dunkelblonden Locken in seinem Nacken geheftet, muss ich mir nun eingestehen, dass ich froh bin, dass wir den letzten Einkauf vor dem Wochenende gemeinsam bestreiten. Zugeben würde ich das allerdings nie. Manche Gewohnheiten ändern sich erst mit der Zeit. In unserm Fall bedeutet das, dass wir nach wie vor regelmäßig zu zweit zum Supermarkt um die Ecke schlendern.
Hannes geht in der Tierfutterabteilung in die Hocke. „Thunfisch, Forelle, Huhn... Was darf's für ihn sein, Juli?“ Mit konzentriertem Blick inspiziert er die Dosen. Auf ihnen sind durchweg glückliche, gesunde Katzen abgebildet, die sich unbekümmert die Lippen lecken.
Wieder schiebt sich eine Person mit Mundnasenschutz an mir vorbei. Ihre rabiate Art stresst mich.
„Mir Latte, der frisst sowieso alles, solange du ihm eine ordentliche Portion davon auftischst! Was auch immer du aussuchst, beeil dich!“, sage ich, um Hannes anzutreiben. Langsam, aber sicher überträgt sich die überreizte Stimmung der Leute hier auf mich.
Verwundert hebt Hannes den Blick. Dann grinst er. „Sagtest du nicht selbst grade, dass dieses Corona nur eine harmlose Grippe ist?“ Als er in mein angespanntes Gesicht schaut, sieht er glücklicherweise davon ab, mir einen weiteren Spruch zu drücken. Achtlos packt er ein paar Dosen Katzenfutter in seinen Korb und steht auf. Er tritt auf mich zu und legt mir eine Hand auf die Schulter. Er riecht nach Hannes und nach zuhause. „Ist schon okay! Wir machen ganz schnell, wenn du dich nicht wohl fühlst.“
„Ja, bitte.“ Mit gesenktem Blick verschränke ich die Arme vor der Brust. Ich mag es nicht, dass ich mich in seiner Nähe kurz so wohlfühle. Hastig wende ich mich von ihm ab. „Nudeln. Los!“
„Verstanden, Commander!“, gibt Hannes zurück und folgt mir zum Nudelregal.
Dort angekommen, bremse ich so abrupt ab, dass Hannes das mittlerweile dritte Mal in zwanzig Minuten in mich hinein prallt. Dieses Mal hält er es nicht für nötig, sich darüber zu beschweren. Während er wie versteinert hinter mir stehen bleibt, starren wir auf das Nudelregal. Es ist nahezu leer.
Kurz sagt keiner von uns was. Dann schnappt sich eine Frau die letzte Packung Lasagneplatten und hastet davon.
Auch das lassen wir für einen Moment unkommentiert. Dann murmelt Hannes nur ein Wort. „Fuck.“ Er ist mir so nah, dass ich seinen Atem an meinem Haar spüre. Ich höre Verunsicherung und Angst aus seiner Stimme.
Meine Hand tastet unweigerlich nach seiner. „Was ist hier los?“, flüstere ich. Mein Hals ist wie zugeschnürt.
Hannes schweigt. Dieses Mal weicht er nicht von mir.
Wir starren gemeinsam auf die weißen Regalböden und lassen dieses neue und völlig befremdliche Bild auf uns wirken. Wir realisieren, dass sich nun alles verändern wird.
Vorsichtig durchbricht Hannes die Stille. „Nun, wir haben noch eine Packung, oder?“
„Das reicht nicht! Wir müssen uns eindecken!“ Entsetzt flitze ich zum Ende des Regals. In blinder Panik werfe ich ihm Nudelpackungen zu, die die meisten verschmäht haben. Ich sehe nur noch rot.
„Juli, hey!“, ruft Hannes irritiert. Er fängt nur zwei der fünf Packungen auf, die ich in seine Richtung werfe. „Vollkornnudeln?! Bist du völlig verrückt?!“
Panisch hebe ich den Kopf. „Wir brauchen Essen! Was ist, wenn alles wird wie in Dawn of the Dead oder...“
Hannes atmet einmal tief durch und schiebt sich die Brille zurecht. Die Deckenlampen spiegeln sich in den runden Gläsern. Trotz des Schocks wirkt er relativ entspannt. Zu entspannt dafür, dass ich mir sicher bin, dass wir alle entweder an einer Grippe krepieren oder verhungern werden. „Ich hasse Vollkorn. Das weißt du doch“, sagt er seufzend.
