Samson und die Schinkenmünze
Der entscheidende, ja der alles verändernde Tag in Ferdinands bisherigem Leben begann so unspektakulär wie jeder andere zuvor in den vergangenen drei Monaten, seitdem er aus dem Haus von Tante Margot geflüchtet war. Bibbernd und durchgefroren erwachte er von lauten Schritten auf den hölzernen Stufen über sich. Schnee und Eis rieselte auf den Jungen hinab, verfing sich in seinen Wimpern. Er blinzelte und schob die alten Zeitungen, die ihm als Bettdecke dienten, beiseite. Fröstelnd blies er auf seine schmerzenden Hände. Womöglich musste er ihnen eine neue Unterkunft für den Winter suchen, wenn es noch kälter wurde. Die Glocken der nahen Christ Church an der Ecke verkündeten den aufziehenden Morgen.
Die kleine Bulldogge Samson öffnete neben ihm verschlafen ihre Augen. Sie hatte bis vor einigen Augenblicken noch von saftigem Schinken, von geräucherten Würsten und von einer wilden Hetzjagd geträumt. Gähnend streckte sie ihre schwarzweißen Beinchen und blickte Ferdinand erwartungsvoll hechelnd an. Ihr weißes Knickohr wippte dabei lustig umher, während das andere wie immer schwarz gen Himmel ragte.
»Hab dich lieb!«, sagte der Junge leise.
Samson bellte zur Antwort ein Mal. »Buff!« Das hieß in Hundesprache so viel wie: »Ich Dich natürlich auch!«
Er reckte Ferdinand den weichen Bauch entgegen und ließ sich kraulen.
»Und wo gehen wir heute hin, Samson? Wieder an den Houndwell Park?«, fragte der Junge.
Samson bellte zwei Mal. Das bedeutete so viel wie »Nein! Auf keinen Fall. Erinnerst du dich nicht an letzte Woche, als uns der Restaurantbesitzer dort mit dem Besen vertrieben hat?«
»Nicht?«, fragte der Junge. »Willst du dann etwa hoch, zum Cumberland Place?«
Erneut zwei Beller. Dort liefen Samson entschieden zu viele Schulkinder herum. Sie würden Ferdinand bestimmt wieder auslachen oder gar mit Schnee und Dreck bewerfen.
»Hm«, überlegte der Junge laut, »wie wäre es dann mit dem Mayflower Round, unten am Hafen?«
Samson bestätigte diesen Vorschlag mit einem begeisterten, einzelnen »Buff!«. Dort roch es stets so appetitlich nach Fisch. Manchmal fiel sogar einer von einem vorbeirumpelnden Transportkarren. Wenn man flink genug war und dabei den Rädern auswich, konnte man dort eine wunderbare Gratismahlzeit bekommen.
»Ne gute Entscheidung«, lachte Ferdinand. »Und dort ist auch immer reichlich zu tun. Heut werd´ ich uns genug verdienen, damit wir endlich wieder satt werden. Versprochen!«
Zur Antwort leckte Samson dem Jungen quer über das dreckverschmierte Gesicht. Satt war so ein schönes Wort, fand der kleine Hund. Ferdinand quiekte vergnügt auf und kroch dann unter der Treppe der alten Herberge hervor. Er griff nach einer brüchigen Zigarrenschachtel, in der er Bürste, Lappen und Schuhwichse aufbewahrte und blickte sich staunend um. Über Nacht war Schnee gefallen. Noch lag die weiße Pracht unberührt auf der Waterloo Road und dem großen, festlich geschmückten Baum an der Ecke Mansion Road. Doch in spätestens einer Stunde würden Menschen, Kutschen und Automobile den jungfräulichen Schnee in braunen, unansehnlichen Matsch verwandelt haben. Samson liebte Schnee über alles, auch wenn er etwas kalt war. Es gab für den jungen Hund keine größere Freude, als sich kopfüber in die Schneewehen zu stürzen, bis nur noch sein zuckender Schwanz herausragte. Leider blieb ihm heute nur wenig Zeit dazu. Für sein Herrchen, den Schuhputzerjungen Ferdinand war es eine wahrhaft arbeitsreiche Woche. Er pfiff Samson an seine Seite und gemeinsam traten die beiden den Weg zur täglichen Arbeit an.
