Ich bekam die ganze Nacht kein Auge zu. Wenn das so weiter ginge, würde ich Ende des Jahres keine einzige Prüfung bestehen. Alles hing irgendwie schief. Ich bekam Harry nicht aus meinem Kopf. Doch noch viel weniger Draco. Warum zur Hölle hatte er mich geküsst? Seinem Blick unten im Gemeinschaftsraum nach zu urteilen, war er schockiert darüber, dass ich mich daran erinnern konnte. Er hatte also ähnlich wie Ginny damit gerechnet, dass ich von nichts mehr wusste, was unter der Trankwirkung geschehen war. Aber warum hätte er es dann tun sollen?
Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte es sich an wie das Hochschrecken nachdem man nur kurz eingedöst war. Ich fühlte mich vollkommen zerstört. Zum Glück war es Sonntag. Ich hatte über Nacht viel Zeit zum Nachdenken gehabt und einen Entschluss gefasst - ich würde Harrys Bitte nachgehen, versuchen herauszufinden, was Draco im Schilde führte. Schon allein aus Rache war es mir das Wert.
Jedoch ergab sich an diesem Tag keine Gelegenheit dazu, was mich ärgerte, da ich den ganzen Tag im Gemeinschaftsraum verbracht hatte, um ihm hinterher zu gehen, sollte er im Schloss umherwandern. Doch genau wie ich blieb er an Ort und Stelle, beinahe provokant, als wüsste er genau, was ich vorhatte.
Die Slytherins ließen mich bis auf einige derbe Späße auf meine Kosten in Ruhe, dennoch hätte ich den Tag lieber mit Harry und den anderen verbracht. Oder allein. So oder so war es reine Zeitverschwendung gewesen und ich nahm mir vor, es anders anzugehen. Ich würde einfach abwarten bis ich sicher wusste, dass er außerhalb der Slytherinräume war und dann heimlich sein Zimmer durchsuchen. Wenn es einen Beweis für das gab, was Harry vermutete, würde dieser doch am ehesten dort zu finden sein.
Doch aus meinen Vorsätzen wurde nichts. Das Arbeitspensum war in dieser Woche so hoch, dass ich froh war, wenn ich alle Hausaufgaben mit ach und krach schaffte. Ich verbrachte beinahe jede freie Minute in der Bibliothek. Die wenige freie Zeit, die übrig blieb, ging fürs Quidditchtraining drauf. Das waren die einzigen Gelgenheiten außerhalb der Mahlzeiten und des gemeinsamen Unterrichtes, wo ich Malfoy zu Gesicht bekam.
Immer noch verfolgte mich heimliches Getuschel oder Gekicher, wenn ich durch die Gänge des Schlosses ging, weshalb ich mir angewöhnte, mich nach dem Unterricht im Gemeinschaftsraum zu verschanzen. Doch dort war es nicht besser. Ich musste mir Sätze anhören wie: "Wenn du Draco suchst, der ist in seinem Zimmer." oder "Hast du die Nacht wieder davon geträumt, dass er dich küsst?"
Hatte ich mir vor dieser Sache schon ab und zu gewünscht, in die Haut einer anderen schlüpfen zu können, so war der Wunsch nun zu meiner zweiten Natur geworden. Ich war froh, als die Woche endlich vorbei war und nahm mir fest vor, mein Vorhaben Malfoy zu beschatten, am Samstag in die Tat umzusetzen, wenn die meisten in Hogsmead waren. Zufällig hatte ich ein Gespräch belauschen können, in dem Malfoy gesagt hatte, er würde dem Zaubererdorf ebenfalls einen Besuch abstatten. Wenn ich ungesehen in sein Zimmer kommen wollte, gab es keine bessere Gelegenheit.
Nach dem Frühstück war es soweit. Ich wartete, bis sich alle in die Schlange der Ausflügler eingereiht hatten, die Filch nach den Erlaubnisblättern ihrer Vormünder fragten und vergewisserte mich, dass Malfoy sich unter ihnen befand. Als ich seinen blonden Haarschopf in der Menge erblickte, wandte ich mich Richtung Kerker.
"Kim?"
Ich wandte mich um und erblickte Harry. Er trug einen dicken roten Wollpullover von Mom, passend dazu den Gryffindor-Schal und einen der dicken Umhänge, was mir sagte, dass auch er unterwegs nach Hogsmead war. "Gehst du nicht mit ins Dorf?"
"Ich habe den Anschluss verpasst", flunkerte ich, da einige Schüler, die in der Nähe standen, große Ohren machten, wie immer wenn Harry auf der Bildfläche erschien.
