Eine ungewöhnlich ruhige Silvesternacht hatten sie in diesem Jahr. Sogar das Neujahrsgeläut war tatsächlich zu hören und wurde nicht wie sonst immer vom Krach des allgegenwärtigen Feuerwerks übertönt. Samael, Thidrek, Angvard, Skadi, Mallt-y-nos und Perchta mochten den Klang der Kirchenglocken eigentlich nicht besonders gerne, doch ein wenig hatten sie ihn schon vermisst, nachdem sie ihn über Jahrzehnte nicht mehr vernommen hatten. Außerdem hatten sie den Himmel voller Feuerwerk nicht unbedingt lieber, ganz im Gegenteil. Es flog sich nämlich nicht unbedingt gut auf den stürmischen Winden des Winters, wenn die Luft voll Rauch und Funken war. Obwohl diese Rauhnacht über Jahrhunderte hinweg ihre Liebste gewesen war, weil in der Mitte der zwölf Nächte, in denen sie über die Erde wandeln durften, ihre Macht am größten war, bevorzugten sie mittlerweile die ruhigeren Nächte nachdem der größte Trubel der Weihnachtsfeiertage vorbei war. Waren die Menschen zwischen Jahren erst zur Ruhe gekommen, hatten manche von ihnen noch Augen für die Geister der Anderwelt. Einige sensible Individuen vermochten ihre Anwesenheit sogar zu fühlen. Die ständige Reizüberflutung der Moderne hatte Viele jedoch blind dafür gemacht.
Vor noch wenigen Jahrhunderten waren Samael, Thidrek, Angvard, Skadi, Mallt-y-nos, Perchta und ihr Gefolge als die wilde Jagd, die in den Rauhnächten zwischen Heilig Abend und dem Dreikönigstag auf den Sturmwinden ritt, gefürchtet. Dabei waren sie den Menschen nicht unbedingt feindlich gesinnt, doch sie brachten die Zauberkraft der Anderwelt mit sich, die sich manchmal beängstigend auswirkte. Sie alle besaßen die Gabe die Zukunft vorherzusagen, die durch ihre Anwesenheit auf dafür offene Menschen überging. Leider enthüllten sich auf diese Art oft Dinge, bei denen es den Leuten lieber gewesen wäre, sie wären im Dunkeln geblieben. Die Magie von Angvard und Mallt-y-nos legte beispielsweise offen, wer im nächsten Jahr sterben würde. Wer Angvard ein weißes Tuch von seiner Wäscheleine nehmen sah, dessen Leichentuch war bereits gefertigt. Mallt-y-nos hingegen beklagte zusammen mit ihren jüngeren Schwestern den Cyhyraeth den bevorstehenden Verlust geliebter Verwandter. Ihr Weinen hallte nur für die künftig Trauernden hörbar durch die Nacht. Allerdings erschien Mallt-y-nos in der Gestalt einer alten, hässlichen Frau auch im Dunkeln vor Fenstern oder Türen und begehrte Einlass. Öffnete man ihn, nannte sie den Namen desjenigen, der sterben würde. Bisweilen hielt sich auch ein blutbeflecktes Totenhemd in den Händen, wenn ein gewaltsamer Tod bevorstand. Allerdings hatten Angvard und Mallt-y-nos mit den Fortschritten der Medizin an Schrecken verloren. Zudem verdrängten viele Menschen den Tod einfach, sodass sie weder Angvard noch Mallt-y-nos trotz ihrer Anwesenheit wahrnahmen.
Samael, Thidrek und Skadi hingegen warnten unter anderem vor bevorstehenden Naturkatastrophen, Seuchen und Kriegen. Sie mochten die letzten Jahrzehnte über Europa nicht still gewesen sein, doch nur Wenige wollten sie noch vernehmen. Auf dramatische Weise kündigte ihre wilde Jagd die jeweiligen Unglücke des kommenden Jahres an. Thidrek eilte der wilden Jagd voraus um Wanderern, die des Nachts draußen auf den Feldern unterwegs waren, ihr Eintreffen anzusagen. Standen schlimme Jahre bevor, taten die meisten Menschen gut daran ihr Gesicht abzuwenden, denn bloß wenige vermochten die Vorzeichen der Rauhnächte zu ertragen. Nicht Wenige harrten am Boden liegend aus, bis Samael, Thidrek und Skadi mit ihrem Gefolge hinweg gezogen waren. Manche verließ bei ihrem Anblick derartig der Lebensmut, dass sie auf der Stelle starben. Deren Seelen gehörten ihnen, bis die Engel aus den hohen Himmeln kamen um sie zu erlösen. Allerdings blieben diese selten länger in ihrem Gefolge, als sie es wollten, denn die himmlischen Mächte waren ebenfalls stark in diesen Nächten, in denen das Übernatürliche insgesamt näher an die Welt der Sterblichen rückte. Sowohl die Wesen der Anderwelt als auch die Engel wandelten bisweilen für manche Menschen sichtbar auf Erden. Feinde waren sie keine, sie erfüllten bloß unterschiedliche