»Ja Sir, natürlich Sir! Wie Sie wünschen, Sir!«
Ferdinand streckte den Polierlappen zu Samson, der ihn sofort pflichtbewusst mit seiner langen Zunge befeuchtete. Zwei Mal hatte der Junge die feinen Lederschuhe dieses seltsamen Fremden bürsten müssen, bis der hartnäckige Schlamm restlos entfernt war. Nun jedoch glänzten die italienischen Halbschuhe wie an ihrem ersten Tag. Noch ein letzter, schwungvoller Wisch, dann hatte Ferdinand sein Werk vollendet. Auf ein Lob hoffend blickte er auf. Doch der Fremde starrte nur abwesend in die Ferne. Achtlos schnippte er dem Jungen eine Münze zu, sprang auf und stolzierte davon.
Was für ein seltsamer Kerl, dachten Junge und Hund. Piekfein in Anzug, doch seine Schuhe sahen aus, als ob er durch sumpfigen Uferschlamm gewatet wäre. Dann fiel Ferdinands Blick auf die funkelnde Bezahlung.
Bewundernd hob er das blitzende Geldstück ins Licht. Es musste eine richtige Goldmünze sein. So etwas hatten weder Ferdinand noch Samson je zuvor gesehen. Ein Indianerkopf war auf die eine Seite geprägt. Der Junge drehte die Münze staunend um. ›Five Dollar‹ stand dort, direkt unter dem Schriftzug ›United States of America‹.
Da dämmerte Ferdinand, was er in den Händen hielt.
»So ein Mist!«, schimpfte er los.
Es musste sich um amerikanisches Geld handeln. Doch wie sollte er in England damit bezahlen?
»Hey!«, rief er dem Mann verärgert nach. Aber dieser war natürlich längst im emsigen Treiben des Hafengewirrs verschwunden.
Mit hängenden Kopf wandte sich der Junge seinem Hund zu: »Hast du so etwas schon mal erlebt? Erst lässt er sich fingerdicke Dreckklumpen und verklebtes Sägemehl von den Schuhen kratzen, und dann bezahlt er uns mit ausländischem Geld. So ein gemeiner Schuft.«
Samson blickte sein Herrchen an, buffte zustimmend und schnüffelte interessiert. Für ihn roch diese Münze vor allem nach Schinken. Saftigem Schinken und traumhaften Räucherwürsten. Genau, wie es auch immer im Laden des Metzgers roch. Dem Hund kam eine Idee: Möglicherweise konnte man ja dieses Geld essen, wenn es schon so appetitlich duftete? Zumindest würde er jetzt probeweise daran lecken. Man wusste ja nie. Der kleine Hund reckte gerade den Kopf, da schob Ferdinand die Münze jedoch in die Tasche. Samson schnaubte enttäuscht.
Der Junge sah ihn nachdenklich an: »Vielleicht können wir ja trotzdem damit etwas kaufen. Immerhin ist es echtes Gold. Sowas ist doch wertvoll. Und außerdem tut mein Magen schrecklich weh.«
Fragend blickte er zu Samson: »Auf zum Metzger?«
Der Hund bellte ein Mal und wedelte freudig. Das Wort Metzger verstand er natürlich ebenfalls. Mit seiner blauschwarz verfärbten Zunge leckte er sich erwartungsvoll über die Lefzen.
Mrs Bigsby sah den zerlumpten Jungen mit hochgereckter Augenbraue an. »Einen ganzen Kalbsknochen also? Und dann auch noch ein halbes Dutzend Räucherwürste dazu?«
Sie beugte sich vor und zwinkerte verschwörerisch: »Das ist aber nicht alles für Dich allein, oder?«
Ferdinand schüttelte lachend den Kopf. »Natürlich nicht, Ma´am. Ich teile alles mit meinem Hund Samson.«
Die Metzgersfrau blickte auf den kleinen, schwarzweißen Hund mit dem lustigen, weißen Knickohr, der geduldig neben Ferdinand saß.
»Dann ist der Kalbsknochen sozusagen dein Weihnachtsgeschenk. Na du bist ja mal ein Hübscher. Samson heißt du also, soso.«
Sie griff eine dicke Scheibe Fleischwurst aus der Theke und schnitt sie in zwei Teile.
»Kann Dein Hund auch Kunststücke?«
»Aber ja doch, Ma´am. Er kann Sitz und Platz und auf den Hinterbeinen laufen. Und er versteht Sie auch und kann Ihnen sogar antworten.« Der Junge strahlte über das ganze Gesicht.
Neugierig beugte sich Mrs Bigsby vor. »Möchte der liebe Samson dann vielleicht ein Stückchen Wurst?«
Samson buffte ein Mal.
»Das heißt ja«, erklärte Ferdinand.
