Irgendwann rollten sie doch voneinander herunter.
Nicht sonderlich viel beruhigter, aber doch eingelullt durch die liebkosenden Zärtlichkeiten Antons, sah Felix seinem Partner dabei zu, wie er so im Hausflur Richtung Bad verschwand. Es schmerzte ihn, wie gut dieser sich hier auskannte. Als sei es eine Art zweites Zuhause, als fühle er sich pudelwohl, sei es das Normalste der Welt für ihn, nach einer durchzechten Nacht verkatert und sichtlich derangiert hier herumzugeistern.
Nur der Blondschopf fühlte sich so elendig fehl am Platz, ganz fünftes Rad am Wagen, nicht gewollt, schien es, als stünde er sperrig und stets im Weg herum.
Vielleicht ein Gedankenfehler, eventuell ein dummer Streich, den seine Befürchtungen ihm spielten. Aber alle Beteuerungen Antons konnten diesen Knoten in seinem schmerzenden Bauch nicht lösen und so verkrallten sich seine Finger doch wieder fest in das zarte Fleisch, hinterließen nicht die erste Spur dunkler Halbmonde, während Felix sich doch beinahe sicher war, dass sein Partner ihm noch immer etwas verschwieg.
Erst, als er Schritte auf dem Teppich tapsen hörte, kehrte der junge Künstler gedanklich wieder in das Hier und Jetzt zurück, schlug die dunklen Augen auf, um gerade noch einen Blick auf einen schlanken Hünen zu erhaschen, der zielstrebig die Kaffeemaschine ansteuerte.
So im verdächtig kurzen kanariengelben Bademantel und Flip Flops an den Füßen, sah Thore erstaunlich weniger bedrohlich aus, wenn auch noch immer erschreckend exzentrisch.
"Morgen", grummelte der Unternehmer allerdings so kontrastreich zu seiner farbenprächtigen Aufmachung, dass Felix einfach ein Auflachen entschlüpfte.
Mit erhobenen Brauen schlürfte der andere blonde Mann seinen Kaffee aus einer mit orientalischen Ornamenten verzierten Tasse. "Was ist so witzig?"
"Nichts", eilte sich der Maler mit roten Wangen zu versichern.
Wieder brummelte Thore vor sich hin, trottete dann zu ihm herüber, um sich schwerfällig auf den Sessel in seiner Nähe plumpsen zu lassen. Ein Bein unter den Hintern geschoben, klemmte er sich ein Kissen unter die Arme und starrte dann mit müden Augen vor sich hin.
"Wolltest du auch Kaffee?", murmelte Thore nach guten fünf Minuten.
"Ähm, gern?", meinte Felix unsicher.
"Dann mach dir welchen, ich bin ja hier nicht die Kinderdame."
Oha, okay, der Herr war also kein Morgenmensch. Irgendwie fand der Jungkünstler diese Seite an Thore ungemein sympathisch, denn sie wirkte so entglorifizierend auf ihn, war es doch so, dass er ihn immer als perfektere, bessere Version eines blonden und erfolgreichen Mannes mit etwas fragwürdigem Klamottengeschmack gesehen hatte. Sprich, ein Update seiner selbst. Weniger Macken, dafür mehr Erfahrung und Selbständigkeit. Nun zu sehen, dass Thore ebenfalls kleine Makel aufwies, machte Felix irgendwie entspannter. Ein bisschen zumindest, er wollte es da nun auch nicht übertreiben. Mit den Händen über seinen verkrampften Bauch streichend, sah er sich verstohlen im Wohnbereich um, kam nicht umhin die doch eher modern in cremigen Tönen gehaltene Einrichtung zu bemerken, die so gar nicht zum Hausherren per sé passen wollte, schon gar nicht zu Anton, der dann ja eher der rustikale Typ Mensch war.
"Also keinen Kaffee", nahm Thore die irgendwie im Sande verlaufene Unterhaltung wieder auf, stellte jedoch keine direkte Frage, ließ es hingegen wie eine Feststellung klingen, die Felix sichtlich irritierte.
"Was?", entschlüpfte es ihm daher unverständig, "i-ich - hm - also hätte schon gern welchen. Aber du must mir keinen machen, ehrlich, ich will dir nicht zur Last fallen und eigentlich kann ich mir ja auch selber einen machen. Nur- hm - also - k-kenne ich mich mit deinem Vollautomaten jetzt auch nicht aus, daher müsstest du dann doch - was auch doof ist, daher - hm - also - ich bekomme das sonst sicher selber raus -"
"Meine Güte, das ist ja, als würde man sich mit dir im Kreis unterhalten", stöhnte der Unternehmer in seine Tasse.
