Im trüben Dämmerlicht fuhr Vettel Knorz im Bett hoch.
"Verdammich, Zapperlot und Hühnerschiss", spuckte sie in die leere Hütte. Ächzend erhob sie sich. Kein Tee heute, sie brauchte mehr Zeit und musste die rechte Gelegenheit finden.
"Stecken, zu mir, führe mich!" Der Stab flog gehorsam in ihre Hand. Sie machte sich sofort auf den Weg.
Da sie vom Waldrand aus keinen Torwächter sehen konnte, trat Vettel Knorz vorsichtig und mit respektvollem Abstand vor das kleine Fenster. Der Mann, der sich im Torhaus versteckt hielt, war tatsächlich um einiges größer, als die schlotternde Heuschrecke vom Vortag, aber es war nicht der Berserker aus ihrem Traum, sondern der Bäckergeselle.
"Einen schönen Guten Morgen wünsche ich", schnarrte sie zu ihm hinein.
Anstelle einer Antwort, hob der pummelige Mann ein Horn an die Lippen und bließ Alarm.
"E-e-e-entschuldigung", stammelte er, als er fertig getrötet hatte.
"Da soll dich doch der Blitz beim Kacken treffen." Bevor sie weiterfluchen konnte, krachte der schwere Eichenholzladen von innen vor das Fenster.
Resigniert ging die alte Hexe weiter. Wie sie erwartet hatte, war der Markt leergefegt. Selbst den armen Tropf vom Pranger hatte man fortgebracht. So blieb ihr nur, in den Dorfkrug einzukehren.
Sie betrat die Schenke und die wenigen Gäste verstummten. Offenbar fürchteten sie, sie könnten den Unmut der Hexe erregen, sollten sie ein falsches Wort sagen.
Nach einem kurzen Blick in die überschaubare Runde der örtlichen Saufkumpane, suchte sie sich einen Platz an einem der leeren Tische.
"Heda Wirt, bring mir einen Tee und mach ihn schön stark", polterte Vettel Knorz, noch immer verstimmt, in Richtung des hinter der Bar erstarrten Mannes. Sein Entsetzen löste sich und er tat, wie sie ihm geheißen hatte. Zeitgleich klimperten ein paar kleinere Münzen auf die besetzten Tische. Die Trinker hatten beschlossen für heute genug getrunken zu haben und verließen stumm und blass die Gaststube. Alle entkamen unter den forschenden Blicken der Hexe. Wahrscheinlich hofften sie lediglich, ungeschoren davonzukommen, dabei grübelte Vettel Knorz, ob sie einem von ihnen jemals etwas getan hatte, dass sich lohnen würde, es rückgängig zu machen.
Es polterte. Der letzte verbliebene Trinker war ohnmächtig vom Stuhl gefallen. Er hatte wohl vor lauter Angst vergessen zu atmen. Die Hexe erhob sich und hinkte zu dem Bewusstlosen hinüber. Eben kam der Wirt mit dem Tee hinter der Bar hervor und blieb erneut wie angewurzelt stehen. "Sie werden ihm doch nichts tun?"
"Nein, nein, er ist nur vom Stuhl gefallen, hat wohl etwas schwache Nerven der Gute. Bring ihm doch mal ein Glas Wasser."
Den Wirt erschütterte diese unerwartete Freundlichkeit wohl noch mehr, als ihr ein Eintreten zuvor. Wie vom Donner gerührt erstarrte er erneut und lief rot an.
"He du wirst doch jetzt nicht auch noch umfallen. Na mach schon, hol Wasser."
Flugs stellte der Wirt den Tee auf ihren Tisch und verschwand um Wasser zu holen. Er war schnell zurück und schickte sich an, dem am Boden Liegenden etwas davon einzuflößen.
"Nicht doch. So wird das nie was. Komm her." Zögernd schritt der Wirt mit ausgestrecktem Arm auf die Hexe zu. Grinsend legte sie einen Finger an das Glas und flüsterte etwas. Das Wasser kühlte schnell herunter, bis kleine Eisstückchen darin schwammen. Mit großen Augen verfolgte der Wirt den Vorgang. Er rührte sich kein Stück, starrte nur in das Glas.
"So und jetzt rein damit in die Visage."
Kurz wusste er nicht, was sie von ihm wollte, doch dann dämmerte Erinnerung in seinem Gesicht. Mit zwei Schritten war er bei dem Bewusstlosen und schüttete ihm schwungvoll das eiskalte Wasser ins Gesicht. Prustend kam der Trinker zu sich, sah die alte Hexe, die ihn belustigt von ihrem Platz aus angrinste und verfiel sofort in Schreien und Flucht. Beinahe wäre er gegen die Tür geknallt, schaffte es aber im letzten Moment doch noch die Türklinke zu finden und war schon hinaus.