»Und was bedeutet Nein?«
»Dafür bellt er zwei Mal.«
Die Metzgersfrau lächelte wissend und reichte den beiden ihre Wurststücke. »Ihr seid mir ja echt zwei Herzchen.«
Die kleinen Glocken über der Tür bimmelten. Drei ältere Damen humpelten herein. Sie schienen in ein Gespräch vertieft und beachteten weder den Jungen noch den Hund.
»Also«, fragte Mrs Bigsby nun wieder geschäftsmäßig, »ein Kalbsknochen und sechs Räucherwürste für euch?«
Ferdinand nickte. Er rollte die halbe Wurstscheibe noch immer mit der Zunge umher und genoss das wunderbare Aroma.
»Aber hast Du überhaupt so viel Geld dabei?«, wollte die Frau von ihm wissen, als sie die herrlich duftenden Würste in Papier einschlug. »Nicht, dass ich Dir nicht trauen würde. Aber Du schaust nicht gerade so aus, als ob Du Dir jeden Tag so etwas leisten könntest.«
Ferdinand nickte kauend. Breit lächelnd legte er seine Goldmünze auf die Theke. Die Metzgersfrau starrte verblüfft auf das Geldstück, dann wandte sie sich langsam um.
»Hamish? Kommst du bitte mal nach vorne in den Laden?«
Im hinteren Bereich des Hauses ertönte ein undeutliches Brummeln.
»Was ist denn?«, wollte Ferdinand alarmiert wissen. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf riet ihn, schleunigst von hier zu verschwinden.
Die Frau schien seine Gedanken erraten zu haben. »Warte bitte kurz«, sagte sie und legte ihre Hand auf die Münze, gerade als Ferdinand danach greifen wollte.
Erneut bimmelten die Glöckchen. Ferdinands Nackenhaare stellten sich auf. Hinter ihm bildete sich jetzt eine Schlange von Wartenden. Er wollte nur noch weg. Doch nicht ohne sein Geld.
Die Tür zum Schlachtraum schwang auf. Der grobschlächtige Metzger kam in den Laden gestapft. »Was´n los?«
Beklommen deutete seine Frau auf die funkelnde Goldmünze. Der glatzköpfige Mann legte ein riesiges Fleischermesser beiseite, wischte die blutigen Hände an der Schürze sauber und griff nach dem Geldstück. Ungläubig hielt er es sich vors Gesicht, betrachtete es lange von allen Seiten. »Ey, iss nich wahr! Datt Ding kenn ich doch!«
Mit aufgerissenen Augen sah er den Jungen an: »Woher hassu das?«
Ferdinand blickte hoch und zuckte erschrocken zurück. Zu spät. Eine kräftige Hand kam über die Theke geschossen und packte ihn am Kragen.
Mrs Bigsby legte ihrem Mann besänftigend die Hand auf die Schulter. »Sei nachsichtig, Hamish. Er ist doch noch ein Kind.«
Doch der Metzger starrte unverwandt auf den Jungen. Eine Zornesader pulsierte an seiner Schläfe. Er hob Ferdinand am ausgestreckten Arm in die Höhe und begann ihn kräftig zu schütteln. »Woher du das hast, hab ich dich gefragt! Sags mir!«
Verzweifelt tastete der Junge nach oben, versuchte sich, aus der eisernen Umklammerung zu befreien.
Vergeblich. Der Griff schnürte ihm den Atem ab. Selbst wenn er jetzt etwas hätte antworten wollen – er bekam nicht genügend Luft dazu.
Von hinten erklang eine schneidende Stimme: »Gibt es hier irgendein Problem?«
Der Metzger blickte überrascht auf. Ein grimmiges Lächeln trat auf sein Gesicht. »Oh ja, Constable Norwax. Gut, dass Sie da sind. Dieser kleine, schmutzige Dieb hier hat gerade ernsthaft versucht, mich mit einer meiner eigenen Münzen zu bezahlen! Genau eines der Geldstücke, die mir gestern gestohlen wurden!«
Ferdinand riss entsetzt die Augen auf. Gestohlen? Er sollte diese Münze gestohlen haben? Was redete der Mann da? Verzweifelt versuchte er, sich wieder aus dem Griff zu winden. Doch langsam wurde ihm schwindelig. Undeutlich nahm er wahr, wie ihm jetzt auch noch die Arme auf den Rücken gedreht wurden.
»Ach, der Münzdiebstahl?«, erklang es dicht hinter seinem Ohr. »Ich hätte nicht gedacht, dass dieser sich so schnell aufklären lässt.«
Der Metzger ließ Ferdinand los. Krampfhaft schnappte der Junge nach Luft. Noch immer hielt jemand seine Arme auf dem Rücken fest. Er drehte den Kopf und blickte in zwei harte blaue Augen, die über einen gewaltigen, wackelnden Schnauzbart zu schweben schienen.
