35 Jahre zuvor an Heiligabend
Blaue Lichtfunken stoben aus dem blassgrünen Gras der Wiese auf, als die Hufe über den Boden donnerten. Die Halme wurden niedergedrückt, doch fanden sie die Kraft, sich wieder aufzurichten und diese wundersamen, leuchtenden Partikel freizusetzen. Sie schwebten nun funkelnd durch die Luft, erhellten das Dunkel der Nacht. Ein faszinierendes Schauspiel! Doch wie so oft, wenn etwas faszinierend war, war dies auch mit einem schrecklichen Ereignis verbunden, durch den Menschen geschaffen. Auch an diesem Tage drohte ein Unheil dieses wunderschöne Phänomen zu überschatten...
Lyndor saß versteckt zwischen den Büschen, seine zitternden Hände hatten den Bogen krampfhaft umschlossen, sodass die Knöchel weiß hervorstachen, und die grünen Augen funkelten in der Finsternis. Sie waren starr auf die Wiese gerichtet, dir sich vor ihm weit erstreckte und den Wald ablöste, aus dem jeden Moment das Kiajethey herauskommen würde.
Während der junge Mann im Gebüsch saß, sein Herz wie verrückt trommelte und die Abendkälte in seine Knochen kroch, hockte sein Vater, König von Scuarador, neben ihm und sah seinen Sohn prüfend an. "Du weißt, dass davon deine Zukunft abhängen wird?"
Lyndor schluckte, lockerte seinen Griff um den Bogen und blickte seinem Vater stumm in die dunklen Augen. Er wollte das nicht. Er wollte kein unschuldiges Tier umbringen, nur um damit als würdiger Thronfolger angesehen zu werden. Das war nicht das, was ihm sein Bauch riet. Was hatte dies für einen Sinn? Lyndor verstand es nicht, doch wagte er es nicht, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Zu oft hatte das in Schmerzen geendet, diese Zeit wollte er hinter sich lassen. Er seufzte und fuhr sich durch die blonden, leicht gelockten Haare. Der 23-jährige junge Mann wünschte sich einfach nur noch weit weg von hier.
Da räusperte sich sein Vater, warf ihm einen scharfen Blick zu und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Lyndor war klar, dass sein Vater kurz davor war, ihm eine Predigt zu halten und um dies zu verhindern, setzte er zum Reden an.
Gerade als er zur Antwort ansetzte, hörten sie lautes Rufen und das Donnern der Pferdehufe. Die Jäger waren gekommen! Und den brüllend-wiehernden Lauten zu urteilen, trieben die das Kiajethey genau in ihre Richtung!
Lydnors Vater Grourg sprang auf und herrschte seinen Sohn an: "Du weißt, was du zu tun hast!" Angesprochener schluckte und nickte, doch als das Wesen schließlich aus dem Waldrand herausbrach, blieb ihm die Luft weg. Es schien wie in Zeitlupe zu vergehen, als sein Vater ihn anschrie, die Worte hört er nicht, doch er sah, wie er ihn schüttelte und auf dieses wunderschöne Wesen deutete. Dann, urplötzlich hörte er auf und Lyndor spürte, wie ihm der Bogen entwendet wurde. Was..?
"Nein!" Er schrie auf und warf sich auf seinen Vater, brachte ihn zu Fall, doch es war bereits zu spät, denn im selben Moment hallte ein markerschütternder Schmerzenslaut durch die Wälder und ließ sein Blut gefrieren. Kälte machte sich in ihm breit und sein Körper schmerzte, als ob sein Vater ihn gerade selbst mit dem Pfeil getroffen hatte.
Wie in Trance rappelte er sich auf, ließ den König links liegen und schwang sich auf dessen Pferd. Wild trieb er dieses an, keuchte, als es vorwärtsprang und beinahe sofort in den Galopp verfiel. Sie hinterließen eine Wolke aus blauen Lichtfunken, die wild durch die Luft wirbelten. Doch Nebel war urplötzlich aufgezogen und Lyndor konnte nur noch schwach das Leuchten des flammenden Schweifs einige Pferdelängen vor ihnen. Noch einmal trieb er sein Pferd an und sie rasten nur so über die weite Ebene.
Bald hatten sie eine beträchtliche Strecke zurückgelegt und sich dem Kiajethey angenährt, welches nun war deutlich langsamer war. Sein Vater hatte es nicht tödlich getroffen, doch verletzt war es leichte Beute und die Kraft schien zu schwinden.