Er schien zu ahnen, was in mir vor sich ging, denn er trat näher, sodass nur ich ihn hören konnte. "Du könntest mit mir kommen, weißt du."
Ich sah ihm direkt in diese unglaublich grünen Augen, die ein Mädchen schon in ihren Bann ziehen konnten. "Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mich in Malfoys Zimmer umzusehen."
Ich war mir sicher, dass er sich nach dieser Aussage zufrieden abwenden und ohne mich gehen würde. Aber er reagierte völlig anders und griff nach meiner Hand. "Bitte komm mit mir."
Sprachlos sah ich ihn an. "Aber du sagtest doch..."
"Vergiss, was ich sagte", unterbrach er mich entschlossen. "Ich will dich heute einfach bei mir haben."
Seine Worte und die Dringlichkeit, in der er plötzlich sprach, ließen mein Herz rasen. "Was ist mit Ron?"
"Er hat Nachsitzen bei Snape."
Eine Weile starrte ich ihn wortlos an, bis mir klar wurde, dass ich nach Gründen suchte, um nicht mit ihm allein sein zu müssen. Weil ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Und zwar viel mehr als ich das als seine beste Freundin tun sollte.
"Okay." Das Wort war nur ein Flüstern, aber es sprengte die Mauern zwischen uns, genau wie eines von Harrys seltenen Lächeln, das darauf folgte.
Auf dem Weg ins Dorf erzählte Harry von seiner letzten Einzelstunde bei Dumbledore.
"Voldemort war also als Kind schon richtig gruselig und ist in einem Muggel-Waisenhaus aufgewachsen", fasste ich zusammen und versuchte so neutral wie möglich zu klingen, während mich der Fakt, dass wir beide eine Vergangenheit im Waisenhaus hinter uns hatten, mehr schockierte als ich zugeben wollte. Denn erst mit Erreichen meines elften Lebensjahres war ich zurück zu den Weasleys gekommen, da das Zaubereiministerium erst da meine Spur hatte aufspüren können. Sie wurde stärker zu der Zeit, an dem die Kinder für Hogwarts ausgewählt wurden, damit der magischen Welt keines davon entging. "Nun, das überrascht mich nicht. Ich verstehe immer noch nicht, wie dir das irgendwie helfen soll, Harry."
"Ich auch nicht", gestand er, doch es schien ihm nicht im Geringsten zu beunruhigen, so groß war sein Vertrauen zu Dumbledore. "Die letzte Erinnerung war komisch."
Ich sah ihn von der Seite an. Da fiel mir das erste mal auf, dass sich auf seinem Gesicht die ersten Bartstoppeln begannen abzuzeichnen. Er begegnete meinem Blick und mein Herz begann zu rasen. "Es ging um Slughorn. Er war Voldemorts Lehrer. Genauer gesagt war Voldemort einer seiner Lieblinge."
"So wie wir jetzt?", fragte ich angewidert. "Das hat er in seinen Prahlereien über berühmte Hexen und Zauberer, die er kannte, wohl vergessen zu erwähnen."
"Ich denke, er schämt sich. Die Erinnerung war verzerrt. Dumbledore meinte, Slughorn hätte sie manipuliert."
"Warum sollte jemand so etwas tun?", fragte ich verwirrt.
"Genau das ist die Frage. Ich soll ihn dazu bringen, die echte Erinerung preiszugeben." Er seufzte und ich verspürte den Drang, ihn in den Arm zu nehmen, widerstand ihm aber. "Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll."
Ich berührte kurz tröstend seine Hand. "Du wirst einen Weg finden. Wie du es immer schon getan hast. Nicht umsonst hat Dumbledore dich darum gebeten."
Als ich ihm meine Hand wieder entziehen wollte, hielt er sie fest. "Ich würde heute gern mal so tun, als wäre ich nicht der, der ich bin. Ich will einfach jemand sein, der mit einem Mädchen ausgeht, das er wirklich mag."
Ich blieb stehen. Mein Herz raste jetzt so schnell, dass ich fürchtete, es könne mir aus der Kehle springen. "Wie meinst du das?"
Er wandte sich ganz zu mir um. In diesen Minuten wirkte er wie ein völlig Fremder. In seinen Augen lag so viel Tiefe und Schmerz. Es verursachte mir eine Gänsehaut. "Ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Zeit mehr dazu habe, Dinge ungesagt zu lassen. Oder ungetan. Ich habe keine Zeit, die Dinge ruhig anzugehen oder darauf zu warten, wie sie sich entwickeln. Ich habe Gefühle für dich, Kim."