»Ein kleiner, dreckiger Straßenjunge also. Na, du kommst jetzt jedenfalls erstmal mit. Auf der Wache darfst du mir dann erzählen, wo der Rest dieser Münzsammlung abgeblieben ist.«
Verzweifelt wandte Ferdinand sich im Griff. »NEIN! Ich hab doch garnichts gemacht! Sie haben den Falschen. Der Mann hat mir doch das Geld gegeben! Den müssen Sie suchen!«
Doch der Polizeibeamte hatte Erfahrung mit renitenten Gefangenen. Er führte den Jungen ab, ohne auf dessen Worte zu achten.
Die kleine Bulldogge Samson sah dem Geschehen mit wachsender Verzweiflung zu. Wie konnte das geschehen? Wussten die Menschen denn nicht, dass Ferdinand das Geld lediglich von einem Mann bekommen hatte? Doch noch während der Hund überlegte, was er tun sollte, bimmelten die Glöckchen an der Ladentür bereits erneut. Der Bobby war mit seinem Herrchen nach draußen verschwunden. Samson ließ ein verzweifeltes Klagegeheul im Laden erklingen. Wenige Augenblicke später wurde er schwungvoll ebenfalls vor die Tür befördert.
Aufmerksam folgte er der Spur seines Herrchens. Der Polizist wollte Ferdinand zur Wache bringen, hatte er gesagt. Bestimmt klärte sich dieses Missverständnis dort auf. Wenn Samson die Wache erreicht hatte, würde Ferdinand ihn garantiert schon lachend an der Tür erwarten.
Oh, jetzt hatte er sich fast verlaufen. Bei so vielen unterschiedlichen Spuren hier auf der verschneiten Straße kostete es ihn seine ganze Konzentration, den richtigen Weg zu erschnüffeln.
Die Fährte endete an der verschlossenen Tür eines tristen, steinernen Gebäudes. Kein Ferdinand erwartete ihn. Egal, wie feste der Hund auch mit der Nase gegen den Eingang drückte, er blieb zu. Hier kam Samson nicht weiter. Doch vielleicht gab es ja einen unverschlossenen Hintereingang, durch den er hineinschlüpfen konnte.
Aufmerksam umrundete er das Gebäude. Dabei kam er auch an mehreren, auf Bodenhöhe angebrachten Gittern vorbei. Er hielt inne, als es plötzlich besonders stark nach Ferdinand roch. Schnüffelnd hielt der Hund seine Nase an eines der Gitter und versuchte, in der Dunkelheit dahinter etwas zu erkennen.
»Samson!«, ertönte es aus der Schwärze.
Diese Stimme kannte er natürlich. Aufgeregt begann er zu bellen. Ferdinands kalte Hände schoben sich zwischen den Gitterstäben hindurch. Glücklich begann der kleine Hund sie zu lecken. Er hatte sein Herrchen wiedergefunden. Jetzt würde bald wieder alles gut werden.
Doch statt sich zu freuen, weinte der Junge. Das verstand der Hund nicht. Sie waren doch jetzt wieder vereint. Samson schob sein Hundegesicht ganz nah an das Gitter und leckte Ferdinand die salzigen Tränen von den Wangen.
»Die sagen, ich bin gestern beim Metzger eingebrochen und hab das Geld gestohlen«, schluchzte Ferdinand. »Und natürlich glaubt mir keiner, dass ichs lediglich fürs Schuheputzen bekommen hab.«
Er umarmte seinen Hund. »Und darum bleib ich hier auch eingesperrt, bis ich denen verrate, wo der Rest abgeblieben ist. Aber ich weiß doch nix.«
Der Junge brach in lautes Weinen aus. Verzweifelt klammerten sich seine Finger in das Hundefell.
Samson musste etwas unternehmen, soviel begriff der kleine Hund. Scharf dachte er nach. Und dann kam ihm der rettende Einfall.
So schnell er konnte, wetzte der kleine Hund über das schlammige Kopfsteinpflaster. Mit lautem Kläffen versuchte er die Menschen aus dem Weg zu scheuchen. Er hatte jetzt keine Zeit, um sich zwischen ihren Beinen hindurchzuwinden. Seine Aufgabe war wichtig. Lebenswichtig sogar! Geschickt wich er dem schweren Pferdekarren der Brauerei aus und bog von der Western Esplenade in die Havelock Road ein. Hier musste er gut achtgeben, denn auf der breiten Straße waren überall Kutschen und stinkende Automobile unterwegs. Außerdem spritzte jedes Mal, wenn diese durch eine der zahlreichen Pfützen fuhren, eiskaltes, braunes Wasser in die Höhe. Doch es war die schnellste Verbindung zu seinem Ziel.