"So Herr Wirt, da bleiben wir Zwei." Dem Wirt wurde schlagartig klar in welcher Lage er nun war und die Farbe wich aus seinem Gesicht.
"Na na na, wer wird denn gleich blass werden, wie ein nacktes Huhn. Ich danke, Herr Wirt, für den kleinen Spaß. Das hat meine Laune erheblich verbessert."
Sie nippte an dem Tee. "Hmm, der ist gut. Was ist das für welcher?", fragte die Hexe. "Schwarztee, importiert", antwortete der Wirt jetzt etwas entspannter. "Oho, importiert." Sie nickte anerkennend. Vettel Knorz drehte sich zu ihrem Tisch um und wog ab, welche Möglichkeiten ihr blieben. Grimmwinkel war gewarnt. Alle hatten sich in ihren Häusern verschanzt und würden die Nasen nicht aus den Türen stecken, bevor sie die Entwarnung vom Torwächter erhielten. Sollte sie nun wieder in den Wald ziehen und sich ihrem Schicksal ergeben? Der Traum kam ihr wieder in den Sinn. Nein, ihr Beschluss stand fest. Sie musste tun, was in ihrer Macht stand, um diesem Schicksal zu entfliehen. Doch man machte es ihr nicht gerade leicht. Andererseits hatte sie den Leuten auch oft das Leben schwer gemacht. Das war nur fair.
Da kam ihr ein Gedanke.
"Heda Wirt." Sie drehte sich wieder zu ihm herum. Er stand noch immer am gleichen Fleck. Sie winkte ihn heran. "Setz dich mal kurz zu mir." Zögernd schüttelte der Wirt den Kopf, setzte sich aber trotzdem zu ihr an den Tisch.
"Ich hab Ihnen nichts getan, die Dame. Tun Sie mir auch nichts."
"Was habt ihr nur mit dieser Dame, sehe ich vielleicht aus, wie eine Dame? Ich will dir nichts tun, ich habe eine Frage."
"Gut." Er entspannte sich ein wenig.
"Gestern war ich auch schon mal in der Stadt", sagte sie.
"Hab ich gehört."
"Als ich die Runde um den Markt gedreht hatte, waren fast alle weg."
"Weiß ich, viele haben sich hier versteckt", warf er ein.
"Nun quatsch doch mal nicht immer dazwischen. Also: Da war eine Frau. Lange braune Haare, traurige Augen, zwei Lämmer hatte sie dabei. Du weißt nicht zufällig wer das war?"
Der Wirt zögerte. "Sie werden ihr doch nichts tun. Ihr gehts sowieso schon schlecht genug."
"Du kennst sie also? Wer ist sie und wo finde ich sie?", fragte Vettel Knorz.
Als der Wirt noch immer nicht antwortete setzte sie nach. "Meine Güte, nein, ich werde ihr nichts tun, ich will ihr helfen."
"Helfen?", Überraschung und Misstrauen mischten sich zu einer komischen Grimasse. Vettel Knorz verdrehte die Augen. "Helfen!", bestätigte sie.
"Hilfe könnte sie wirklich brauchen. Versprechen Sie, ihr nichts zuleide zu tun?"
"Ja doch ja, ich werde ihr kein Haar krümmen und jetzt raus damit."
"Nun gut", der Wirt bebte etwas im Widerstreit seiner Gefühle. "Es ist die Witwe Seliger. Sie wohnt auf einem kleinen Gehöft, am südlichen Ortsrand, gegenüber der Mühle."
"Danke Herr Wirt. Was bin ich schuldig?"
"Der Tee geht aufs Haus. Danke, dass Sie hier nichts und niemanden verhext haben." Vettel Knorz trank den heißen Tee schnell aus.
Das Haus der Witwe Seliger war schnell gefunden und auf dem Weg dorthin wurde sie auch nicht mit Unrat beworfen, obwohl sie in manchen Fenstern die Leute hinter den Gardinen stehen sehen konnte. Sie machte sich einen Spaß daraus einigen von ihnen zu winken und genoss es, wie die Leute tiefer in die Häuser flüchteten, wenn sie das tat.
Angekommen klopfte sie mit ihrem Stock an die Haustür.
Die Witwe Seliger öffnete und stockte kurz beim Anblick der Hexe, aber sie lief nicht vor ihr davon, schrie nicht und schien auch nicht in Panik erstarrt zu sein. "Guten Tag", sagte die blasse Frau. "Nun ist es also soweit, dass auch mich mein Schicksal ereilt."
"Hallo", antwortete Vettel Knorz. "Keine Angst, ich will dir nichts tun, mein Kind. Im Gegenteil, es ist meine Absicht dir zu helfen. Wie ist dein Name?"
