An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken, zu viel war noch zu schaffen. Als der Morgen graute, gönnte sie sich eine Pause, schürte das Feuer brühte einen starken Tee. Der Tag wollte auch noch geschafft werden. Am Tisch sitzend betrachtete sie ihr Werk.
Die Hütte war präpariert, doch sie würde Hilfe benötigen, damit alles den rechten Lauf nahm.
Sie befühlte das glatte, kühle Schmuckstück, dass sie in ihrer Schürze verstaut hatte. Was nun? Sie musste warten, bis Kunde von dem Jungen kam, doch sie war nicht gewillt so lange untätig zu sein.
Nachdem der Tee ausgetrunken war und noch ein paar Scheiben Brot mit Butter und Schinken ihren Magen füllten, verließ Vettel Knorz ihre Hütte. Holz musste gesammelt werden.
Es dauerte keine halbe Stunde, bis sich ausreichend Helfer gefunden hatten, die eifrig Äste und Zweige zusammentrugen. Derweil schaffte sie Platz in der Hütte. Einige einfache Zauber ließen die Regale an die hintere Wand rücken. Das Bett würde nicht mehr benötigt werden. Sie tippte es an und es stampfte gehorsam nach draußen, wo es sich selbst zerlegte und in die Holzstöße einsortierte. Die Schränke wurden an die seitlichen Wände versetzt. So wurden zwar die Fenster verdeckt, aber es entstand genügend Platz in der Mitte der Hütte.
Als Vettel Knorz den Kopf erneut zur Tür hinausstreckte, war sie erfreut, welch großen Berg ihre Helfer bereits zusammengetragen hatten.
"Genug ihr Lieben. Bringt mir noch einiges Reisig und zieht dann wieder eurer Wege." Da kam zwischen den Baumkronen einer ihrer schwarzgefiederten Kundschafter geflogen. Der Rabe brachte Vettel Knorz die Botschaft, dass die Schweine den Jungen ausgegraben hatten. "Gut", sagte die Hexe. "Ich danke dir." Sie strich dem Vogel über das schimmernde Federkleid. "Nun zieh auch du deiner Wege, doch sei so gut und krähe morgen vor Tagesanbruch so laut du nur kannst vor meiner Hütte." Damit ließ die Hexe den Vogel fliegen und machte sich auf den Weg zum Moor.
Die Schweine hatten ganze Arbeit geleistet. Das Moor war gänzlich umgegraben. Sie hatten den Körper des Jungen gefunden und freigelegt. Sogar einen Weg hinab zu ihm hatten die Borstentiere der alten Hexe bereitet. Da lag er nun vor ihr, ganz von schwarzem Schlamm bedeckt, die Kleider durchtränkt vom torfigen Wasser. Seine Augen waren geschlossen. Er sah friedlich aus, wie er dort lag, aber Vettel Knorz wusste, dass ihn seine gescheiterte Suche nach dem Vater noch immer umtrieb, auch wenn seine Seele nicht mehr in diesem Körper wohnte. Sie schöpfte etwas Wasser mit der Hand und wusch seinen Hals. Da war sie, die Taube. Nun war es sicher, dass sie den richtigen Jungen hatte. Vettel Knorz rief die Biber zusammen. Auf ihren pelzigen Rücken trugen sie den leblosen Körper hinter der Hexe her zum Bach. Gemeinsam wuschen sie ihn und seine Kleider. Mit einem Fingerzeig trieb Vettel Knorz Wasser und Schlamm aus seiner Lunge. Danach brachten sie ihn zur Hütte, wo er im weichen Gras abgelegt wurde. Die Hexe verabschiedete die Biber. Sie machte sich daran die Äste und Zweige nach ihrer Größe zu trennen und beförderte sie hinein. Dort wurden die Hölzer verflochten. Knarzend wanden sie sich ineinander. Die kleineren Zweige kamen hinzu und stabilisierten die beiden Liegen, die entstanden waren. Zum Schluss wurden noch die Lücken mit Reisig gefüllt. Als sie damit fertig war, ging die Hexe wieder hinaus zu dem Körper des Jungen. Die Sonne hatte seine Kleider inzwischen getrocknet. Mit einer ausladenden Geste ließ sie ihre Hände über ihm schweben und kurz darauf schwebte auch der Junge selbst. Sie dirigierte ihn in die Hütte, bettete ihn auf einer der Liegen. Dann griff sie in die Tasche ihrer Schürze und zog das Schmuckstück hervor, dass sie in der Nacht gefertigt hatte. Eine grobe Kette trug in einem großen Anhänger einen grünlich glimmenden Stein. Die Hexe legte dem Jungen die Kette um. Sie achtete sorgfältig darauf, das Schmuckstück vollständig unter seinen Kleidern zu verbergen. Langsam ging der Tag dem Abend entgegen. Es dauerte Vettel Knorz ein wenig, dass dies ihr letzter Tag sein würde, doch gleichzeitig ersehnte sie sein Ende, denn sie konnte es kaum erwarten ihren Plan aufgegangen zu wissen.
Alle Arbeit war nun getan. Bei einem heißen Tee ließ sich Vettel Knorz am Tisch nieder. Sie nahm Tinte und Papier zur Hand, um den letzten Brief ihres Lebens zu schreiben.