Natürlich hatte seine unfehlbare Hundenase schon am Morgen den Schlamm an den Schuhen des Mannes erkannt. Der Mann, mit dessen Schinkenmünze der ganze Ärger angefangen hatte. Der Mann, der bestimmt auch beim Metzger eingebrochen war und der noch immer den Rest des Geldes besaß. Samson wusste bereits, wo er seine Suche beginnen würde. Diesen Schlamm gab es nur an einer Stelle: hinter dem Riversidepark an den Ufern des Itchen.
Samson rannte quer durch die Stadt, an der Universität und am Campus vorbei. Er wich einer Schar dick eingemummelter Carol-Sänger aus und wäre dabei fast gegen eine Laterne gelaufen. Weiter folgte er der Portswood Road und bog nach einer Weile rechts in die schmale Woodmill Lane ein.
Unten, nahe der alten Holzmühle am Fluss hielt er keuchend an. Seine Flanken bebten, warmer Schaum troff ihm von den Lefzen. So viel war er noch nie in seinem Leben gerannt. Langsam schwanden auch die Seitenstiche wieder.
Seine Nase verriet ihm, dass er hier an der richtigen Stelle war. Nicht nur, dass der zähe Uferschlamm genau dem Dreck entsprach, der sich am Morgen an den Schuhen des seltsamen Mannes befunden hatte. Auch den Mann selbst konnte der Hund hier schwach riechen.
Samson schnüffelte im Schnee umher und fand eine Spur. Sie führte ihn einen schmalen Weg entlang. Die Nase dicht über dem Boden folgte der junge Hund aufgeregt seiner Fährte. Der Untergrund wurde schlammiger. Es ging jetzt abwärts zum Ufer und zur Mühle. Doch anstatt zu deren Tür wies ihn die Spur um das Gebäude herum. Verdächtige, braune Fußspuren im halb geschmolzenen Schnee führten am Backsteingebäude und einige Meter weiter an der flachen Ufermauer entlang zu einer Steintreppe am Flussufer. Dort bog die Spur um die Ecke. Die kalten Fluten schwappten wild schäumend über die Steine und dem halb gefrorenen Schlamm unterhalb der Ufermauer. Auf mehreren Pfützen hatten sich dünne Eiskrusten gebildet. Dicht an die steinerne Wand gepresst folgte der Hund weiter der Spur, direkt am Wasser entlang wieder zurück zur Mühle.
Ein Flusskahn fuhr vorbei. Wenige Augenblicke später schwappte eine eisige Welle über Samson. Verärgert schüttelte er sich. Spätestens jetzt hätte er sich normalerweise umgedreht und wäre gegangen. Doch Ferdinand steckte in der Klemme und nur er konnte ihn retten. Also stakste er weiter durch den klebrigen Schlamm, bis er eine Einbuchtung in der Mauer erreichte.
Er befand sich nun genau unterhalb der Mühle. Der Geruch des Schlamms, des seltsamen Mannes und des Schinkens waren hier besonders stark. Er musste kurz vor dem Ziel sein. Aufmerksam sah er sich um.
Und da war sie. Im hintersten Winkel, im Schatten eines sich drehenden Mühlrads stand eine kleine, schwarze Tasche in einer Mauernische. Von ihr ging der appetitliche Geruch aus. Darin musste sich das restliche Geld befinden, begriff der kleine Hund sofort. Entschlossen trat er vor, nahm den ledernen Griff zwischen die Zähne und zog. Es klimperte, doch die Tasche bewegte sich kaum. Sie musste wirklich schwer sein.
Samsons Füße gruben sich in die weiche Erde, als er seine Muskeln anspannte und heftig am Griff zerrte. Da kippte die Tasche und fiel ihm entgegen. Es gab ein deutliches Platsch, als sie auf dem Boden aufschlug. Eiskaltes Wasser und brauner Dreck spritzten über den kleinen Hund. Er schnaufte verärgert, packte die Tasche erneut. Die Zähne in den Ledergriff vergraben begann er kräftig zu ziehen und zu zerren.