Es dauerte nicht lange und sie hatten das Tier gänzlich eingeholt, aber dieses geriet sofort in Panik, als es die Anwesenheit des Pferdes und des Menschen links neben sich spürte, und versuchte, schneller zu laufen. Aber das Kiajethey wurde noch langsamer und die Angst stand in den leuchtend roten Augen geschrieben. Lyndor stand beinahe augenblicklich in deren Bann, wurde förmlich davon angezogen und konnte sich kaum davon losreißen. Der Strudel dieser sanftmütigen Augen zeigte kein Anzeichen von Bosheit oder Gefahr. Sie schienen anders als sein Vater sie immer beschrieben hatte. Rote Augen wie der Teufel, hatte er gesagt. Dabei flackerten sie wie ein warmes Lagerfeuer, sanft und wild zugleich, bereit, jeden zu schützen, der seinen Schutz brauchte.
Lyndor merkte in seiner Versunkenheit nicht, wie er im Sattel immer mehr zur Seite abrutschte und sie sich einem umgefallenen Baumstamm näherten. Als sein Pferd schließlich über diesen sprang und dahinter neben dem Kiajethey am Waldboden aufkam, rutschte Lyndor gänzlich ab, versuchte aber, sich noch mit den Händen zurückzuziehen. Doch er hatte zu langsam reagiert und den Fuß nicht aus dem Steigbügel gezogen... ein Ruck ging durch ihn und plötzlich wurde er in rasantem Tempo mit geschliffen.
Ein schmerzerfüllter Schrei entkam seinem Mund, als er über den Boden mitgezerrt wurde. Doch sein Pferd machte keine Anstalten, sein Tempo zu verringern. Stattdessen passierte etwas anderes: Das Kiajethey drängte sein Pferd weg und biss nach dem Steigbügel, in welchem immer noch Lyndors Stiefel steckte.
Kurz darauf löste sich dieser und der junge Mann schlitterte einige Meter weiter, bis er am stöhnend am Boden liegen blieb und dann erst einmal tief durchtatmete. Diese Odyssey musste einige Blessuren hinterlassen haben, das spürte er jetzt schon.
Erst, als sich sein Atem beruhigt hatte und sein Kopf wieder einigermaßen klar war, rappelte er sich mit pochendem Körper auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und sah sich um. Sie hatten offensichtlich wieder den Wald erreicht und sein beziehungsweise das Pferd seines Vaters war nun irgendwo im Dickicht verschwunden. Lyndor drehte sich um die eigene Achse. Er befand er sich auf einer vom Mond gefluteten Lichtung - hohe, bemooste Felsen zur einen und der dichte Wald zur anderen Seite hin.
Auf einmal hört er ein Schnauben und Lyndor zuckte erschrocken zusammen. Er traute seinen Augen nicht. In den Schatten der Felsen, zu welchen das Mondlicht nicht drang, funkelten ihm zwei rote Augen misstrauisch an und sowohl die Mähne als auch der Schweif zogen flammende Linien durch die Luft, als das Wesen sich schüttelte.
Lyndor machte einen neugierigen Schritt in die Richtung des Kiajethey's, doch ein warnendes Wiehern ließ ihn innehalten.
Der Königssohn überlegte. Das Tier musste nun so verletzt sein, dass es einfach nicht mehr weiterkonnte, denn warum sonst sollte es sich in seiner Anwesenheit niedergelassen haben. Er war sich sicher, würde er nun gehen, würde das wunderschöne Wesen sterben. Doch heranlassen wollte es ihn auch nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Niemand hatte den Kindern beigebracht, wie sie sich einem wilden Tier gebührend näherten. Warum denn auch? Alle Menschen am Königshof waren adelig und sich zu fein, um mit solchen "Kreaturen" zu verkehren. Also wusste auch niemand, was man im Ausnahmefall tun sollte.
So blieb Lyndor nur noch eine Möglichkeit: Er musste improvisieren. Und das erste, was ihm einfiel, war, mit dem verletzten Tier zu sprechen. "Sei gegrüßt, Kiajethey!" Er wagte einen winzigen Schritt nach vorne, sah, wie die Feuermähne sich in Wirbeln wandte und der Kopf sich misstrauisch hob.
"Ich möchte dir nichts tun. Du hast mich gerettet."