Erschrocken sah der Jungkünstler ihn an, traf es ihn doch bis ins Mark diese Worte so unverblümt ins Gesicht gesagt zu bekommen. Verlegen kratze er sich an der Stirn, verzog die Mundwinkel, richtete die kleinen geschnitzten Figürchen auf dem Couchtisch neu aus. Moment ... waren das -? Hatte die-?
"Sind die von Toni?", fragte Felix verblüffte einen kleinen aus Sauerkirschholz gefertigten Smiley mit breitem Grinsen und einer Hand, die das Victory-Zeichen präsentierte zwischen den Fingern drehend.
Schmunzelnd schlürfte Thore noch einen Schluck aus seiner Tasse, bevor er sich entspannt in seinem Sessel zurücklehnte, den jüngeren Blonden dabei betrachtete, wie er die Arbeit seines Partners - denn anders konnte es gar nicht sein - studierte, die zwar noch immer sehr schön, doch ganz offensichtlich noch nicht ausgereift schien.
"Mhm", bestätigte Thore, "er hat mir das geschnitzt, kurz bevor er zum ersten Mal an einem Wettbewerb teilgenommen hat. Da muss er so vierzehn gewesen sein."
Den Kopf schiefgelegt, linste Felix aus seinen tiefbraunen Augen zu dem anderen Mann hinüber, wanderte mit seinem Blick dann zu den anderen Figuren, die eine Einheit bildeten. Zwei Hände, die ein Herz umfassten. Nichts Außergewöhnliches, wenn man die Akkuratesse der ausgearbeiteten Fingerglieder und Handfalten nicht bedachte.
Doch das Herz. Es verschlug Felix den Atem. Als sei es einst zerrissen und dann mühevoll wieder zusammengesetzt worden, verband es sich aus Fetzen, die mit Nähten zusammengehalten wie eine Patchworkdecke erneut einen einzigen Flicken ergaben und doch die Narben erkennbar blieben, die das Leben geschlagen hatte. Aber die Hände, schützten dieses geschundene Herz. Scheu sah Felix wieder zurück zu Thore, der ihn mit weichem Blick weiter beobachtete.
"Steckt eine Geschichte dahinter?", wagte der junge Maler sich zu fragen, interessierte es ihn dann doch, was sich Anton damals als Jugendlicher bei diesen Schnitzereien gedacht haben mochte, waren sie schließlich für jemanden gefertigt worden, der ihm zu dieser Zeit die Welt bedeutet hatte, heute noch der Stützpfeiler in schwierigen Zeiten zu sein schien.
"Ich dachte immer, es sind reine Anspielungen auf meinen Nachnamen", gab Thore schulterzuckend zu, die Mundwinkel leicht gehoben.
"Das verstehe ich nicht", maulte Felix beinahe, hasste er es doch, der Erkenntnis verwehrt zu bleiben, "du heißt ja jetzt nicht 'Grinsebacke-HerzinHänden', oder doch?"
Schnaufend prustete Thore ein wenig Kaffee über das Kissen auf seinem Schoß, wischte sich dann leise lachend das Kinn ab, während er kopfschüttelnd die Augen rollte. Ob Anton diese hinreißend nervtötende Angewohnheit von diesem Mann hier im kanariengelben Bademantel abgeschaut hatte?
"Nee", gab Thore feixend zu, "aber Wohlgemuth-Bleibtreu."
Sprachlos starrte Felix zurück, konnte es doch nicht fassen, was einige Eltern ihren Kindern antun konnten. Das war doch Körperverletzung, war das überhaupt erlaubt?!
"Das ist ein Scherz", entkam es dem Maler ungefiltert, "so heißt man doch nicht! Es sei denn, man ist eine Comicfigur."
Bestürzt schlug er sich die Hand auf den Mund, nachdem ihm bewusst wurde, was er soeben von sich gegeben hatte. Doch zu seiner Erleichterung, schien sein gegenüber ihm nicht böse, blieb das Gesicht Thores doch weiterhin offen.
"Du meintest, dass du es am Anfang allein auf deinen Nachnamen bezogen hast", traute sich Felix schließlich doch wieder an das Thema heran, "jetzt denkst du, steckt mehr dahinter?"
Wieder zuckte der Unternehmer mit den Schultern, suchte mit den Blicken kurz den Raum ab, den Flur, es war, als horche er, ob die Dusche noch liefe.
"Ich weiß nicht, wie viel dir Anton über seine Jugend erzählt hat", begann Thore und Felix fiel auf, dass der Unternehmer es vermied, seinen Partner bei diesem grauenvollen Spitznamen zu nennen, "aber er hatte es nicht leicht. Seine Eltern waren und sind kontrollsüchtige, kaltherzige Menschen, denen das Ansehen mehr bedeutet, als das Wohl von ihrem Sohn."
"Ihres Sohnes", verbesserte Felix automatisch, biss sich sogleich verlegen auf die Unterlippe, war jetzt doch nicht der Zeitpunkt für Spitzfindigkeiten, schaffte es aber einfach nicht, dem Drang Einhalt zu gebieten.