„Vollkornnudeln oder hungern! Du hast die Wahl!“ Hektisch rappele ich mich auf und drücke ihm die drei heruntergefallenen Packungen an den Bauch.
„Als gäbe es nicht genug anderes Essen“, sagt Hannes lachend.
Ein Ehepaar mit FFP2-Masken macht einen großen Bogen um ihn. Ich kann sie verstehen. Er lacht und versteht wohl die Dramatik nicht so ganz. Das irritiert die Leute und mich ebenso.
Hannes deutet über meinen Kopf. „Das Kühlregal ist da hinten, oder? Es ist voller Essen und...“
Verzweifelt raufe ich mir die strohblonden Haare. „Das Zeug dort ist verderblich, du Idiot! Hast du Robert denn nie zugehört?! Wir brauchen noch Konserven und...“ Ich habe richtig, richtig Angst. Ich fahre herum und stelle mit einem erstickten Schrei fest, dass das Regal mit der Dosenkost ebenso wie leergefegt ist.
Hannes ist erheitert. „Unserm Prepper-Robert? Und ich dachte echt, du findest sein Gelaber genauso lächerlich wie ich.“ Herausfordernd sieht er zu mir runter.
„Natürlich finde ich das lächerlich!“ Hilflos lasse ich die Schultern sinken.
Wir tauschen einen Blick und verstehen einander sofort. Wir haben in dem vergangenen Monat nicht über den Abend gesprochen, an dem wir uns getrennt haben. Anja und Robert haben sich seitdem nicht mehr bei uns gemeldet. Trotzdem war uns klar, was wir von dem Lebensmodell der beiden halten. Wir kennen uns einfach zu gut dafür, als dass wir das besprechen müssten.
Ich atme tief durch und schaue in Hannes' ruhiges Gesicht. Mein Blick gleitet wieder über die leeren Regale. „Aber... Vielleicht hat er ja Recht?“
Hannes hebt die Brauen. Dann prustet er los.
„Du Pisskopf!“, rufe ich wütend. Es passt mir so gar nicht in den Kram, dass er meine Angst jetzt so abtut. Gleichzeitig entspannt es mich ein wenig. Sein helles Lachen ist das Geräusch von Unbeschwertheit, Ankommen und Heimat.
Heiter beobachtet Hannes, wie ich beliebige übriggebliebene Dosensuppen in unsern Einkaufswagen werfe. „Schade, dass Robert halt auch schon vom Markt ist! Der könnte dir jetzt superviel Sicherheit geben mit seinem Keller voller Munition und Notstromaggregaten und was weiß ich.“
Erschöpft stapfe ich an ihm vorbei und werfe ihm nicht mehr, als ein mattes: „Leck mich“, an den Kopf. Ich will den Einkaufswagen davon schieben, doch Hannes hält ihn fest.
Ich fahre herum.
Er lacht nicht mehr, aber er sieht zuversichtlich aus. „Im Ernst jetzt, Juli! Wir leben hier in Deutschland. Du wirst nicht verhungern. Chill! Mach dir keine Sorgen! Okay?“
Noch immer ist meine Brust wie zugeschnürt. Ich schlucke und sehe ihm in die Augen. „Versprichst du's?“
„Ich verspreche es dir.“
Kurz lächeln wir einander an.
Dann sage ich: „Du hast letzte Woche auch versprochen, das Katzenklo sauber zu machen. Und was ist passiert? Nichts.“
Hannes grinst. „Na gut, du hast mich enttarnt. Ich lüge. In zwei Monaten wird die Produktion sämtlicher Lebensmittel eingestellt. Du wirst in spätestens einem halben Jahr tot sein.“
Grummelnd lasse ich ihn stehen und schleiche niedergeschlagen durch die Gänge. Die Seifenregale sind geplündert. Ebenso schlecht sieht es mit dem Klopapier aus. Eine Angestellte des Supermarktes eilt hustend an uns vorbei und zieht eine Palette hinter sich her, auf der Klorollenpackungen gestapelt sind.