Überraschung belebte das bislang ausdruckslose Gesicht der Frau.
"Mein Name ist Helene. Wie wollen Sie mir helfen? Sind Sie nicht die, die allen immer nur Böses will? Sind Sie nicht..."
"Nenn mich Knorz, Helene, so wie es alle tun. Denk nicht, ich wüsste das nicht. Ich habe Augen und Ohren überall, naja fast und bin mir meiner Erscheinung wohl bewusst. Den Namen fand ich immer passend."
"Knorz also. Es wundert mich, dass Sie mir helfen wollen, das würde ich von Ihnen nicht erwarten. Man hört die Leute nicht eben von Ihren Wohltaten reden."
Vettel Knorz grinste und war für einen Moment etwas gedankenverloren, besann sich aber schnell wieder ihres Ziels.
"Nein, da magst du Recht haben. Dennoch bin ich hier um dir Gutes zu tun, wenn es sich einrichten lässt. Ich habe meine Gründe. Setzen wir uns kurz, damit du mir erzählen kannst, was dir auf der Seele liegt. Die alten Knochen mögen das Stehen und Gehen nicht mehr."
Helene bedeutete der Hexe an einem groben Tisch auf dem Hof platzzunehmen.
"Helene, sag mir, was ich dir getan habe", forderte Vettel Knorz sie auf, als Beide saßen. "Was habe ich getan, dass es dir so elend geht?"
"Aber Sie haben mir nichts getan Knorz." Jetzt war es an der Hexe verwundert zu sein.
"So? Aber was ist es dann?"
"Übers Jahr ging mein Mann in den Wald um Holz zu schlagen. Er war Holzfäller und gewöhnlich mit etlichen anderen Männern bei der Arbeit, aber an diesem Tag war er allein. Die Anderen wollten den Wald nicht betreten. Sie hatten Befürchtungen, dass Sie, Knorz, ihnen etwas antun könnten, weil es am Tag zuvor ein seltsames Gewitter gegeben hatte und die Männer meinten, es könnte daran gelegen haben, dass Sie schlechte Laune hatten. Er kehrte nicht zurück. Man hat ihn inzwischen für tot erklärt. Seitdem musste ich den Hof mit meinem Sohn allein bewirtschaften. Er ist ein guter Junge und kräftig. Wir hielten uns einigermaßen über Wasser. Doch vor einem Monat ist er ausgezogen, um seinen Vater zu suchen. Er ist überzeugt ihn noch irgendwo in den Wäldern lebend zu finden. Nun stehe ich allein, solange der Junge durchs Land zieht und geblieben ist mir nicht viel. Zwei Lämmer habe ich noch. Die wollte ich gestern auf dem Markt verkaufen. Alle anderen Tiere sind im letzten Winter eingegangen oder wurden mir für einen Spottpreis vom Großbauern abgenommen."
"Ein seltsames Gewitter sagst du?" Die alte Hexe sann kurz über Helenes Worte nach. "Mag das im August gewesen sein, nach der langen Trockenheit?"
"Ja das war es. Mitten am Tag wurde der Himmel plötzlich rabenschwarz und ein Regen ging hernieder, dass der Bach ums dreifache Wasser führte. Dabei regte sich kein Lüftchen, obwohl man doch bei einem solchen Wetter einen schweren Sturm erwarten würde."
"Hm, ich erinnere mich. Tu mir einen Gefallen und beschreib mir deinen Mann, Helene."
"Er ist einen guten Kopf größer als ich. Sein Haar ist so schwarz wie Ruß und er trägt einen kurzen Bart, der ebenso schwarz ist. Aber seine Augen, die sind hell wie der Sonnenaufgang an einem klaren Wintertag voller Schnee." Vettel Knorz lächelte still und etwas bedauernd. Eine solche Liebe hatte sie in ihrem langen Leben nie erleben dürfen.
"Und dein Sohn, Helene, beschreibe mir auch deinen Sohn."
"Der Junge ist gerade vor zwei Monaten 15 Jahre alt geworden. Er hat meine braunen Haare, ist noch ein wenig kleiner als sein Vater, aber er wird uns sicherlich bald beide überragen. Seine Augen hat er von seinem Vater, von mir hat er das hier."
Helene Seliger entblößte ihren linken Unterarm. Dort prangte, unübersehbar, ein Muttermal in Form eines Vogels.
"Jede mir bekannte Generation unserer Linie trägt dieses Mal am Körper. Meine Großmutter hat einmal behauptet, es zeigt die Taube, die Noah einst ausschickte, um nach der Sintflut Land zu suchen. Mein Sohn trägt es hier", sie tippte an die linke Seite ihres Halses."
Vettel Knorz besah sich das Muttermal genau.
