Stichwort: Birne, vom 27.07.2021
Vorsichtig wagte er einen Schritt in den Garten, den er schon so lange nicht mehr betreten hatte. Es kostete ihm ein wenig Kraft das rostige Tor beiseite zu schieben. Das hatte er leichter in Erinnerung gehabt. Das Haus war schon seit ein paar Jahren nicht mehr bewohnt. Dennoch freute er sich darüber es wieder gefunden zu haben. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages beleckten die Blätter der alten Bäume. Sie allen standen noch, sogar der eine Birnbaum, mit dem damals alles erst angefangen hatte. Wehmütig lächelte er. Auf seinen Gehstock gestützt wanderte er den halb zu gewucherten Weg entlang bis er unter dem Birnbaum ankam. Die Zweige hingen mittlerweile so tief, dass sich eine der süßen Früchte einfach pflücken konnte. Mit seinen Fingern umschmeichelte er sanft die gerade reif gewordene Birne. Sehnsuchtsvolle Erinnerungen stiegen in ihm hoch. Mit der Birne in der Hand setzte er sich zu den Wurzeln des Baumes. Er biss ein Stück ab. Mit geschlossenen Augen kaute er. Der Geschmack auf der Zunge versetzte ihn zurück in jenen Sommer vor all den Jahren.
Er war gerade 18 Jahre alt geworden. Zusammen mit seinen Freunden genoss er den letzten Sommer in Freiheit, bevor ihnen Abiturprüfungen, Wehrdienst und Studium bevorstanden. Jeden Nachmittag radelten sie gemeinsam an den Strand um im Meer zu baden und in der Sonne zu liegen. Oft blieben sie bis in die späten Abendstunden, tranken ein paar Bier, philosophierten über die Liebe und das Leben. Natürlich fiel ihnen dabei auch viel Blödsinn ein. Auf dem Heimweg kamen sie an einer ehrwürdigen, hanseatischen Villa mit riesigem Garten vorbei. Über die hohen Mauern ragte ein prächtiger Birnbaum, dessen in rot und hellgrün glänzende Früchte sie schon des Öfteren angelacht hatten. Leicht angetrunken wetteten sie eines Abends darum, wer sich denn traute hineinzuklettern und eine Handvoll Birnen für alle zu stehlen. In seinem jugendlichen durch den Alkohol noch stärker hervortretenden Übermut erklärte er sich gerne dazu bereit. Nachdem er dann und wann auf die Klippen am Strand kletterte um ins Wasser zu springen, hielt er sich ohnehin für den besten Kletterer weit und breit, war er doch von seinen Freunden derjenige, der sich am höchsten hinaus traute. Die rauen Steine der Gartenmauer, an denen er sich gut festhalten konnte, bereiteten ihm selbstverständlich keine Probleme. Wenig später stand er mit beiden Füßen auf der Mauer. Dummerweise kam er auf die Idee von dort aus auf einen dickeren Ast des Baumes zu springen. Bei diesem Manöver, mit dem er seine Freunde beeindrucken hatte wollen, rutschte er bei der Landung ab, sodass er ziemlich unsanft hinunter stürzte. Er schrie laut auf vor Schmerz. Licht ging an im Haus, woraufhin seine Freunde die Flucht ergriffen. Sein rechtes Sprunggelenk schmerzte höllisch, sodass er es nicht schaffte aufzustehen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als am Boden liegend der Dinge, die da kamen, zu harren.
