Während die draußen durch die vollen Gassen zwischen den Holzhütten schlenderten, entstand sofort wieder ein angenehmes Gespräch, als würden die beiden sich schon seit Jahren kennen. Für Josh hatten die Girlanden aus Plastiktannengrün und Kunstschnee, zwischen denen die kleinen Lämpchen der Lichterketten funkelten, niemals festlicher ausgesehen.
Sie suchten sich von den zahlreichen Glühweinständen denjenigen aus, vor dem die kleinste Schlange wartete, um etwas ausgeschenkt zu bekommen und scherzten noch darüber, dass es vielleicht seine Gründe hatte und der Wein hier am Ende wie Essig schmeckte. Mit zwei dampfenden Tassen in den Händen schien es aber fast egal zu sein. Einige Stehtische standen unter hölzernen Überdachungen und obwohl es nicht regnete, fühlte es sich gemütlicher an, sich dort einen Platz zu suchen.
Josh hatte erfahren, dass Tobias wirklich längere Zeit am anderen Ende von Deutschland studiert hatte. Nach abgeschlossenem Studium hatte es ihn aber schnell wieder in die Heimat gezogen, vor allem weil Britta mit dem Haus, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, allein gar nicht zurecht kam. Zwar war dort noch einiges zu erledigen, was Renovierungsarbeiten betraf, aber Tobias war zunächst in die kleine Wohnung seiner Mutter gezogen. Von dort aus kümmerte er sich um die anstehenden Arbeiten, half Britta im Haushalt und mit Erledigungen, weil die Sache mit ihrem Rücken wohl noch schlimmer war, als sie es sich jemals anmerken lassen würde.
"Was machst du eigentlich an Weihnachten?", erkundigte sich Tobias und Josh druckste herum. "Naja", gewissermaßen fühlte er sich ertappt, erzählte aber wahrheitsgemäß, "Ich bin Heiligabend in der Kirche und mache Musik. Danach geh ich nach Hause, esse eine Kleinigkeit und geh schlafen bis zum nächsten Gottesdienst, bei dem ich wieder Musik mache und sich der Rest wiederholt." Tobias' Augen wurden immer größer, als hätte Josh ihm gerade von einer Katastrophe erzählt.
Trotzdem wirkte sein langsames Nicken verständnisvoll. "Ah okay", war wohl das einzige, was ihm dazu einfiel. Fast traurig sahen seine Augen aus, als er Josh wieder anblickte. Der fühlte sich schlecht genug, um schnell abzuwinken. "Ach, das ist in Ordnung", beteuerte er. Immerhin war die Sache mit seiner Familie kompliziert genug, da würde er Mitleid nicht auch noch ertragen. "Ist schon immer so gewesen. Meine Familie ist da nicht so versiert, was die Sache mit den Treffen und dem Gemeinsam angeht."
Damit schien sich Tobias zufrieden zu geben, auch wenn er noch eine Weile etwas nachdenklich wirkte. "Dann lass uns mal anstoßen", schlug Josh vor und hob die Tasse empor. Tobias lächelte und tat es ihm gleich.
"Auf Bach?", schlug er vor, Josh musste lachen.
"Und auf das Jesuskind", fügte er hinzu. "Der muss immerhin noch 18 Jahre warten, bis er selber mittrinken kann!"
Die Glühweintassen klirrten und mit einem Lächeln nippte Josh an der süßen, heißen Flüssigkeit. Kein Essig. Vielleicht ein bisschen Zimt-lastig, aber eindeutig sehr lecker.
Tobias nickte zufrieden, dann druckste er wieder herum und brauchte wohl ein paar Momente so wie einen weiteren Schluck warmen, würzigen, flüssigen Mutes, um Josh eine Frage zu stellen:
"Kommst du mit zu Jesus?"
Josh lachte ausgelassen. Bis er bemerkte, dass Tobias es gar nicht als besonders niedlichen Scherz gemeint hatte und Josh seine Stirn in Sorgenfalten legte, hoffend, dass er ihn jetzt nicht irgendwie verletzt hatte.
"Naja", Josh wiegte den Kopf hin und her, "War ja heute schon ziemlich nah dran. Vielleicht taste ich mich langsam weiter da heran. Nicht dass ich nicht wollen würde, aber meine Beziehung zu Jesus ist, naja... Es ist kompliziert?"
Das schiefe Lächeln, das er Tobias entgegen brachte, schien diesen zu einem ebensolchen zu animieren. "Ähm", begann er unsicher, dann musste er lachen, "Bitte was?"