Es dauerte lange. Sogar sehr, sehr lange, bis Samson den ganzen Weg zurück ins Stadtzentrum hinter sich gebracht hatte. Zwischenzeitlich hatte es wieder begonnen zu schneien. Auf der dünnen, weißen Schicht ließ sich die schwere Tasche besser ziehen als auf den steinigen Straßen. Unterwegs hatte er einige Straßenkinder verbellen müssen, die ihm den Schatz abnehmen wollten. Auch eine Gruppe Straßenkatzen schien ihn als Ziel für einige Späße auserkoren zu haben. Gerade, als ihm die Katzen erneut lachend am Schlappohr zogen und in den Schwanz zwickten, tauchten zwei von Samsons Artgenossen aus einer Seitengasse auf. Mit ihrer Hilfe gelang es, die Katzen zu vertreiben. Seine Retter stellten sich ihm als Rusty und Sky vor. Als er ihnen berichtete, dass er mit dieser Tasche sein Herrchen retten würde, boten die beiden ihm Geleitschutz an. Dankend ging er auf das Angebot ein.
Immer mühsamer zerrte der kleine Hund die Tasche über die belebten Straßen von Southampton. Mit jedem zurückgelegten Meter erschien sie ihm schwerer. Doch er lehnte jedes Hilfsangebot von Rusty und Sky ab. Diese Tasche war seine Aufgabe. Er allein musste sie ans Ziel bringen.
Die Sonne sank bereits hinter den Dächern und qualmenden Schornsteinen, als Samson endlich die Tür des Metzgers erreichte. Hier war er richtig. Dem Metzger gehörte das Geld schließlich. Wenn er sein Eigentum zurückerhalten hatte, so glaubte Samson, dann gab es für die Polizei auch keinen Grund mehr, Ferdinand weiter einzusperren.
Doch die Ladentür war verschlossen, das Licht dahinter erloschen. Lediglich eine schummrige Gaslaterne an der Ecke warf ihre langen Schatten über die verlassene Straße.
Samson kratzte jaulend am Holz, doch nichts geschah. Er bellte und wartete ab. Niemand reagierte. Also musste er sich eindringlicher bemerkbar machen.
Er bat Rusty und Sky, ihn bei einem Konzert zu unterstützen. Begeistert stimmten die beiden in seinen Gesang ein. Wie drei Operntenöre standen sie auf den Kopfsteinen vor der Metzgerei und sangen aus vollem Hals. Lichter flammten hinter den umliegenden Fenstern auf. Stimmen wurden laut, verlangten nach Ruhe, drohten den Störenfrieden gar mit Schlägen und Tritten. Die drei ließen sich jedoch nicht einschüchtern und sangen und heulten voller Inbrunst und Leidenschaft weiter. Es war ein tragisches, kummervolles Lied, das ohne Worte auskam. Allein seine Melodie berichtete von Hunger und Leid, von eisiger Kälte und dem täglichen Kampf auf der Straße. In den umliegenden Gassen stimmten weitere Hunde mit ein und schon bald erklang das Lied im ganzen Viertel.
Neben Samson platschte der stinkende Inhalt eines Nachttopfes auf das Pflaster. Ein Stein folgte, traf glücklicherweise niemanden. Die Rufe und Schreie hinter den Fenstern wurden lauter, verlangten nun nach der Polizei. Irgendwo, ein paar Straßen weiter, antworteten die ersten Trillerpfeifen.
Und endlich öffnete sich auch ein Fenster oben im Haus des Metzgers.
»RUHE VERDAMMT! VERSCHWINDET, ODER ICH ZIEH EUCH DAS FELL ÜBER DIE OHREN!«, brüllte Mr Bigsby mit zornrotem Kopf. In seiner Hand funkelte eine riesige Klinge.
Die drei Hunde verstummten.
»Na bitte, geht doch!«, rief der Metzger. »Ich dachte schon, ich müsste ...«
Er unterbrach sich, als er die dreckige, lederne Tasche neben Samson erblickte. Seine Augen wurden groß wie Untertassen, rasch verschwand er wieder im Inneren des Hauses.
»Ich glaube, er kommt jetzt runter«, flüsterte Samson zu Rusty und Sky. »Lassen wir ihn an die Tasche.«
Langsam wich der kleine Hund einige Schritte zurück, bis er plötzlich gegen etwas Hartes stieß. Erschrocken fiepte er auf und fuhr herum. Genagelte, schwere Lederschuhe.
»JA IST ES DENN DIE MÖGLICHKEIT?«
Eine kräftige Hand packte Samson am Nackenfell und riss ihn in die Höhe. Erschrocken blickte der Hund in die müden Augen eines Bobbys. Augen, die über einem gewaltigen Schnauzbart zu schweben schienen. Die Augen von Constable Norwax. Der gleiche Mann, der schon Ferdinand eingesperrt hatte.