Die Tür des Hauses öffnete sich, heraus kam eine Frau, die er auf ungefähr Mitte bis Ende 30 schätzte. Ihre Figur ließ ihn an eine Birne denken, was vielleicht auch daran lag, dass er gerade vom Birnbaum gefallen war. „Na, was haben wir denn da für Fallobst?“, sie klang mehr belustigt als erbost. Zunächst blieb er ihr eine Antwort schuldig, denn ihr stattlicher Hintern hatte ihn ganz in seinen Bann gezogen. Wäre gerade nicht Nacht gewesen, hätte sie sein vor Scham brennendes kirschtomatenrotes Gesicht gesehen. „Schon komische Vögel sitzen seit Neuestem in meinem Birnbaum, nur scheinen die etwas zu groß zu sein, als dass die Äste sie halten können“, mit diesen Worten half sie ihm auf. Dabei bemerkte sie, dass er auf seinem rechten Fuß nicht auftreten konnte. „Dann bringen wir dich mal besser rein und ich kümmere mich um deine Blessuren“, meinte sie. Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Auf ihre Schulter gestützt humpelte er ins Haus. „Du bist doch einer der Jungs aus dem Dorf, die jeden Tag bei mir vorbei zum Strand radeln, richtig?“, wollte sie wissen. Er nickte. Im Wohnzimmer legte sie ihn auf das mit kastanienbraunem Leder bespannte Sofa. „Brav liegen bleiben und keine Dummheiten machen, kleiner Bruchpilot“, die natürliche Dominanz in ihrer Stimme beeindruckte ihn. Sie holte Verbandszeug und Quark aus der Küche, woraus sie ihm einen kalten Quarkwickel um den rechten Knöchel machte. „Vielen Dank“, stammelte er. „Sag einmal, willst du bei mir auf der Couch schlafen? Wenn es morgen noch nicht besser ist, bringe ich dich ins Krankenhaus“, bot sie ihm an. Dankbar nahm er das an. Mit seinem wehen rechten Fuß hätte er eh nicht geschafft auf dem Fahrrad heimzufahren. Mithilfe von ein paar Kissen, die für den warmen Spätsommer eigentlich viel zu kuschelig waren, bettete sie ihn so, dass er trotz seiner Verletzung bequem lag. Beinahe zärtlich deckte sie ihn zu. Lächelnd sah er sie an, hoffend dabei mit seinem noch bartlosen, trotz aller Sonnenbäder bleichen, sommersprossigen Gesicht nicht allzu dumm auszusehen. Daraufhin umgriff sie seinen Kopf mit beiden Händen, hauchte ihm einen leichten Kuss auf die Stirn, wobei sie ihm mit den Fingern durch die rotblonden Haare fuhr. Es fühlte sich unbeschreiblich schön an. Er hatte zwar schon das ein oder andere Mädchen aus seiner Klasse geküsst, doch das war anders. Sein Bauch kribbelte, wie er es zuvor nie getan hatte. Wohlige Wärme durchzuckte ihn. Er spürte, wie sein Herz laut klopfte. Sie löste sich von ihm. „Gute Nacht, kleines Vögelchen“, wünschte sie ihm, „Fall mir nicht von der Couch.“
Am nächsten Morgen schmerzte sein Knöchel noch immer, weshalb sie ihn mit ihrem Auto ins Krankenhaus brachte. Sie hatte eine gewisse Neigung Geschwindigkeitsbegrenzungen eher als eine Art Vorschlag zu betrachten, was ihn während der Fahrt in Angst versetzte, aber zugleich durchaus auch gefiel. Im Krankenhaus wurde das Sprunggelenk geröntgt, wobei es sich als verstaucht, aber glücklicherweise nicht gebrochen herausstellte. Zur Überbrückung der Zeit bis er den rechten Fuß wieder belasten konnte, wurden ihm Krücken mitgegeben. Danach bei ihm zuhause angekommen, erzählte sie seinen Eltern, der arme Junge wäre gestern spät abends noch beim Klettern auf den Klippen am Strand abgestürzt. Sie hätte ihn so gefunden, sich um die Verletzung gekümmert und wäre mit ihm ins Krankenhaus gefahren, nachdem es von selbst nicht besser geworden war. Seine Mutter bedankte sich bei ihr, dann verabschiedete sie sich. Sobald sie gegangen war, gab es erst einmal ein Donnerwetter von seiner Mutter, ob er den langsam nicht einmal zu alt wäre für solche Dumme-Jungen-Aktionen. Er täte besser daran erwachsen zu werden. In den nächsten Tagen konnte er seine Freunde nicht zum Strand begleiten. Bevor sie selbst weiter ans Meer fuhren, besuchten sie sie ihn. Manche entschuldigten sich dafür so feige verschwunden zu sein. Er nahm ihnen das nicht übel, denn sobald sie ihn darauf ansprachen, war er in Gedanken ganz bei der Frau, die ihn aufgelesen hatte. Allesamt waren sie froh darüber, dass ihm nichts passiert war. Obwohl die Frau freundlich zu ihm gewesen war, galt er in ihrer Runde nun als derjenige, der es unbeschadet aus den Fängen des Drachens aus der Villa geschafft hatte. Dafür bewunderten sie ihn. Wirklich genießen konnte er das nicht, zu sehr sehnte er sich nach der Frau.