Aufgaben. Samael, Thidrek, Angvard, Skadi, Mallt-y-nos und Perchta lag es zudem fern mit den Engeln um Seelen zu streiten. Es stand einer jeden Seele stets frei sich der wilden Jagd anzuschließen oder im Himmel ewige Ruhe zu genießen. In den letzten Jahren war ihr Gefolge stark angewachsen, denn zahlreiche Seelen hatten erbeten vom Himmel herabzusteigen um die lebenden vor dem größten drohenden Unglück ihrer Geschichte zu warnen. Des Weiteren zogen immer mehr Wesen der Anderwelt mit ihnen, da die Wälder, Moore, Felder, Wiesen, Seen, Flüsse und Meere, aus denen sich ihre Kräfte speisten starben. Besonders schlimm hatte es Perchta erwischt. Die unzähligen Gifte auf den Äckern hatten das Antlitz der den Menschen eigentlich freundlich gesonnenen Roggenmuhme furchtbar verunstaltet. Hatte sie früher für gute Ernten gesorgt, schwanden ihre Kräfte ob der stetig zunehmenden Versiegelung von Ackerflächen immer mehr. Im Grunde hatte sie die Menschen sehr gerne, besonders die Fleißigen, hart Arbeitenden, die einfach lebten, lagen ihr am Herzen. Was sie aber nicht leiden konnte, waren Faulheit und Trägheit. Sie verzieh den Menschen viele ihrer Fehler, doch diese beiden waren ihr zutiefst zuwider. Die Faulen und Trägen erschrak sie gerne fürchterlich in den Rauhnächten um sie vor den Folgen zu warnen. Lange war sie alleine unterwegs gewesen, da Samael, Thidrek, Angvard, Skadi und Mallt-y-nos ihr immer ein bisschen zu wild gewesen waren, doch seit sich die Welt so gravierend veränderte, hatte sie sich entschieden gemeinsam mit ihnen übers Land zu ziehen.
Die Rauhnächte waren ohnehin nicht mehr das, was sie früher einmal gewesen waren. Die einst sturmumtosten, kalten Winternächte waren mild und warm geworden. Außerdem wussten viele Menschen nicht mehr um ihre Bedeutung, sondern sie waren zumeist willkommene fröhliche Feiertage voller Trubel, denen die ursprüngliche Dunkelheit abhanden gekommen war. Doch nur in diesen zwölf Nächten war es den Geistern der Anderwelt erlaubt über die Erde zu wandeln, so wollte es der Pakt mit dem Himmel von Alters her. Hoffnung gab ihnen nur, dass die Macht derer von ihnen, die Unglück ankündigten, immer weiter wuchs. Denn sie durften die Menschen nicht in Unkenntnis darüber lassen, was ihnen drohte, wenn sie nicht handelten. „Sie haben sich des Feuers in einer Art bemächtigt, die ihnen erlaubt hat, ein Zeitalter des Feuers einzuläuten“, sprach Samael leise mit gedrückter Stimme, „Sie leben nun vom Feuer, um den Preis, dass das Feuer alles verzehren muss. Längst haben sie die Kontrolle darüber verloren. Ein Weltenbrand steht ihnen bevor, der immer schwerer zu verhindern ist.“ „Das Feuer wird die Elemente gegen sie aufbringen. Stürme, Fluten und Eiseskälte wird es heraufbeschwören“, antwortete Skadi ihm, „Die Erde, auf denen ihre Häuser gebaut sind, wird sie nicht mehr halten. Fürchterliche Krankheiten und Seuchen werden die aufgewühlten Elemente ihnen bringen. Der Hunger wird zurückkehren, denn ein aus dem Gleichgewicht geratenes System vermag sie nicht mehr zu ernähren. Schließlich werden alte und neue Krieger um Wasser und Nahrung ausbrechen.“ „Das Zeitalter des Feuers neigt sich seinem Ende zu“, ergänzte Thidrek, „Die Zeit verrinnt, doch noch kann es sowohl in Frieden als auch in Chaos übergehen.“ „Es liegt an ihnen, ob sie erwachen oder träge bleiben“, meinte Perchta, „Sie selbst haben es in der Hand.“ „Alles, was ihnen lieb ist, steht auf dem Spiel“, warf Mallt-y-nos ein, „Vieles werden sie sonst verlieren.“ „Uns bleibt nur zu mahnen, denn unser aller Schicksal, das der Menschen, der Anderwelt und das der hohen Himmel ist miteinander verknüpft. Wofür wir unsere Kräfte gebrauchen können, das tun wir“, beschloss Angvard ihre Rede, „Diesen Kampf dürfen wir nicht verloren geben, sonst bleibt uns allen nur der Tod.“
Das Neujahrsgeläut war verklungen. Einige wenige Raketen zuckelten noch gen Himmel. So zogen Samael, Thidrek, Skadi, Angvard, Mallt-y-nos und Perchta weiter durch die Nacht, auf dass jemand ihre Warnungen zu hören vermochte. Diese und fünf Nächte blieben ihnen noch, bis sie in die Anderwelt zurückkehren mussten.