Josh wurde rot und geriet ein bisschen in Erklärungsnot. "Naja. Ich versuche wirklich, mit ihm auf einen grünen Zweig zu kommen. Früher war ich total mit dabei und alles", er gestikulierte vage in die Luft und Tobias hob verwundert eine Augenbraue. "Aber bei manchen Dingen bin ich mir nicht so sicher, ob ich mit Jesus übereinstimme. Klar, vielleicht interpretieren die Katholiken in Rom manches auch ganz anders, aber ich würde mich jetzt nicht als Vorzeigechristen bezeichnen."
Irgendwie hatte Josh das Gefühl, er machte es nicht besser. Tobias starrte ihn längere Zeit sehr nachdenklich an, als wüsste er nicht so recht, was er mit der Information anfangen sollte, dass der Organist der Kirchengemeinde gar nicht gläubig war.
Nach einem weiteren Schluck von dem Glühwein, musste Tobias allerdings losprusten, als hätte Josh einen besonders einfachen Witz nicht kapiert.
"Gut dass wir drüber geredet haben", meinte er mit einem sanften Schmunzeln, "Ich bin mir sicher, dass die Zeit alle Wunden heilen kann, die das Band zwischen Jesus und dir geschwächt haben. Natürlich nur wenn du willst, gezwungen wird heutzutage niemand mehr dazu..."
Josh hatte immer noch nicht das Gefühl, dass er den Witz verstanden hatte. Vielleicht war es gar keiner, aber zumindest das Missverständnis klärte Tobias nun auf und brachte Joshs Augen zum Leuchten.
"Aber was ich eigentlich fragen wollte, war ob du Lust aufs Theater hast. Bis zum Ende der Adventszeit läuft noch Jesus Christ Superstar, auch wenn das zugegeben etwas seltsam wirkt an Weihnachten. Wie dem auch sei, ich könnte dir Karten besorgen. Falls du Lust hast."
Voller Erleichterung mussten beide herzhaft lachen.
"Klingt gut", Josh wagte ein kleines Augenzwinkern und fügte neckend hinzu, "Aber nur wenn ich neben dir sitzen darf!" Tobias wirkte peinlich berührt und Josh staunte nicht schlecht, als er nachdenklich den Kopf hin und her wiegte, bei den anschließenden Worten sein Gesicht aber immer deutlicher rot anlief. "Gut, damit kann ich leider nicht dienen", deutete er mit einem vielsagenden Grinsen an. "Aber du kannst neben Mama sitzen und wenn du Lust hast, danach könntest du noch mit zu uns kommen?"
Während Joshs Herz immer weiter zu hüpfen begann, fühlte sich Tobias wohl immer peinlicher berührt. "Also, ja. Ich lade dich ein. Wenn du magst, können wir auch an Heiligabend was kochen... und... ähm", er schnaufte durch und versuchte wohl, seine Worte schmackhaft zu machen, indem er noch hinzufügte: "Wir haben übrigens ein Klavier!"
Josh konnte nicht anders, als seine Tasse abzustellen und Tobias' Handschuhe in seine zu nehmen. Er fühlte sich, als wäre er in einem besonders albernen Traum gelandet, der ihn wie ein Schulkind grinsen ließ und am ganzen Körper aufgeregt kribbelte.
"Mit dem Klavier ist so eine Sache", begann er zaghaft. Als Tobias aber schon wirkte, als wäre er über eine Abfuhr sehr traurig, fasste sich Josh ein Herz und zwinkerte ihm wieder verschwörerisch zu. "Normalerweise bin ich nicht so bewandert, was das Klavier angeht."
Tobias runzelte die Stirn voller Verwirrung. "Aber du hast Klavier gespielt. Eindeutig, ich war dabei", stellte er wohl die Fragen in seinem Kopf einfach laut. "Du hast sehr gut gespielt. Es hat sich nicht so angehört, als wärst du davon abgeneigt. So ganz verstehe ich das nicht."
Josh grinste. "Normalerweise", wiederholte er, "Normalerweise ist es auch zwischen dem Klavier und mir kompliziert. Weißt schon, so ähnlich wie mit Jesus." Als er in Tobias' Augen blickte, hatte er das Gefühl, darin dieselbe überschwängliche Hoffnung zu erkennen, die er auch selbst spüren konnte. Und auf Josh Lippen hatte sich nie ein Satz richtiger angefühlt.
"Wenn du dabei bist, kann ich allerdings gern eine Ausnahme machen!"