"Danke für den Hinweis", murrte Thore leicht angesäuert, fuhr aber dennoch fort, "wie dem auch sei, ist Anton eben jemand, der es allen versucht, recht zu machen und dabei nicht sonderlich freundlich zu sich selbst ist. Er braucht jemanden, der ihn in dieser Sache auffangen kann. Und - bitte versteh das jetzt nicht falsch, Felix - ich glaube, dass vermisse ich ein wenig in eurer Beziehung. Es sieht so aus, als würde er sich die ganze Zeit verbiegen, um es dir möglichst leicht zu machen."
Mutlos sackte der Jungkünstler auf der Couch zusammen, zog ein Bein an und umschlang es mit seinen Armen. Schwer lag ihm das Gesagte im Magen, drückte unangenehm in seinem Bauch, verursachte ihm einen dumpfen Schmerz bis hin zu einer latenten Übelkeit. Die Tasse wanderte auf den Couchtisch, dann sah Thore ihn mit seinen funkelnden Augen an.
"Wie gesagt, bitte verstehe das jetzt nicht falsch. Ich habe Anton auch schon lange nicht mehr so tatenlustig gesehen. Oder so zufrieden mit seinem Körper. Nach der letzten Spendengala ist einiges aus den Fugen geraten und er hat sich abgeschottet, hat sich nicht mehr gemeldet. Fast ein Jahr lang habe ich nichts mehr von ihm gehört und ich habe ihn unglaublich vermisst. Als er mich angerufen hat, vor einigen Wochen, und mir gesagt hat, dass er verliebt ist, da hat er so glücklich geklungen, wie noch nie zuvor in seinem Leben."
Unwillkürlich wanderte Felix' Hand hinauf zu seinem Schlüsselbein, fand dort zu seinem Bedauern nicht, wonach er suchte.
Mit heißen Wangen saß er da, ließ sich das Gespräch durch den Kopf gehen, wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Freute sich über die Informationen zu Antons Liebe, quälte sich mit dem Gedanken, für sein immerwährendes Leid verantwortlich zu sein. Er vermisste ihn. Vermisste Anton so schmerzlich, es schien, als müsse ihm das Herz vor Kummer zerspringen. Dem Blondschopf wurde bewusst, wie lange sie in den letzten Wochen einfach aneinander vorbei gelebt hatten, wie wenig er auf die Bedürfnisse des Bildhauers eingegangen war - sie nicht einmal gehört hatte - sich so sehr in seinen eigenen Problemen verstrickt, dass alles, was sie sich gemeinsam aufgebaut hatten, plötzlich keinen Widerstand mehr hatte leisten können gegen all die Irrungen und Wirrungen, die sich in sein Herz geschlichen hatten, die Zweifel, die sich in seinem Inneren festgesetzt und dort Wut, Frust und Unverständnis hatten keimen lassen. Sie beide hatten gelitten und das war ganz allein seine Schuld.
Traurig erhob sich Felix von den Polstern, schlurfte hinüber in die Küche und packte seine Brieftasche, die jemand ihm gestern noch geistesgegenwärtig aus der Hosentasche gezogen hatte. Wie hypnotisiert sah er dem Wasser dabei zu, wie es aus dem Hahn in das hohe Glas lief, befeuchtet sich nervös die Lippen, als er anschließend zwei Blister aus dem hinteren Fach der Brieftasche klaubte. Die Schlaftabletten waren beinahe aufgebraucht, nutzte er sie doch immerhin an wirklich schlimmen Tagen, um zumindest einigermaßen zur Ruhe zu kommen. Doch das Fluoxetin ... der unangetastete Blister schien ihn zu verhöhnen.
Energisch drückte Felix eine der Tabletten heraus, schnaufte tief durch, legte sich die Medizin auf die Zunge und spülte in großen Schlucken nach. Paralysiert stand er im Anschluss da. Vollbracht, er hatte es getan. Zittrig suchte er halt an der Kante der Arbeitsfläche, es war, als würde sich der Raum um ihn herum drehen.
"Ich bin so stolz auf dich, Jeger", erklang diese wundervoll warme Stimme von etwas weiter fort, erdete ihn, spülte die alles zerfressende Angst aus seinen Adern.
Schniefend drehte der Maler sich herum, erblickte Anton im Türrahmen zum Wohnbereich lehnend, die Arme verschränkt über dem bloßen Oberkörper, die Haare dunkel und noch feucht von der Dusche. Das Gesicht des Bildhauers schien zu strahlen, obwohl er nicht wirklich lächelte. Aber es versprach Hoffnung - auf eine weitere gemeinsame Zukunft, wenn sie es auch erneut aufbauen mussten, das Vertrauen und die gegenseitige Sicherheit.