Hannes und ich knallen dieses Mal nicht ineinander, als wir stehen bleiben. Wortlos beobachten wir, wie sich gierige Käufer um sie scharen und der Turm vor unseren Augen um die Hälfte schrumpft.
Ohne ein Wort zu ihm zu sagen, hole ich tief Luft, dränge mich durch die Menschentraube und ziehe mit angehaltenem Atem eine Packung Toilettenpapier von der Palette. Mit knallroten Wangen mache ich dann wieder einen Satz zurück zu Hannes. Dort angekommen schnappe ich nach Luft.
Kritisch beobachtet Hannes über meine Schulter hinweg, wie gierig sich weitere Menschen auf die Pakete stürzen. „Wenn wir nichts mehr haben, fragen wir einfach die Herrmanns. Deren Vorräte sollten für den ganzen Wohnkomplex reichen. Ein Jahr lang“, flüstert mein Ex. Er nickt dem untersetzten Ehepaar zum Gruß zu.
Sie wohnen schräg gegenüber von uns. Der randvolle Einkaufswagen, den sie vor sich her schieben, ist mit fünf Paketen Klopapier bestückt.
Niedergeschlagen nicke ich. Ich bin total erschöpft. Auf Hannes‘ Hemd starrend, muss ich mich dem Bedürfnis widersetzen, mich in seine Arme fallen zu lassen. Hannes nervt mich mit vielen Dingen. Aber im Umarmen ist er eigentlich ganz gut. Selten habe ich eine Umarmung von ihm so sehr gebraucht, wie jetzt in diesem Supermarkt.
Widerwillig wende ich mich von ihm ab. Ich sollte keine Schwäche zeigen. Es ist schon erschwerend genug, dass ich ihn für die kommenden Wochen ertragen muss. Da ja scheinbar grade die Welt untergeht, wird er so schnell keine neue Wohnung finden. „Sind wir fertig?“, frage ich müde.
Hannes nickt. „Ich glaube schon. Wobei... Wenn die Leute alles hamstern... Sollten wir dann nicht...?“
Wir sehen einander in die Augen und verstehen uns sofort. Gleichzeitig stürzen wir in dieselbe Richtung. Vor dem Weinregal halten wir an. Es ist besser gefüllt, als wir befürchtet haben. Wir geben uns ein High Five und füllen den Korb mit unserm Lieblingsrotwein. Sollte die Ausgangssperre wirklich durchgesetzt werden, werden wir uns wenigstens zu beschäftigen wissen!
An der Kasse weiche ich jedem aus, der mir näher kommt als unbedingt nötig.
„Du tust so, als wären alle Menschen Wespen. Vor denen haust du auch immer ab“, sagt Hannes. Vor sich hin grinsend legt er unsere Einkäufe aufs Band.
Wütend bücke ich mich nach einer Tragetasche. „Ja, und du bist die ekligste Wespe von allen! Und was ist überhaupt mit dir los? Du willst wirklich den Balkon neu bepflanzen? Haben wir nicht andere Probleme?“ Skeptisch starre ich auf die erdigen Plastiktöpfe mit lilablauen Hornveilchen, die Hannes hinter die Nudelpackungen stellt.
„Mein größtes Problem bist momentan du!“, gibt mein Ex zurück.
Ehe ich zurückschießen kann, begrüßt uns die Kassiererin. Im Supermarkt herrscht Krieg. Sie gehört definitiv zu den Leidtragenden. Wir kennen sie. Sie arbeitet schon länger hier. Sie ist hübsch und fällt mir vor allem immer deshalb ins Auge, weil ihr weißes Kassiererinnenhemd so straff sitzt, dass es auf Höhe ihrer Brüste spannt. „Ach, doch wieder zu zweit hier?“, fragt sie Hannes mit einem müden Zwinkern.
„Naja, einkaufen halt. Was soll man machen“, erwidert dieser. Er schiebt sich seine Brille zurecht und zwinkert zurück. Das wirkt niedlich, wenn auch unbeholfen.
Ich räume unsere Einkäufe in die Taschen und spitze die Ohren.
„Wie lange machst du heute?“, fragt Hannes sie, während er sein Portemonnaie zückt.
„22 Uhr“, erwidert die Kassiererin seufzend.
„Oh, das ist noch eine Weile.“ Hannes schiebt seine Karte ins Lesegerät.