Der Satz traf mich zeitgleich mit einer eiskalten Windböe, die mich einige Schritte von ihm zurück taumeln ließ. Dann sah ich ihn an, als würde ich ihn gerade zum ersten mal sehen und all die seltsame Distanz der letzten Monate fing an, Sinn zu ergeben. Und wenn ich es von Harrys Standpunkt aus sah, dass wir im Krieg lebten und uns nur das Heute blieb, hatte ich gar keine andere Wahl, als genauso offen zu reagieren. "Ich habe auch Gefühle für dich, Harry."
Natürlich war mir klar, dass das zu nichts führen konnte. Harry war der Auserwählte. Er war derjenige, der Voldemort besiegen musste. Damit war er dem Tode geweiht und ich nahm es mit meinen leichtfertigen Gefühlen für ihn billigend in Kauf, an diesem Verlust zu zerbrechen.
Wir hatten den Rand des Dorfes erreicht. Scharen von Schülern strömten an uns vorbei, die Kragen gegen den kalten Wind hochgeschlagen. Die meisten suchten sofort Schutz in einem der vielen magischen Geschäfte. Nicht wenige warfen uns argwöhnische Blicke zu. Nicht auszudenken, was geschah, wenn das Gerücht die Runde machte, dass Harry Potter und Kimberly Weasley ein Liebespaar waren. Egal, was er sich auch immer wünschte - er war kein normaler Siebzehnjähriger. Wohin er auch ging und was er auch tat - den Auserwählten nähme er immer mit sich.
"Bitte sag mir, was du denkst."
Ich lächelte ihn schief an. "Ich wünschte, du hättest deinen Tarnumhang mitgenommen."
Als er mich nur verwirrt ansah, trat ich näher und sagte so leise, dass nur er mich hören konnte. "Harry, wenn die Leute mitbekommen, dass wir mehr sind als nur Freunde, wird das die Runde machen. Was würde Voldemort mit diesem Wissen über dich tun? Er würde mich bestimmt als Waffe gegen dich benutzen."
Er verzog schmerzerfüllt das Gesicht, dann setzte er wieder ein Lächeln auf. "Du hast Recht. Okay, Freundin. Was hälst du von einem Butterbier in den Drei Besen?
Ich lächelte ihn traurig an. "Ich denke, dadurch kann es nur besser werden."
Der Pub war aufgrund des eisigen Windes, der den Winter ankündigte, zum Bersten gefüllt. Nicht nur Schüler, auch Lehrkräfte, darunter zufälligerweise Horace Slughorn, drängten sich um den Tresen. Ich stieß Harry an und nickte in seine Richtung, um ihn auf den Zaubertrankmeister aufmerksam zu machen. "Vielleicht ist jetzt eine gute Gelegenheit, Pluspunkte zu sammeln."
"Kim, ich werde mich kaum mit ihm an den Tresen setzen und mich bei ihm einschmeicheln."
"Das musst du auch nicht", flüsterte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, und fuhr lauter fort: "Mir ist kalt, Harry. Lass uns an den Tisch ganz hinten am Kamin gehen."
Ich hatte so laut gesprochen, dass sich der ganze Pub zu uns umwandte. Neugierige Blicke folgten uns, als wir uns einen Weg durch die überfüllten Tisch hindurch zu dem beengten Platz am Feuer bahnten. Hier war es so heiß, dass wir sofort die Mäntel ablegten.
"Was ist mit deiner Theorie, wenig Aufmerksamkeit zu erregen?", wollte Harry wissen.
"Für die anderen sieht es doch aus, als wären wir nur Freunde", erwiderte ich mit einem bedeutungsvollem Blick. "Was Slughorn allerdings angeht, finde ich, sollten wir ihn in unser kleines Geheimnis einweihen. Da kommt er schon."
"Kimberly! Harry! Wie schön, Sie beide zu sehen. Ich hoffe doch, ich störe nicht?" Er sah mit einem väterlich wissenden Blick zu uns hinunter und ich schlug, wie zweifelsohne von mir erwartet wurde, verlegen die Augen nieder. "Wir wollen nicht, dass es schon jeder erfährt, wissen Sie."
Sofort senkte Slughorn seine Stimme in ein aufgeregtes Flüstern, während er sich ungefragt einen Stuhl vom Nachbartisch heranzog "Oh, ich verstehe, ich verstehe! Es ist ja auch nicht leicht, gerade für unseren Harry, wenn man den Gerüchten trauen kann?"
Harry nickte nur und ich sprang ihm schnell bei. "Professor, das hier ist nicht der richtige Ort für solche Gespräche."