Soeben faltete die Hexe den Brief zusammen, als das bekannte, schwere Klopfen die Tür der Hütte erschütterte. Sie öffnete. Der Bleiche glitt in die Hütte, wie zuvor.
"Guten Abend Herr Gevatter." Er nickte ihr verhalten zu und die Hexe meinte ein Lächeln in den unbewegten Zügen zu erkennen.
"Wie ich sehe, hast du alles bereitet. Der Körper ist unversehrt?"
"Aber ja. All meine Helfer waren äußerst umsichtig mit ihm. Er ist gewaschen und wartet sehnsüchtig seine Seele zurück zu erhalten."
"Du bist dir sicher, dass du das tun willst? Dir bliebe noch ein ganzer Tag, den du mit Wonnen nach deinem Gutdünken füllen könntest."
"Ja", antwortete Vettel Knorz. "Ich bin mir sicher. Meiner Tage waren genug auf dieser Welt, ich kann es fühlen in jedem Knochen. Mögen meine Stunden die seinen sein. Doch habe ich eine Bitte, lieber Gevatter."
"Ein letzter Wunsch sei dir gewährt. Sprich", grollte der Schwarzgewandete und der Alten war es als greife sein kalter Hauch schon nach ihrem Herzen. "Ich möchte ihm eine Botschaft mitgeben. Diesen Brief soll er seinen Eltern geben. Sie sollen wissen, wie es um ihren Sohn stand und schätzen, was ihnen gegeben wurde, auf dass sie die Zeit nutzen mögen."
"Gib ihm die Nachricht mit, es ist gut, dass sie das wissen." Damit schob Vettel Knorz den Brief in die Hemdtasche des Jungen.
"Lege dich zu ihm und nimm seine Hand, damit der Tausch vollzogen werden kann."
"Aber ist er denn hier?", fragte die Hexe misstrauisch. Gewöhnlich konnte sie ruhelose Seelen wahrnehmen, sah aber keine der gestaltlosen Wesenheiten in ihrer Hütte. "Ich habe ihn bei mir, sei gewiss." Mühsam stieg Vettel Knorz auf die zweite Liege und nahm die kalte Hand des leblosen Jungen.
"Wird er wissen, wie ihm geschehen ist?", fragte sie benommen. "Nein. Keinem Lebenden ist es gegeben vom Danach zu wissen, aber er weiß jetzt, was du für ihn tust und er ist dir sehr verbunden. Glaube mir, längst nicht jeder ließe sich aus dem Licht zurückführen."
Damit breitete der Gevatter seinen Umhang über die Beiden und Vettel Knorz schien es als täte sich der Nachthimmel für sie auf. Eine endlose schwarze Tiefe umfing sie, durchbrochen von Myriaden funkelnder Lichter in allen erdenklichen Farben. Einer dieser Sterne wuchs, rückte näher, erfüllte schließlich ihre ganze Sicht, bevor er in den Leib des Jungen sank. Im gleichen Augenblick hatte sie das Gefühl, von einer Kälte durchflossen zu werden. Es hatte etwas Beruhigendes, eine erwartete, unausweichliche Endgültigkeit. Die Alte spürte, wie ihre verbleibende Lebenskraft an den Jungen überging, griff seine sich erwärmende Hand fester und schloss die Augen.
Einen Moment später war es geschehen. Körperlos schwebte sie in der endlosen, funkelnden Schwärze, dann schlug der Gevatter seinen Umhang zurück.
"Du bist deinem Herzen gefolgt", grollte er. "Nun folge mir." Seite an Seite mit dem Bleichen strebte Vettel Knorz hinaus in die Nacht. Sie warf einen letzten Blick zurück, betrachtete den Jungen. Im gleichmäßigen Rhythmus des Schlafes hob und senkte sich seine Brust. Ein letztes Mal wünschte sie ihm alles Gute und ging dann mit dem Gevatter zwischen die Bäume. Es war ihr nicht mehr möglich zu sprechen, doch er verstand sie auch ohne Worte.
"Wie ich sagte, bin ich nur dein Begleiter, deinen Weg wählst du selbst. Es ist meine Aufgabe dich entlang der Pfade zu führen, die dir offenstehen, damit du dich nicht verirrst. Welchen Abzweig du beschreitest, liegt allein bei dir."
Vettel Knorz blickte auf und sah, dass die Kronen der Bäume sanft im Nachtwind wogten. Alles war friedlich, keine Angst erfüllte sie. So nahmen die Beiden verschlungene Pfade, die sie immer tiefer in den Wald führten und die auch der alten Hexe nicht bekannt waren. Immer wieder kamen sie dabei an geöffneten Pforten vorbei, die sie einluden hineinzugehen. Die alte Hexe aber wandte sich immer wieder ab, bis sie schließlich eine Tür erreichten, die eine sonnenbeschiene Wiese an einem Berghang zeigte. Etwas abseits kauerte vor einer Felswand eine unscheinbare, steinerne Hütte. Vettel Knorz blieb stehen, blickte auf zu ihrem Begleiter. Seine kühl glimmenden Augen ruhten auf ihr. "Nur zu", sagte er mit seiner Felsenstimme. "Was immer dein Herz dir sagt."
Wortlos verabschiedete sie sich und ging hinein.