„Wie bitte?!“ Ich lasse Tines Beine zurück auf die Stützen des Rollstuhls sinken und hebe den Kopf. Fassungslos starre ich sie an. „Ihr habt nicht mal eine Ansage bekommen, wann die Werkstätten schließen?“
Tine ist überrascht darüber, dass ich ihren Transfer auf die Liege abgebrochen habe. Sie nimmt die Spannung aus den Armen und lässt sich zurück in den Rollstuhl fallen. „Nein, nichts! Uns wurde gesagt, wir sollen regelmäßig die Hände waschen. Und wir haben diesen Zettel bekommen. Er liegt irgendwo im Wohnzimmer.“
„Den auf deinem Schreibtisch? Hab ich gesehen.“ Ich atme tief durch und stemme die Hände in die Hüften. Seufzend betrachte ich Tine, die zu mir hochschaut und darauf wartet, dass ich ihr dabei helfe, sich auf die Liege zu setzen, damit sie vor dem Gang in die Werkstatt Wasserlassen kann. Ihre kurzen Haare sind verstrubbelt und ihre Brille sitzt schief. Sie trägt einen Pyjama. Die winzigen Zehen, die unter der hochgekrempelten Hose herausschauen, sind nackt und kalt. Gähnend reibt sie sich mit der Faust in den Augen herum, während ich bemüht bin, meinen Zorn im Zaum zu halten.
Tine ist Ende 30 und kam mit einem offenen Rücken zur Welt. In 40 Minuten wird sie von einem Fahrdienst abgeholt, der sie zur Behindertenwerkstatt fährt. Fünfmal die Woche arbeitet sie dort für einen viel zu geringen Lohn. Sie meistert ihr Leben mit Bravour. Momentan versteht sie aber mein Problem nicht ganz. Denn scheinbar ist ihr der Ernst der Lage noch nicht bewusst.
Ich schaue auf die Uhr. Wir dürfen nicht herumtrödeln. Meine Zeit als Pflegeassistenz ist knapp bemessen. Da jeder hier versäumt hat, Tine aufzuklären, nehme ich mir den Moment, vor ihrem Rollstuhl in die Hocke zu gehen. „Hör zu“, sage ich leise, aber eindringlich. „Du hast gehört, dass die Schulen zugemacht haben, wegen diesem Corona, oder?“
Tine gähnt erneut und nickt.
„Wie es aussieht, ist die Lage echt ernst. Die ganze Bevölkerung wird dazu angehalten, so wenig rauszugehen, wie möglich. Wir sollen so wenig Kontakte haben, wie es geht. In Italien und in andern Ländern sind so viele Menschen erkrankt, dass es in den Krankenhäusern zu voll ist.“
Tine runzelt die Stirn. Ernst erwidert sie meinen Blick. „Ich hab das im Fernsehen gesehen. Mit Italien.“
„Die Regierung rät an, dass wir auf uns aufpassen, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig krank werden“, erkläre ich. „Menschen, die älter sind oder Vorerkrankungen haben, müssen sich erst Recht schützen. Denn sie sind Risikopatienten. Corona betrifft vor allem die Lunge. Wenn es einen richtig erwischt, kann es sein, dass man beatmet werden muss. Es gibt aber nicht endlos viele Beatmungsgeräte in Deutschland.“
Tines Augen weiten sich. Mir wird klar, dass sich bisweilen niemand die Zeit genommen hat, um ihr die Auswirkungen von Corona zu erklären. Wie auch? Die ganze Stadt ist in Aufbruch, verwirrt, und am Hamstern. Ihre Sozialarbeiterin ist für solche Gespräche zuständig, aber die war letzte Woche krank. Hoffentlich hat es die nicht erwischt.
„Das heißt...?“, murmelt Tine. Ich merke, dass ich ihr Angst mache. Trotzdem. Fakten sind Fakten. Tine muss verstehen, weshalb es wichtig ist, sich zu schützen.