Es dauerte noch ein wenig bis er wieder ohne Krücken gehen konnte. Um sich bei der Frau zu bedanken beschloss er ihr einen Strauß Blumen zu schenken. Seine Mutter hielt das für eine sehr vernünftige Idee. Ahnungslos wie er war, lief er im Blumengeschäft nervös auf und ab. Er war ja nicht dazu gekommen zu fragen, welche Blumen ihr gefielen. Schließlich klagte er einer freundlich aussehenden Verkäuferin sein Leid. Er wäre verliebt in eine Frau, von der er nicht wusste, ob sie seine Gefühle erwiderte. Mit einem Geschenk in Form eines Blumenstraußes wollte er ihr seine Liebe gestehen. Überhaupt wäre zum ersten Mal derartig verliebt. Nachdem die Verkäuferin ihm erklärt hatte, was die verschiedenen Blumen in der Liebe bedeuteten, entschied er sich für ein Bouquet aus weißen, pfirsichfarbenen und zartrosa Rosen. Dazu kaufte er eine Karte, die er an den Strauß binden wollte. Auf dem Heimweg überlegte, was er darauf schreiben sollte. Zahlreiche Satz- und Wortfetzen erschienen ihm zuerst gut gewählt, doch schnell verwarf er sie wieder. Nachdem er daheim an seinem Schreibtisch einiges an Schmierpapier voll gekritzelt hatte, fiel ihm der Gedichtband von Joseph von Eichendorff in seinem Regal ein. Während für viele seiner Schulkameraden der romantische Dichter eine lästige Pflichtübung gewesen war, mit der sie sich im Deutschunterricht eben herumschlagen mussten, konnte er sich in seinen Versen immer wieder verlieren. Wenn es ihm schon selbst nicht gelang ihr ein schönes Gedicht zu schreiben, so widmete er ihr eben die Worte eines anderen. Vielleicht gefiel es ihr ja, wenn er sich recht belesen gab. Daher schrieb er in seiner schönsten Handschrift Folgendes hinein:
Verschwiegene Liebe (Joseph von Eichendorff)
Über Wipfel und Saaten
In den Glanz hinein-
Wer mag sie erraten,
Wer holt sie ein?
Gedanken sich wiegen,
Die Nacht ist verschwiegen,
Gedanken sind frei.
Errät es nur eine,
Wer an sie gedacht,
Beim Rauschen der Haine,
Wenn niemand mehr wacht,
Als die Wolken, die Fliegen –
Mein Lieb ist verschwiegen
Und schön wie dich Nacht.
Die Karte befestigte er mit einem farblich passenden Band an den Rosen. So machte er sich auf den Weg zu ihr. Mit leicht geröteten Wangen verstohlen lächelnd wartete er vor ihrer Tür. Mehrmals ging er im Kopf durch, was er ihr gleich sagen wollte. Sie öffnete ihm. „Na, kleines Vögelchen, fliegst du wieder bei mir vorbei?“, begrüßte sie ihn. „Mit dieser kleinen Aufmerksamkeit möchte ich mich bei Ihnen für Letztens bedanken“, seine Stimme zitterte vor Aufregung, „Ich hoffe Sie, mögen die Blumen.“ „Die sind wunderschön, danke dir. Möchtest du reinkommen? Ich habe gerade Kuchen im Ofen, bleib doch auf ein Stück“, lud sie ihn ein, „Dazu koche ich uns ein wenig Kaffee, was sagst du dazu?