Rusty und Sky gingen links und rechts des Polizisten in Angriffsshaltung. Knurrend bleckten sie die Zähne. Sie würden den Mann notfalls so lange in die Beine und den Po zwicken, bis er Samson wieder runterließ.
Der Constable tastete bereits nach seinem Schlagstock, da bemerkte Samson im Augenwinkel eine Bewegung.
»Wartet, Jungs«, rief er zu seinen zwei Freunden.
Mit einer Kerze in der Hand kam Mr Bigsby durch den Laden auf die Tür zu. Als er sah, wie Samson im Griff des Constables zappelte, rief er dem Polizisten forsch ein »Hey! Warten sie!«, entgegen.
Lediglich mit einem Nachtgewand bekleidet stolperte der Metzger barfuß in die Gasse. Vor der Ledertasche kniete er sich hin. Er öffnete den Verschluss und stieß ein Keuchen aus, das Samson entfernt an eine Dampfmaschine erinnerte. Mit zittrigen Fingern zog der Metzger eine goldene Münze hervor. Tränen flossen ihm über das Gesicht.
»Ich hab sie wieder. Meine Münzen. Meine wertvollen Münzen.«
Immer wieder griff er in die Tasche, hob staunend eine Handvoll des glitzernden Metalls empor und ließ es wieder klimpernd fallen.
Nach einiger Zeit erlangte er seine Fassung zurück. Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und fuhr den verblüfften Constable barsch an: »Jetzt lassen Sie doch endlich den armen Hund wieder runter.«
»Wie jetzt? Aber was...?« Constable Norwax schien mit der Situation vollkommen überfordert.
»Dieser wunderbare Hund hat mir meine verlorenen Münzen zurückgebracht, Sie Straßensheriff. Also behandeln Sie ihn mit dem gebührenden Respekt!«, fuhr der Metzger den Bobby an.
Verblüfft setzte der Polizist Samson auf den Boden. Der kleine Hund lief zum knienden Metzger und leckte ihm dankend über das Gesicht.
»Bäääh, ist ja gut«, lachte dieser und schob das Tier zurück.
Von oben erklang die Stimme von Mrs Bigsby: »Hamish? Was ist denn da unten los?«
Der Metzger sah auf. »Marry, komm schnell runter, das glaubst du nie!«
Sekunden später stand auch die Metzgersfrau auf der Straße und starrte verblüfft auf die Tasche.
Mr Bigsby deutete auf Samson. »Ich glaube, er hat sie uns zurückgebracht.«
Die Frau betrachtete den schlammbespritzten, kleinen Hund mit dem lustigen Knickohr genauer. Samson sah die Erkenntnis in ihren Augen aufblitzen.
»Du bist doch das Tier von diesem Jungen«, sagte sie, »der Junge mit der Münze. Samson, heißt du, oder?«
Samson buffte ein Mal zustimmend. Die Frau lachte entzückt auf.
»Na, was ist denn jetzt mit diesem lauten Kläffer hier?«, verlangte der Constable zu erfahren. »Meine Schicht ist gleich vorbei. Und irgendjemand muss schließlich noch für diese Ruhestörung verhaftet werden.«
Der Metzger sah ihn entschlossen an. »Sie warten jetzt gefälligst, bis wir das geklärt haben.«
»Ich weiß noch etwas viel Besseres«, sagte Mrs Bigsby, »er soll uns den Jungen herbringen, den er vorhin mitgenommen hat. Offensichtlich haben wir unsere Münzen ja zurück und es gibt keinen Grund mehr, ihn gefangen zu halten. Sobald der Junge hier ist, klärt sich bestimmt alles auf.«
Es dauerte keine zehn Minuten, dann führte der Constable - flankiert von Rusty und Sky - Ferdinand zurück zur Metzgerei. Samson hatte währenddessen die Tasche bewacht, damit sie nicht erneut gestohlen werden konnte. Für diese Mühe bekam er von Mrs Bigsby eine ganze Blutwurst überreicht. Und auch die anderen beiden Hunde vergaß sie nicht. Sie bekamen zwei saftige Knochen aus dem Laden geschenkt. Glücklich kauend verschwanden Rusty und Sky in den Schatten.