Ich hole tief Luft, nehme ein paar Socken von der Liege und beginne sie, Tine über die eiskalten Füße zu ziehen. „Das heißt, dass wenn zu viele Leute Corona haben und auf der Intensivstation landen, die Ärzte unter Umständen gezwungen sein werden, auszusuchen, wen sie beatmen. Darum ist es wichtig, dass wir uns schützen. Okay?“
Wortlos beobachtet Tine, wie ich ihr die Socken anziehe. Ernie ist aufgestickt. Trotz ihres Alters hält sie an den kindlichen Helden fest, die sie begleitet haben, als sie von ihrem überforderten Vater weg in das betreute Wohnen in Marienfelde kam. Später zog sie in eine WG. Seit einigen Jahren lebt sie in ihrer eigenen Wohnung, wo sie morgens und abends von unserem Pflegeteam unterstützt wird. „...Okay.“
Da sie sonst immer so aufgeweckt und quirlig ist, entscheide ich mich dafür, sie genau darauf aufmerksam zu machen, warum sie zur Risikogruppe gehört. Ich umschließe ihre Füße mit den Händen, um sie zu wärmen – eine kurze, viel zu nahe Geste, die ich mir trotz aller Professionalität erlauben will. „Deine Lunge hatte nicht so viel Zeit zu wachsen, wie die von andern Menschen. Darum sollten wir auf dich besonders gut aufpassen.“
Tine schweigt.
Ich bin mir nicht sicher, ob ihr bewusst ist, wie sehr die Gesellschaft sie im Stich lässt. Ich bewundere ihren Umgang mit ihrer Behinderung. Sie hat es aber nie anders gekannt und wurde ihr Leben lang von Betreuern und Pflegekräften respektvoll und nett behandelt. Dadurch konnte sie sich zu einer aufgeschlossenen, lustigen Frau entwickeln. Ihr Mund öffnet sich in stiller Verwunderung. Dann schlussfolgert sie: „Weil ich ein Frühchen war.“
„Exakt deswegen.“ Ich bin erleichtert davon, dass ich das Thema jetzt doch in meinem Morgendienst abhandeln konnte. Ich umfasse ihre Knöchel, während Tine sich aufstützt. Gemeinsam heben wir sie auf ihre Liege.
Dort sitzend zieht Tine sich ihr Pyjamaoberteil über den Kopf. „Und ich sag noch!“, ruft sie. „Ich hör in letzter Zeit dauernd Sirenen draußen! Überall Krankenwagen! Bestimmt Leute mit Corona?!“ Mit zusammengepressten Lippen schaut sie zu mir hoch.
Ich halte ihr zwei gefaltete T-Shirts entgegen. Sie deutet auf das in meiner linken Hand, das ich ihr daraufhin reiche. Ich bezweifele, dass das wahrhaftig alles Krankenwagen mit Coronapatienten waren, die sie da gehört hat. Auszuschließen ist es jedoch nicht. „Mich wundert, dass die die Schulen zumachen, aber die Werkstätten gar nicht beachten“, murmele ich.
Das ganze Wochenende über hatte ich die Webseiten von ihrer und Manuelas Einrichtung gecheckt. Von Schließung war keine Rede. Diese Woche steht das hoffentlich an. Die Infektionszahlen in Deutschland steigen rasant. Es wird angehalten, zuhause zu bleiben. Bei allen ist das noch nicht angekommen. Erst nach und nach reagieren Institutionen und Arbeitgeber.
„Mich auch!“, stimmt Tine wütend zu. Sie erspürt meinen Ärger und nimmt diesen auf. Teilweise tut sie das, weil sie die Problematik nachvollziehen kann, und teilweise, weil das Erfühlen und Annehmen der Emotionen ihres Gegenübers eine geeignete Möglichkeit ist, um für sie auf Augenhöhe zu agieren. Weil Tine als Frühchen zur Welt gekommen ist, hat sie kurze Beine und eine Lernbehinderung. Für einige Sachen brauch sie etwas länger als andere. Schnelle Zustimmung ist eine erlernte und brauchbare Fähigkeit, um sich mit mir gemeinsam in Rage zu reden.