“ Wenig später saß er bei ihr am Küchentisch. Die Rosen hatte sie in einer Vase aus weißem Porzellan auf den Tisch gestellt. Er hatte ihr angeboten beim Kaffeekochen und Tisch decken zu helfen, doch sie hatte ihn zurück auf die Eckbank gescheucht. So blieb ihm nichts übrig außer sie brav dasitzend zu bewundern. Unter ihrer weißen Spitzenschürze trug sie ein knielanges bordeauxrotes Kleid im Audrey-Hepburn-Stil das mit zarten weißen Blüten gemustert war. Ein glänzendes weißes Seidenband mit Schleife an der linken Seite umgürtete ihre Taille. Ihrer zutiefst weiblichen Figur schmeichelte diese Kombination perfekt. Bis an die Schultern reichten ihre haselbraunen Haare, die dort zu einer Locke kräuselten. Ein ebenfalls bordeauxroter Haarreifen hielt ihr die Haare vom Gesicht fern, aus dem ein Paar dunkle Augen strahlten. „Brauchst du Milch oder Zucker?“, fragte sie ihn, als sie ihm den Kaffee einschenkte. Er schüttelte den Kopf. Unterdessen hatte auch der Kuchen fertig gebacken, musste aber noch etwas abkühlen. Der köstliche Geruch von frischem Birnenkuchen stieg ihm in die Nase. „Wie passend nach dem kleinen Zwischenfall“, scherzte er. „Da hab ich dich ertappt, du kleines diebisches Vögelchen“, erwiderte sie ihm lachend, „Aber keine Sorge, ich bin keine Hexe aus dem Märchen, gefressen wirst du also nicht.“ Sie unterhielt sich daraufhin mit ihm ein wenig über die Schule und seine Freunde, im Gegenzug erzählte sie ihm von ihrem Mann, der oft auf Geschäftsreise war, so auch diesen Sommer. Sie entstammte einer altehrwürdigen hanseatischen Familie, hatte dementsprechend geheiratet, war seit Beginn ihrer Ehe jedoch oft alleine gewesen, weil ihr Mann vonseiten des Unternehmens viel Zeit in Japan verbrachte. Ob sie ihn liebte, wollte er wissen. „Ja, bloß ist das schwer, wenn ich ihn öfter vermisse, als ich glücklich mit ihm bin“, erhielt er zur Antwort. Das zu hören machte ihn traurig, einerseits weil er wollte, dass er ihr gut ging, zum anderen, weil er sich wünschte, dass er ihr mit ihm gut ging. Sie schnitt ihn ein Stück Kuchen ab. Der schmeckte wie der Geruch vermuten ließ himmlisch. Still war er nun geworden. Ein Stechen über dem Herzen raubte ihm gewissermaßen die Stimme. Nachdem sie beide die Kuchengabeln zur Seite gelegt hatten, kam sie endlich dazu die zum Rosenstrauß dazugehörige Karte zu lesen. Am liebsten wäre er auf der Stelle im Boden versunken, so sehr schämte er sich jetzt dafür. Höchstwahrscheinlich würde sie ihn nun wütend ihres Hauses verweisen. Doch während sie las, begann sie immer mehr zu lächeln. „Ein hübsches Gedicht hast du mir da ausgesucht“, wäre sie dafür nicht viel zu sehr Dame gewesen, hätte er fast gesagt, sie grinste von einem Ohr zum Anderen. Bevor er so recht wusste, wie ihm geschah, setzte sie sich auf seinen Schoß. Die Arme legte sie ihm zärtlich um die Schultern, jedoch hielt sie fest genug, dass er seine Arme nicht ohne weiteres von seinem Körper weg bewegen konnte. Ihre Lippen fanden ihren Weg zu den Seinen, dem folgte ein langer und inniger Kuss. Ihm war als gingen alle seine Träume auf einmal in Erfüllung. Wieder und wieder küssten sie sich, wollten gar nicht mehr voneinander lassen.