„Das kannst du laut sagen“, sagt diese. Sie mustert Hannes, der sich mit einem frechen Grinsen von ihr verabschiedet.
Die beiden halten den Blickkontakt für mein Verständnis doch eine Sekunde zu lang. Als wir den Supermarkt verlassen haben, koche ich vor Wut. Verärgert drücke ich Hannes eine Einkaufstüte in die Hand. „Sag mal, wolltest du die direkt klarmachen?!“
„Ähm... was?“ Hannes lacht und nimmt mir die Tasche ab.
Nebeneinander laufen wir in den Park zurück, hinter dem wir wohnen.
„Die wusste ja scheinbar, dass wir getrennt sind“, sage ich. Der komplette Einkauf hatte mich aufgeregt und durcheinandergebracht. Dass Hannes angeflirtet wird, obwohl ich dabei bin, habe ich ewig nicht mehr erlebt. Es rüttelt an meinem Selbstverständnis. Der ganze Tag rüttelt an dem Bild von der Welt, wie ich sie kenne. Das setzt dem allen die Krone auf. „Und du fragst die auch noch, wann sie frei hat“, füge ich verächtlich hinzu.
„Meine Güte, reg dich mal ab“, erwidert Hannes. „Selbst wenn, wir sind getrennt. Ich hab letztens mal eine mit ihr geraucht und wir kamen ins Gespräch. Denn sie hat eins gekonnt, was du ja lange nicht mehr hinkriegst: Sie war nett zu mir. Vielleicht treffe ich mich mal mit Angie. Was ist schon dabei?“
Aua. Seine Worte sind wie ein Schlag in die Magengrube. Mir wird klar, dass er Recht hat. Natürlich. Seit einem Monat schlafen wir zwar im selben Zimmer, aber getrennt – er auf dem Sofa und ich im Bett. Wir haben keinen Sex und kuscheln nicht mehr. So wirklich fehlt er mir nur manchmal, und wenn, dann nachts. Weil er aber noch keine neue Wohnung gefunden hat, ist Hannes trotzdem nach der Arbeit immer da. Dass er sich mit wem andern treffen könnte, ist ein Szenario, an das ich mich erst mal gewöhnen muss.
„Klar, mach doch mit ihr, was du willst.“ Abgeklärt recke ich die Nase hoch. Er soll nicht merken, wie verärgert und durcheinander ich bin. Es reicht, dass er mitbekommen hat, wie arg mich die Sache mit dem Corona aus dem Gleichgewicht bringt.
Zuhause räumen Hannes und ich zusammen die Einkäufe aus.
Ich gebe Church, unserm dicken, alten Kater, seine Ration Katzenfutter. Das verschlingt er ausgehungert innerhalb weniger Augenblicke.
Hannes stellt währenddessen zufrieden unsere Ausbeute an Wein auf die Küchenanrichte.
Gemeinsam mit Hannes mustere ich die Armee an Weinflaschen, die wir erbeutet haben.
„Wir haben genau das Richtige gehamstert“, stellt mein Ex siegessicher fest. „Den Rotwein kann man in deinem schlimmsten Zombieszenario bestimmt auch wunderbar als Tauschmittel verwenden. Wenn wir bis dahin noch was davon übrig haben. Irgendwie müssen wir uns ja auch gegenseitig ertragen. Ähm... Was glotzt du mich denn so böse an?“
„Kondome?!“, fauche ich. Wütend deute ich auf die Packung, die er demonstrativ vor die Weinflaschen gelegt hat.
„Ja?!“ Hannes lacht.
„Wen willst du denn bitteschön in einer Pandemie ficken?!“ Verärgert verschränke ich die Arme vor der Brust. Ausgangssperre hin oder her – mit diesem aufgeblasenen Gockel werde ich bestimmt nicht vögeln. Da kann ich noch so verzweifelt sein. Sex mit dem Ex geht gar nicht! Und wenn der noch so hinreißende Locken hat!
„Ich weiß nicht. Wen schlägst du vor? Angie vielleicht?“, erwidert Hannes grinsend. Er drückt sich in unserer engen Küche an mir vorbei und berührt mich dabei nicht länger als nötig.
Ich schaue ihm hinterher und bin ernüchtert. Womöglich habe ich mir doch eine andere Antwort erhofft.