Sie zieht sich das T-Shirt über den Kopf. Es hängt ihr um den Hals und ihre Brüste liegen frei. Unfreiwillig sieht sie etwas komisch aus, als sie den Zeigefinger hebt und geheimnisvoll hinzufügt: „Ich habe da was in den Nachrichten gehört. Es gibt jetzt sogar noch eine ganz neue Krankheit. In Köln sind daran schon Leute gestorben. Sie heißt Covid oder so.“ Verschwörerisch kneift sie die Augen zusammen.
Trotz aller Ernsthaftigkeit muss ich lachen. „Ach Tine!“, sage ich liebevoll. „Covid-19 und Corona sind dasselbe!“
Verwirrt lässt sie die Hände sinken. Dass sie halbnackig und nur mit ihrem T-Shirt um den Hals vor mir sitzt, hat sie komplett vergessen. „Oh, ehrlich?“
„Ja!“, sage ich. „In Deutschland sind sogar schon mehrere hundert Leute daran gestorben. Darum... müssen wir auf uns aufpassen.“
Tine nickt entschlossen.
„Vergiss das Anziehen nicht!“, erinnere ich sie belustigt.
Hastig zieht sie sich das T-Shirt über . Sie spricht weiter, während ich im Bad verschwinde, um den Katheter zu befeuchten und ihre Urinente zu holen.
„Kannst du mir dann demnächst Desinfektionsmittel mitbringen?“, ruft Tine von der Liege, wo sie ihre Hose herunterzieht.
„Ich muss mal im Pflegestützpunkt fragen. Das Zeug wird gerade total knapp, weil alle das haben wollen.“ Nachdenklich bleibe ich vor ihr stehen.
Tine ist bereits unten ohne. Wenn ich ihr beim Pinkeln assistiere, komme ich ihr sehr nah. Überall heißt es, dass man Masken tragen soll. Aber wo bekommt man die jetzt Knall auf Fall her? Verunsichert schaue ich mich um. „Hast du noch Behelfsmasken da? Fürs Kathetern?“
Tine nickt und deutet auf einen Schrank mit einem roten Kreuz. Ich öffne ihn und reiche ihr eine Maske. Eine andere ziehe ich selbst an. Als wir sie tragen, sehen wir uns belustigt in die Augen. Mit meinen Handschuhen und der Packung mit dem feuchten Katheter in der Hand fühle ich mich nicht mehr wie ihre Pflegekraft, sondern wie eine superkompetente Ärztin.
Tine sieht ebenso lustig aus.
Wir grinsen einander an. Das sehe wir nicht an unsern Mündern, aber an den Augen.
„Bin bereit zum Eingriff, Frau Doktor Meyer“, sage ich und erhebe den Spiegel.
„Sehr gut! Man gebe mir das Skalpell!“, erwidert Tine mit verstellter Stimme und klappt ihre Beine zurück. Darauf reiche ich ihr den Katheter. Tine macht das so, seit sie ein Teenager ist. Gehalten wird ihr nur eine Ente und ein Spiegel.
„Nur zweihundert Milliliter!“, sage ich tadeln, als sie fertig ist. „Ich werde Ihnen direkt einen Tee machen! Und dann sehen Sie zu, dass sie ordentlich trinken, Frau Doktor!“
„Oh ja!“, stimmt Tine alarmiert zu. Sie lässt ihre Beine sinken und begutachtet das nur geringfügig volle Gefäß, als könne sie davon eine ganze Studie ableiten. „Das ist zu wenig. Ja bitte, machen Sie mir einen Tee!“
Unter unsern Masken grinsend wechseln wir Tines Einlagen. Dann unterstütze ich sie dabei, ihre Jeans und einen Pulli anzuziehen. Als sie wieder im Rollstuhl sitzt, flitzt sie los in die Küche.