„Komm mit, mein Vögelchen“, sie nahm ihn bei der Hand, ließ ihn aufstehen, sodass sie ihn ins Wohnzimmer führen konnte. Gehorsam folgte er ihr. Wie an jenem Abend, an dem er vom Birnbaum gefallen war, legte sie ihn auf die mit Leder bespannte Couch. „Warte kurz, ich zeige dir etwas“, sie öffnete die unterste Schublade der Kommode, nahm mehrere feinsäuberlich aufgeschossene Juteseile heraus. „Was haben Sie vor?“, erschrak er. „Hab keine Angst, kleines Vögelchen. Mein Mann hat in Japan die Kunst des liebevollen Fesselns, Kinbaku, kennengelernt und wieder zuhause mir beigebracht. Eine kleine Fesselung im Liegen, willst du ausprobieren, wie sich das anfühlt?“, fragte sie ihn. Verschiedenste Gefühle prasselten zugleich auf ihn ein. Er fürchtete sich, doch zugleich war er neugierig und willens sich ihr hinzugeben. Vor lauter Aufregung brachte er kaum ein Wort am Stück heraus: „Ich habe noch nie… Überhaupt, was wird Ihr Mann davon halten?“ „Was mein Mann nicht weiß…“, erwiderte sie ihm, „Mich hätte es auch schwer gewundert, hättest du bereits Erfahrung auf diesem Gebiet. Kinbaku ist nicht gerade das, wovon man im Aufklärungsunterricht in der Schule hört. Am Anfang ein wenig Angst zu haben ist völlig normal, doch du kannst mir vertrauen, ich werde dich sanft fesseln. Sieh es als eine Art erweiterte Umarmung.“ Ohne wirklich zu wissen, was auf ihn zukam, erlaubte er ihr ihn zu fesseln. Er zitterte vor Aufregung, während sie die Seile um seine Brust und Oberarme herum führte. Langsam nahm sie ihm immer mehr Bewegungsfreiheit. Ihn erregte bereits jetzt wie die Seile ihn in die Haltung drückten, die sie ihm vorgab. Sie verschränkte ihm die Arme auf dem Rücken bevor sie ihm die Handgelenke zusammen band. Nun war er ihr beinahe hilflos ausgeliefert, was sich für ihn zunächst irritierend aber auch zugleich schön anfühlte. Zu ihrer Belustigung wand er sich spielerisch in den Fesseln. Danach widmete sie sich seinen Beinen, indem sie Oberschenkel und Unterschenkel zusammenband, wodurch der gezwungen war im Knien auf der Couch zu sitzen. Sanft umgriff sie sein Kinn. „Gefällt es dir gefangen zu sein? Im Grunde bekommst du ja nur, was du verdienst, mein kleines diebisches Vögelchen“, dabei hatte sie ein diabolisches Lächeln auf den Lippen. Erst näherte sie sich im, als sie ihn küssen wollte, doch nachdem er Kopf schon in Richtung ihres Mundes gestreckt hatte, entzog sie sich ihm wieder. Traurig sah er sie an, woraufhin sie ihm einen umso genussvolleren Kuss gab. So spielte sie noch ein wenig mit ihm. Er nahm bereitwillig ab, ob Zärtlichkeiten oder Gemeinheiten. Sie streichelte ihm die Beine, nur um ihn kurz darauf böse zu kneifen. Das Ausgeliefertsein und die Ungewissheit machten ihn wild. Alles zusammen, die Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit, Schmerzen, wie sie ihn reizte, ihm die Erfüllung nach ihrer jeweiligen Laune verweigerte oder zugestand, formte sich zu einem einzigen Rausch. Er verlor sein Gefühl für Zeit, nahm bereitwillig an, wovon auch immer sie ihm gab. Irgendwann sank er völlig erschöpft auf der Couch in sich zusammen. Sie löste ihm die Fesseln wieder, nahm ihn in die Arme, worin er liegen blieb bis er wieder im Hier und Jetzt ankam. Durch ihre liebende Nähe vermittelte sie ihm die Geborgenheit, die er für den sicheren Weg zurück brauchte. Wirklich Worte für das, was er gerade erlebt hatte, fand er in diesem Moment noch nicht. Gerade so brachte er noch die Frage heraus, ob er sie denn öfter besuchen dürfe, woraufhin sie ihm antwortete, er wäre immer willkommen.