Ein weiterer Schritt, darauffolgend ein leises Schnauben. Diesmal wurde der Kopf schief gelegt und Lyndor kam nicht herum, zu denken, dass das Kiajethey ihm tatsächlich zuhörte. Also vertraute er seinem Bauchgefühl und fuhr fort.
"Du bist wunderschön, weißt du? Dein Geweih -". Ein lautes, gefährliches Wiehern unterbrach ihn und das Kiajethey stemmte sich hoch. Lyndor erstarrte und wich zurück, als das Wesen auf ihn zukam. Das Geweih zu erwähnen, war wohl nicht so gut gewesen.
Als das Tier aus dem Schatten trat, konnte er es das erste Mal aus nächster Nähe betrachten. Das Fell war dunkelbraun, war von sanften, grünlichen Linien durchzogen, die im Mondlicht glitzerten und ein magisches Muster bildeten. Er sah die Muskeln unter dem Fell spielen, Schweif und Mähne waren aus der Nähe noch beeindruckender und das Geweih übertraf sämtliche Vorstellungen. Es erstreckte sich bis über den Rücken des Kiajethey, Blätter rankten sich um die Äste und die Blüten leuchteten in demselben Rot wie das der Mähne.
Lyndor war so versunken in diesen Anblick, dass er erst bemerkte, dass das Kiajethey direkt vor ihm stand, als der warme Atem aus den Nüstern in sein Gesicht blies. Erschrocken blickte er auf und sah sich direkt mit den beiden Augen konfrontiert, die ihn anfunkelten.
"V- verzeih mir, ich meinte nicht, dass dein Geweih-". Wieder unterbrach ihn ein Schnauben und das pferdeähnliche Wesen schnappte ihn seine Richtung. Lyndor stolperte zurück, fiel über eine Wurzel und landete am Boden. Nun ragte das Tier weiter über ihm auf, doch in ihm regte sich keine richtige Angst. Aus irgendeinem Grund fühlte er nur Respekt und Mitgefühl, er spürte, dass das Wesen ihm nichts antun würde.
Erneut setzte er zum Sprechen an, doch diesmal würde er es anders formulieren.
"Ich möchte dich nicht jagen. Ich möchte dir nicht wehtun und du sollst nicht noch mehr zu Schaden kommen, als eh schon. Im Grunde wollte ich nur sagen, dass du wunderschön aussiehst."
Das Tier schnaubte und Lyndor lachte, als er glaubte, einen Funken Überraschung aus dem Schnauben herauszuhören. "Ja, ja ich finde, du bist sehr hübsch. Und das nicht, weil ich dich als Trophäe haben möchte-"
Ein wutentbranntes Funkeln in den Augen war die Antwort darauf.
Lyndor hob leicht die Hände an und zeigte seine Handflächen. "Ich bin nicht mein Vater. Ich bin nicht wie alle anderen Menschen. Ich bin anders."
Das Kiajethey legte erneut den Kopf schief und kam leicht hinkend näher, das rechte Bein entlastend. Da erst fiel die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf den Pfeil in der rechten Schulter des Geschöpfes.
"Bei Merlin!" Sofort streckte er die Hand nach dem Pfeil aus, doch das Tier wich wiehernd zurück und wollte fliehen, doch die Kraft schien es immer mehr zu verlassen. "Nein, bitte! Ich möchte dir helfen...", begann Lyndor und deutete auf den Pfeil.
"Ich habe zufällig bei einem Heiler ein wenig gelernt, wie man Wunden versorgt und du bist verletzt", sprach er leise und sanft, darauf bedacht, das Tier nicht noch mehr zu verschrecken.
Als das Kiajethey nicht näherkam, ihn aber auch nicht warnte, machte er einen kleinen Schritt. "Vertrau mir!" Noch ein Schritt, ein leises Schnauben. "Vertrau mir, ich will helfen". Ein dritter Schritt, ein sachtes Kopfsenken.
"Bitte lass mich dir helfen", bat er noch einmal leise. Dann setzte er seinen Fuß ein weiteres Mal nach vorne und stand schließlich direkt an der Schulter des Kiajethey. Langsam, ganz langsam hob er die Hand, zeigte die Handfläche dem Tier, das ihn aufmerksam beobachtete.