"Natürlich, natürlich. Wie gedankenlos von mir! Kommen Sie doch in zwei Wochen in mein Büro. Ich gebe eine kleine Halloweenparty für den Slugklub. Es wird eine Tanzveranstaltung, aber Sie beide müssen sich ja über die Wahl Ihres Tanzpartners keine Gedanken mehr machen."
Wir kamen nicht zu mehr als verlegenem Kopfnicken, da ertönte ein markerschütternder Schrei vor dem Pub. Sofort war es mucksmäuschenstill im Schankraum und alle starrten angstvoll zur Tür.
"HILFE!", ertönte eine Mädchenstimme.
Harry und ich waren sofort auf den Beinen. Zusammen mit einigen anderen Schülern und Hagrid sowie Professor McGonagall drängten wir nach draußen. Dort wurden wir Zeugen eines grauenhaften Schauspiels.
Katie Bell, Harrys Mitschülerin und Jägerin im Quidditchteam, lag reglos mit weit aufgerissenen Augen am Boden. Neben ihr lag ein aufgerissenes Päckchen. Das Mädchen, das geschrien hatte, war eine Ravenclaw. "Ich kam gerade aus Zonkos, da ist sie zusammengebrochen."
"War jemand bei ihr?", fragte Harry und alle starrten ihn an.
"Ich habe nur Katie gesehen. Sie hat das Päckchen geöffnet und dann ist es passiert."
Professor McGonagall ging zu dem Päckchen und hob mit ihrem Zauberstab ein Halsband aus funkelnden Opalen empor. "Das steht unter einem starken Fluch."
Hagrid hatte sich inzwischen Katie auf die Schultern geladen. "Sie lebt. Ich bringe sie ins Schloss."
Eine Bewegung in meinem Augenwinkel ließ mich herumfahren. Ich sah gerade noch, wie ein Mantel um die nächste Hausecke verschwand. Und ich hätte schwören können, dass ich etwas sonnengelbes Haar gesehen hätte. Mein Herz sprang mir in die Kehle. Ohne nachzudenken setzte ich dem Unbekannten nach. Ich hörte, wie Harry mir nachrief, doch ich ignorierte ihn.
Ich rannte so schnell, dass meine Lungen brannten. Vor mir hörte ich die Schritte des Flüchtenden und seinen schnellen Atem. Instinktiv war mir sofort klar, dass es sich dabei nur um denjenigen handeln konnte, der Katie verhext hatte. Ich hörte seinen keuchenden Atem hinter der nächsten Ecke und zog meinen Zauberstab.
"STUPOR!", schrie ich als ich schlitternd die nächste Biegung nahm, doch der andere war schneller. Es riss mich von den Beinen. Ich knallte so hart auf den Boden, dass ich Sterne sah. Ein wüster Fluch ertönte, dann erschien Dracos Gesicht über mir. "Du!"
Ich wollte nach meinem Zauberstab greifen, doch er kickte ihn mit dem Fuß von mir fort, ehe er sich zu mir herunter kniete. "Verdammt, warum bist du wie der Teufel hinter mir her? Ich wusste nicht, dass du es bist."
"Als hätte dich das aufgehalten, mich zu verhexen", zischte ich und schlug seine Hand weg, die mir das Haar aus dem Gesicht strich. An seinen Fingern klebte Blut. Offenbar hatte ich mir den Kopf aufgeschlagen, aber ich spürte keinen Schmerz. Sondern alles verzehrende Wut und dieses andere Gefühl, das immer noch hinter dem Abscheu lauerte. "Was hast du mit Katie gemacht?"
Sein Blick wurde hart. "Ich habe gar nichts gemacht."
Mit einiger Mühe setzte ich mich auf, sodass wir auf Augenhöhe waren. "Du hast ihr das verfluchte Halsband gegeben."
Er kam mir so nah, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Ich roch so etwas wie Eis. Eis, das sich frisch auf dem See ausbreitete. Mein Blut rauschte in meinen Ohren. "Kannst du das auch beweisen?"
"Kim, wo bist du?", ertönte Harrys Stimme und Schritte näherten sich.
Draco warf mir einen letzten verächtlichen Blick zu, ehe er davon lief. Er war kaum verschwunden, da tauchte Harry auf. Als er mich am Boden sah, rannte er sofort zu mir. "Was ist passiert?"
Ich erzählte es ihm mit monotoner Stimme. Seine Reaktion war wie ich erwartet hatte. "Es war definitiv Malfoy. Wir gehen jetzt hoch ins Schloss und melden das!"