Von da an kam er fast jeden Tag zu ihr. Seine Eltern glaubten, er wäre am Strand mit seinen Freunden, denen er erzählte, er hätte ein Mädchen kennen gelernt, mit der er zusammen sein wollte. Wer es war, verriet er ihnen nicht. Natürlich zogen sie ihn mit seiner geheimnisvollen Geliebten auf, aber begnügten sich meist mit seinen wohlgewählten Wahrheitsfetzen, die er ihnen verriet um sie bei Laune zu halten. Von den Fesselspielen sagte er ihnen natürlich nichts. Er glaubte nicht, dass sie, die bereits rote Ohren bekamen, wenn jemand leise das Wort „Playboy“ aussprach, den Reiz des Kinbaku verstehen würden. Bloß manchmal konnte er nicht widerstehen eine kleine Andeutung einzustreuen, auf welche verruchte Art seine Freundin ihn liebte. Viel Gelegenheit zum Nachhaken hatten sie ohnehin nicht, denn den Großteil seiner Nachmittage verbrachte er bei der Frau. Zuerst tranken sie immer eine oder auch zwei Tassen Kaffee miteinander, danach wickelte sie ihn in ihre Seile ein. Da sie so langsam wieder in Übung kam, wurden ihre Fesselungen immer komplizierter, kunstvoller und für ihn restriktiver. Ein paar Spiele später entführte sie ihn in ihr Schlafzimmer. Die Hände hinter den Kopf und die Füße an die Bettpfosten gebunden verlor er seine Unschuld. Währenddessen hatte sie völlige Macht über ihn, doch bei ihr ließ er sich gerne fallen, denn er wusste, sie fing ihn auf. Was sie auf der Couch mit Küssen und zärtlichen Berührungen begonnen hatte, führte sie beim Sex fort. Sie reizte ihn um ihm zu verweigern, wonach er sich sehnte, benutzte ihn zu ihrer Befriedigung, wann immer sie es wünschte, belohnte ihn schließlich, wenn er ihr gute Dienste getan hatte. Nie zuvor hatte ihn etwas derartig in Ekstase versetzt. Spiel für Spiel wurden sie beide mutiger, probierten aus, wie sehr es sich den Seilen zu fügen vermochte. Mal stand eher die Fesselung an sich im Vordergrund, mal mehr der sexuelle Aspekt. Manchmal brachte sie ihn bewusst in unangenehme Positionen, beispielsweise Hände und Füße auf dem Rücken aneinander fest gebunden, um zu sehen wie lange er das aushielt. Gehorsam ertrug er, bis seine Grenzen erreicht waren. Als Turner hatte er eine gute Körperspannung und war gelenkig, was bei ihren Spielen durchaus ganz hilfreich war. Außerdem gefiel ihr sein schlanker, trainierter Körper. Irgendwann ging sie dazu über ihn am Dachbalken ihres Schlafzimmers mit den Seilen aufzuhängen, zuerst nur aufrecht, später auch im Liegen oder gar Kopfüber. Die Vorbereitung dafür dauerte immer vergleichsweise lang, aber die Momente, in denen sich fühlte, als würde er fliegen, machten alles wett. Völlig wehrlos schwebte er in den Seilen, ganz ihrer Gnade ausgeliefert. Dann zog sie sich gerne vor seinen Augen aus, sodass ihm einmal mehr nichts blieb, außer ihren nackten Körper mit seinen vollkommenen weiblichen Rundungen bewundernd anzusehen. Vor allem, wenn sie ihre Nylonstrümpfe abstreifte, ließ ihn das beinahe vor Erregung platzen. Hatte sie ihn genug derartig gequält, nahm sie ihn ab um ihn noch immer in Fesseln ins Bett zu zerren.
Wäre es nach ihm gegangen, hätte dieser Sommer nie geendet. Allerdings kam auch in diesem Jahr der letzte Tag der Ferien. Für ihn begann ein anstrengendes letztes Schuljahr. Ihr Mann kehrte bald darauf aus Japan zurück. Immer seltener schaffte er es die Frau zu besuchen. Wann genau sie sich aus den Augen verloren hatten, vermochte er im Nachhinein nicht genau zu sagen. Schließlich verschlug es ihn zum Wehrdienst nach Hamburg und zum Studium nach München, wo er auch danach gelebt und gearbeitet hatte. Obwohl ihre Liebe nur so kurz gehalten hatte, sie hatte ihn fürs Leben geprägt. Sie hatte ihm selbstbewusst gemacht. Eine gewisse souveräne Gelassenheit in der Liebe, die er freilich erst nach und nach bemerkt hatte, war ihr größtes Geschenk an ihn gewesen. Sie hatte ihm Wege eröffnet die Sprache seiner Liebe zu finden, zu erlernen und nach viel Übung zu beherrschen.