"Ich möchte dir nicht wehtun, nur die Wunde versorgen, okay?" Er ließ die Frage stehen und wartete, blickte dem Geschöpf ehrlich in die flammenden Augen. Eine gefühlte Ewigkeit passierte gar nichts, dann ging ein Zittern durch den Körper der sanften Kreatur und Lyndor beobachtete staunend, wie es sich direkt vor ihm niederließ und das verletzte Bein von sich streckte.
"Ich danke dir", wisperte der Blonde. Ein Leuchten trat in die feurigen Seelenspiegel des Kiajethey. "Dir dankt wohl nie jemand, oder?", lachte Lyndor leise und besah sich den Pfeil, der recht tief in der Haut steckte. Sein Vater war leider ein ausgezeichneter Schütze und hätte Lyndor sich nicht auf ihn geworfen, hätte er gewiss sein Ziel nicht verfehlt. So hatte sich der Pfeil "nur" in die Schulter geschlagen. Zum Glück war es einer ohne Widerhaken gewesen, denn dies hätte den Tod des Kiajethey bedeutet.
"Es wird weh tun...", sagte er mit rauer Stimme und sah das Tier mit traurigen, entschuldigenden Augen an. Daraufhin nickte es mit dem Kopf, schien zu verstehen. Lyndor schluckte und überlegte, was er brauchte.
"Tannenwärme! Ich brauche Tannenwärme!", rief er plötzlich aus. Tannenwärme war die Flüssigkeit, die manche Tannenarten in diesem Reich über die Nadeln abgaben. Dafür musste man einige davon in frischem Zustand zermahlen. Dieser Saft hatte eine desinfizierende und heilende Wirkung und wurde sowohl bei leichten als auch bei schweren Wunden verwendet.
"Ich muss kurz weg, okay? Ich suche Wasser und Nadeln, um Tannenwärme zu gewinnen. Dann kann ich deine Wunde versorgen und du bist in ein paar Tagen so gut wie neu", wisperte er und sah das Wesen vor sich an, das bereits schwer schnaufte. Der Schmerz war in den lodernden Augen zu sehen und es brach Lyndor das Herz. "Ich muss gehen. Aber ich komme wieder. Versprochen!"
Das Tier nickte und schnaubte leise. Dann streckte sich Lyndor aus einem Impuls heraus. Sein Hand traf auf weiches, wunderbar flauschiges und warmes Fell. Ein Zucken lief durch den Körper und es schien, als wolle das scheue Geschöpf zurückweichen, doch als es dem Lächeln auf den Lippen des Mannes gewahr wurde, schien die Angst zu weichen.
Andächtig strich Lyndor über das Fell, begutachtete die silber-grünen Linien, die es durchzogen. Er sog jedes Detail in sich auf und strich mit der Hand bis hinauf zum Kopf. Dort verharrte er und sah dem Kiajethey fragend in die Augen. Als die Augen aufflammten und Lyndor das Gefühl hatte, dass sie ihm tief in die Seele blickten, da spürte er es. Er hatte die Erlaubnis.
So also fuhr er über das Fell bis zum Geweihansatz, strich an diesem entlang und ließ seine Hand anschließend federleicht über die Ranken, Blätter und Blüten gleiten. Aus der Nähe sah er einen weichen Flaum, welcher das Geweih bedeckte, wie braunes, flauschiges Moos.
Urplötzlich legte das Kiajethey seine Stirn an Lyndor's und sie beide durchfuhr augenblicklich ein sanftes Kribbeln, das sich bis in die Zehenspitzen ausbreitete und seinen gesamten Körper von innen heraus wärmte. Seine Schmerzen vom Sturz verschwanden, er fühlte sich erfrischt und so lebendig wie noch nie.
Lyndor schloss die Augen, überwältigt von diesen wundervollen Empfindungen. Sein Herz füllte sich mit unendlicher Freude und in ih wuchs die Kraft, alles zu verändern. In diesem Moment nahm er sich vor, das Schicksal dieser Wesen in seine eigene Hand zu nehmen. Nicht länger würde er tatenlos zusehen, wie diese Tiere abgeschlachtet wurden. Er würde den Menschen zeigen, welch wunderbare Geschöpfe dies waren.
Und so ging dieser Tag in die Geschichte ein. Es war der Tag, an dem ein Kiajethey und ein Mensch nach einer jahrhundertelangen Zeit ein Band woben. Das Band der Freundschaft, die bis heute und in alle Ewigkeit währen sollte...