Samson dagegen sprang Ferdinand jaulend und hechelnd an. Minutenlang kugelten die beiden in ihrer Wiedersehensfreude über den nassen und kalten Boden. Letztlich war es Mrs Bigsby, die sie trennte. Sie legte Ferdinand eine warme Decke um die zitternden Schultern und führte ihn in das beheizte Haus. Die anderen folgten ihnen. Dort bekamen alle eine warme Tasse Kakao und ein Stück Plum Pudding serviert, selbst der brummige Constable wurde nicht vergessen. Ferdinand und Samson durften danach noch so viele Zimtsterne und Schokoladenkekse essen, wie sie nur wollten.
Gemeinsam mit Ferdinands Unterstützung erfuhren der Polizist und das Metzgerpaar nun die ganze, unglaubliche Geschichte von Samsons Abenteuer. Auf die spätere Frage, ob er auf seinem Weg von der Universität dann weiter Richtung Osten gelaufen wäre, bellte Samson ein Mal.
»Dort liegt der Riverside Park«, sagte der Constable.
Samson bellte zustimmend.
»Der Mann, der mir diese Münze gegeben hat, hatte überall klebrigen Schlamm an den Schuhen«, berichtete Ferdinand den anderen. »Der könnte genau von dort stammen. Und Sägemehl war auch dabei.«
Der Polizist horchte auf. »Sägemehl? Unten am Itchen steht doch die alte Holzmühle.«
Samson hechelte aufgeregt.
Mrs Bigsby sah den Hund fragend an. »War die Tasche etwa dort in der Mühle versteckt?«
Samson buffte bestätigend. Alle sahen ihn verblüfft an.
Ferdinand streichelte seinen Hund. »Das hast du gut gemacht!«
»Dann werde ich dort morgen mal nach dem Rechten sehen müssen«, sagte der Constable. Er strich seine Uniform glatt, verabschiedete sich steif und verließ das Haus.
»Und wir sollten langsam auch zurück nach Hause«, sagte Ferdinand zu Samson. »Danke Mrs Bigsby, Mr Bigsby für den Kakao und das tolle Essen und die Kekse. Danke für Ihre Freundlichkeit und auch Danke dafür, dass wir uns hier bei Ihnen aufwärmen durften. Ich hatte fast vergessen, wie es sich anfühlt, wenn man nicht mehr friert.«
Er machte ebenfalls Anstalten zu gehen, doch Mrs Bigsby hielt ihn an der Schulter fest. »Warte doch bitte mal kurz.«
Das Metzgerspaar tauschte stumm einige Blicke. Samson glaubte, die Gedanken zwischen den beiden fast umherflitzen zu sehen. Dann nickte Mr Bigsby ergeben.
Er blickte lächelnd auf Ferdinand und Samson. »Wir würden uns freuen, wenn ihr beiden hierbleibt. Mrs Bigsby und ich haben uns schon immer ein Kind gewünscht, müsst ihr wissen. Leider hatte der Storch wohl zu viel Angst, sich in eine Metzgerei zu wagen.«
Er lachte über seinen Witz und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Mrs Bigsby ergriff das Wort. »Ihr seid hier bei uns von Herzen willkommen. Ein Junge, der sich liebevoll um seinen Hund kümmert, ja selbst sein Letztes freundschaftlich mit diesem teilt, der kann kein schlechter Mensch sein. So jemand ist hier bei uns immer willkommen. Und einen Hund, der die Münzsammlung von Mr Bigsby bewacht, können wir ebenfalls gut gebrauchen.«
Samson hob den Kopf und blickte sich wachsam um. Alle lachten.
Ferdinand spürte plötzlich etwas Feuchtes über seine Wange laufen. »Kann das denn wahr sein?«
Mrs Bigsby nickte, zog ihn heran und schloss den Jungen wortlos in ihre Arme. Mit einem Ärmel wischte sie ihm die Tränen aus dem Gesicht. Da trat auch Mr Bigsby neben sie und strich Ferdinand liebevoll über den Kopf.
So kam es, dass der Schuhputzerjunge Ferdinand und seine kleine Bulldogge Samson am Vorabend zu Weihnachten eine neue, liebevolle Familie und ein warmes Heim fanden.
Der Münzdieb samt seiner drei Spießgesellen wurde tags darauf von der Polizei verhaftet. Die Räuber fanden ebenfalls ein neues Heim – im örtlichen Zuchthaus. Im Schuppen der alten Mühle und der näheren Umgebung entdeckten die Beamten mehrere, teils wertvolle Antiquitäten, silbernes Essbesteck und teure Taschenuhren. Samson durfte anschließend mit seiner unfehlbaren Nase helfen, die jeweiligen Besitzer aufzuspüren. Am Ende bekam er dafür sogar einen Orden vom Bürgermeister überreicht. Doch dies ist eine andere Geschichte, für wärmere Tage.
~ENDE~