"Lass sehen, ob ich etwas für dich tun kann. Sei morgen hier, ich werde noch einmal wiederkommen. Und verkauf dem Gierschlund von Großbauern deine Lämmer nicht. Du würdest nicht bekommen, was sie wert sind."
Damit machte sich die Hexe wieder auf in den Wald. Sie ahnte nun, was sie tun konnte.
"Heda Wächter des Tores", rief sie als sie am Torhaus vorbeikam. "Kannst die Leute wieder rauslassen."
Niemand regte sich, doch sie verweilte auch nicht, um darauf zu warten. Wenn stimmte, was sie vermutete, hatte sie heute noch einiges an Arbeit vor sich.
Schon auf dem Weg rief Vettel Knorz einige Raben und gebot ihnen einen bestimmten Baum zu suchen. Eine dunkle Erle musste es sein. Irgendwo dort, wo der Bach in einem scharfen Bogen ihrer Hütte am nächsten kam. Noch bevor sie die Strecke zur Hälfte bewältigt hatte, erhielt sie Botschaft, von ihren geflügelten Spähern. Sie hatten den Baum gefunden.
Sie machte sich nicht die Mühe dorthin zu gehen, sondern ging direkt zu ihrer Hütte und ans Werk. Ein Trank musste her und zwar viel davon. Ein ganzer Kessel würde gerade reichen.
Selbst wenn die Grimmwinkler sich an diesem Tag nicht in ihren Häusern versteckt gehalten hätten, in den Wald wäre niemand gegangen. Unheilkündende Wolken übelriechender Substanzen erhoben sich dort, wo die Hütte der Hexe stand, wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Hexe mischte und braute und schlug sogar mehrmals in einem ihrer schweren, ledergebundenen Folianten nach, doch schließlich, kurz vor Sonnenuntergang hatte sie es geschafft.
Den Kessel auf einem kleinen Karren und mit dem Besen als Stütze zog sie zu der dunklen Erle. Dort angekommen tauchte sie den Besen immer wieder in den Kessel und bestrich den Baum mit dem üblen Gebräu. Dabei sang sie in fremder Sprache, so lange, bis der Sud vollständig verbraucht war. Eine kurze Stille kehrte ein, als würde der Wald den Atem anhalten.
"Dann schauen wir mal", sagte sie erleichtert. "Die Sonne wird uns lehren, wieviel Mann noch in dir ist."
Es war bereits mitten in der Nacht, als wiederum die bekannte Felsenstimme gemeinsam mit einem donnernden Klopfen an ihrer Tür Einlass verlangte.
"Nur herein Gevatter", feixte Vettel Korz, als sie dem Bleichen die Tür öffnete.
"Nun sag an, wie stehen meine Sterne."
"Du stehst noch immer am Scheideweg."
"Wie bitte? Hast du nicht gesehen, was ich getan habe? Ich werde der armen Frau ihren Mann zurückgeben. Noch steht er starr im Wald, doch ist schon alles getan, dass er morgen heimkehren kann. Der Frau hab ich doch geholfen, wenns recht ist."
"Ich sehe dein Bemühen, doch auch hier hast du ein Unrecht zugefügt, dass du nun wieder ungeschehen machst. Sei es auch nicht an ihr vollzogen, so ist sie doch ein Opfer deiner Taten und noch hat sie ihren Liebsten nicht wieder bei sich."
"So, ein Haarespalter ist der Schnitter also auch noch. Dir zu genügen ist nicht eben leicht Gevatter. Deine Hartherzigkeit bringt mich noch ins Grab", sie lachte krachend.
Der Tod wandte sich der Feuerstelle zu, um die kalten Knochen zu wärmen.
"Versuche mit dem Herzen zu sehen, nur so kannst erkennen, was zu tun ist."
Einen kurzen Moment herrschte Stille, es war nur das Knacken der Holzscheite im Feuer zu hören. Dann fuhr der Schwarzgewandete herum und heftete seinen Blick auf Vettel Knorz.
"Nur zu, frage! Mir ist bekannt, dass du etwas zu wissen begehrst."
"Sag mir Gevatter: Was ist mit ihrem Sohn? Hast du ihn schon hinübergeleitet?"
"Ja", grollte der Tod. "Er ging mit reinem Herzen, aber verzweifelt, weil er seiner Mutter nicht hatte helfen können."
Vettel Knorz schlug die Augen nieder. Sie hatte es befürchtet.
"Danke", sagte sie.
"Morgen werde ich dich wieder aufsuchen. Dir bleiben noch drei Tage."
Der Bleiche schickte sich an wieder in die Nacht zu entschwinden. Vettel Knorz hielt ihm nachdenklich die Türe auf und ließ ihn hinaus.