Nun war er nach all den Jahren in sein altes Heimatdorf zurückgekehrt um seine jüngere Schwester zu besuchen. Mittlerweile war er zum zweiten Mal verheiratet, hatte drei Kinder von seinen beiden Ehefrauen, war Großvater von sieben Enkeln. Gemeinsam mit Frau, Kindern und Enkeln machte er gerade sein Elternhaus, in dem jetzt seine Schwester mit ihrer Familie wohnte, unsicher. Gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes hatte er sich nach der Frau aus der Villa erkundigt, doch von seiner Schwester hatte er erfahren, dass die alte Hanseatin vor ein paar Jahren gestorben war. Bis zuletzt hätte sie sich guter Gesundheit erfreut; mit etwas über 90 Jahren wäre sie dann friedlich eingeschlafen. Bei einem seiner Spaziergänge war er auch schon auf dem Friedhof bei ihrem Grab gewesen. Dort lag sie neben ihrem Mann, der ein paar Monate vor ihr das Zeitliche gesegnet hatte. Die Villa stand jetzt leer, begann zu verfallen. Im Garten hatte bereits die Natur wieder die Oberhoheit gewonnen. Unter dem Birnbaum sitzend, unter dem sie sich kennen gelernt hatten, fiel ihm ein, dass er ihr noch gar kein Geschenk mitgebracht hatte. Allerdings brauchte er nicht lange darüber nachzudenken. Vorsichtig brach er ein paar schöne Zweige des Birnbaums ab. Damit in der Hand ging er zum Blumenladen des Dorfes, der soeben seine Türen für den Tag geöffnet hatte. Er kaufte ein paar weiße, pfirsichfarbene und zartrosa Rosen, bat die Floristin darum die Zweige in den Strauß einzubinden. Es wäre für ein Grabgesteck für eine alte Freundin, mit der ihm ein paar besondere Erinnerungen verbanden, für die die Birnenzweige standen, sagte er der Verkäuferin, als die sich ein wenig darüber wunderte. Daraufhin jedoch gefiel ihr die Idee, was sich auch im liebevoll gefertigten Ergebnis niederschlug.
Die Blumen in der Hand begab er sich zum Friedhof. Ihr stattliches, der Familie aus der sie stammte, angemessenes Grab war nicht schwer zu finden. Er hielt einen Moment inne, bevor er das Arrangement aus Rosen und Birnenzweigen darauf ablegte. Zu ihren Füßen setzte er sich auf den Boden. Süße, wehmütige Erinnerungen überkamen ihn abermals. Leise flüsternd rezitierte er dabei Joseph von Eichendorffs Gedicht „Der alte Garten.“
Kaiserkron und Päonien rot,
die müssen verzaubert sein,
denn Vater und Mutter sind lange tot,
Was blühen die hier so allein?
Der Springbrunnen plaudert noch immerfort
Von der alten schönen Zeit,
Eine Frau sitzt eingeschlafen dort,
Ihre Locken bedecken ihr Kleid.
Sie hat eine Laute in der Hand,
als ob sie ihm Schlafe spricht,
Mir ist, als hätt ich sie sonst gekannt,
Still, geh vorbei und weck sie nicht!
Und wenn es dunkelt im Tal entlang,
Streift sie die Saiten sacht,
Da gibt’s einen wunderbaren Klang
Durch den Garten die ganze Nacht.
Bald darauf jedoch war es mit seiner Ruhe an ihrem Grab schon wieder vorbei. Seine Frau und seine beiden jüngsten Enkeltöchter suchten bereits nach ihm. „Opa, wo rennst du denn schon wieder hin?“, rief ihm die Ältere der Zwei, ein siebenjähriges Mädchen, das voller Energie steckte, entgegen, „Du hast mir versprochen, du baust heute den Holzdinosaurier mit mir zusammen. Außerdem habe ich vorher endlich‚ Velociraptor‘ richtig geschrieben und du hast es nicht einmal gesehen!“ „Opa, wo rennst du denn schon wieder hin?“, wiederholte seine Frau neckisch. „So ein schwieriges Wort kannst du schon richtig schreiben, das schaue ich mir gleich an, wenn wir zuhause sind“, antwortete er der Kleinen, „Weißt du, ich habe eine Freundin von früher besucht, die aber nicht mehr lebt. Übrigens, du hast mich gestern gefragt, woran man erkennt, wenn man verliebt ist, stimmt s? Dabei habe ich herausgefunden, wie man das ganz gut erklärt“ „Und woran erkennt man das jetzt?“, hakte seine Enkelin nach. Zutiefst glücklich lächelnd schaute er seine Frau und seine Enkeltöchter an: „Verliebt zu sein bedeutet, den anderen, mit allem, was man hat, umarmen zu wollen, aber nie zu fest zu drücken.“