„Halt!“, rufe ich ihr hinterher. „Deine Handschuhe!“
„Ach ja!“, keucht Tine. Sie macht kehrt, zieht sie aus und reicht sie mir.
Schmunzelnd entsorge ich die Handschuhe, den Katheter und die Einlagen. Ich schnüre den Müllsack neben ihrer Liege und tausche diesen aus. Denn setze ich Tee auf und verstaue Säfte in Tines Tasche.
Währenddessen schmiert Tine ihr Brot.
Wegen unserer Diskussion sind wir spät dran. Trotzdem versumpft sie vor dem Fernseher. Eine Lernbehinderung kann in dieser Gesellschaft eine Herausforderung darstellen. Ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ebenso. Beides in Kombination miteinander ergibt Tine. Regelmäßig verliert sie ihren Schlüssel oder vergisst es, ihre Tabletten zu nehmen. Sich an Letzteres zu erinnern, ist essentiell für sie, denn sie beugen Blasenentzündungen vor und unterdrücken den Harndrang, den sie nicht steuern kann. Ein gesundes Verhältnis zum Trinken zu finden, fällt ihr schwer. Dass ihr stets jemand beim Urinlassen helfen muss, schränkt sie zusätzlich ein.
Ich schiebe das Tellerchen mit Tabletten vor sie und tippe ihr auf die Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Hier. Nicht vergessen.“
Dankbar nickt sie. Als sie die Pillen herunterspült, hören wir von draußen wieder Sirenen.
Tine verschluckt sich.
Ich klopfe ihr auf den Rücken.
Mit großen Augen starrt sie aus den Fenstern. Aus diesen sieht sie nicht mehr als den Himmel. Wir sind im 13. Stock eines Plattenbaus in Berlin-Lichtenberg. Ich habe eine phänomenale Sicht über die Stadt. Nicht aber Tine, die von ihrem Platz im Rollstuhl gar nichts von der Skyline hat. „Da hat jemand Corona“, keucht sie geheimnisvoll.
Ich zucke die Achseln. „Oder irgendwo hat jemand Desinfektionsmittel geklaut und wird jetzt polizeilich gesucht. Man weiß es nicht.“
Tine lacht los.
Ich gähne und schaue auf die Uhr. Wenn ich bei Manuela fertig bin, flitze ich nach Hause und haue mich ins Bett. Ich habe bereits den Abenddienst bei den beiden absolviert und bin total groggy. Wenigstens habe ich morgen frei.
Ich reiche Tine ihre Haarbürste und packe ihre Brote ein. Dann ist der Fahrdienst auch schon da.
„Ich frage heute in der Werkstatt nach, wie lange ich noch kommen muss!“, ruft Tine, während wir auf den Fahrstuhl warten. Entschlossen ballt sie die Fäuste.
Ich nicke und zucke die Achseln. „Kommt Sandra nicht heute? Deine Einzelbetreuerin?“, frage ich sie. Ich bin im Begriff, ihr zu raten, auf die Werkstatt zu pfeifen und zuhause zu bleiben, wenn der Staat schon nicht auf sie aufpasst, aber ich kriege diese Empfehlung doch nicht über die Lippen. Was ist jetzt das Richtige? Vielleicht weiß es ja ihre Sozialarbeiterin. Ich bin gerade müde und ratlos.
Tine nickt. „Ja. Und wenn nicht, lese ich einfach im Videotext nach, was empfohlen wird.“ Entschlossen reckt sie das Kinn vor.
Tine ist schon abgeholt worden, als ich verwundert zwei Etagen runter zu Manuela spaziere, und verwirrt murmele: „...Videotext? Ihr Ernst? Welches Jahr haben wir? 2020 oder doch 1995?“ Ich muss lachen. Dieser Job ist anstrengend und lausig bezahlt. Trotzdem liebe ich ihn.