Der Teich
Ich saß wieder mitten im Dom und die Sonne leuchtete durch die Fenster als eine freundliche Gestalt in einem langen weißen Kleid mit prächtigen goldenen Applikationen auf mich zukam: „Guten Tag,“ sagte sie „der Chef schickt mich, ich soll mich ihnen in Verbindung setzen und ihnen helfen, die Wartezeit so angenehm wie möglich zu verbringen. Er lässt mich ihnen ein Lunchpaket mit himmlischem Wein überbringen! Hier bitte, mit den allerbesten Grüßen und Wünschen von ihm! Und noch eine Jacke und etwas Ordentliches zum Anziehen lässt er ihnen bringen, damit sie hier nicht so frieren. Soll ich ein bisschen was auf der Orgel vorspielen? Oder wollen sie lieber mit den Chören singen oder ein bisschen beten?“ „Oh vielen Dank,“ sagte ich, „nein danke, ich bin erst mal zufrieden, vielen Dank.“ „Wenn sie einen Wunsch haben müssen sie nur hier läuten, jederzeit!“ sagte sie und dann verschwand sie wieder - leise und mit vollendeter Grazie.
Mir war jetzt viel wohler zumute, ich würde nicht mehr hungern und frieren müssen. Ich stand auf und ging im Dom herum, nahm mir eines der aufgelegten Büchlein über die Bau- und Kunstgeschichte des Doms zur Hand und prüfte immer wieder die Ausgänge. Der Haupteingang war weiterhin fest verschlossen, aber aus dem Nebeneingang drang wieder warmes Licht in den Dom und so beschloss ich, noch einmal einen Spaziergang zu unternehmen. Vielleicht waren die Frauen ja auf dem Feld noch da. So trat ich wohlgemut nach draußen und sah mich um. Das Feld war zwar leer aber das Wetter war wunderschön und ich beschloss, die Landschaft ein bisschen zu erkunden. Hinter einem Wäldchen entdeckte ich eine Anlage mit mehreren Fischteichen und wollte sie mir aus der Nähe ansehen.
Ich ging um den ersten Teich herum und war dann wohl zu unvorsichtig. Der Boden war recht glitschig und etwas abschüssig und so glitt ich aus, fand keinen Halt und rutschte in den Teich. Er war nicht sehr tief und ich kam auf dem Teichboden zum Sitzen, aber mein Kopf geriet unter Wasser. Zu meinem Erstaunen bekam ich keine Atemnot. Nicht, dass ich dort atmen konnte – aber irgendwie hatte ich nicht das Bedürnis Luft einzuatmen.
Ein paar größere Karpfen schwammen gemächlich in meine Richtung und mir war, als würden sie miteinander sprechen. „Siehst du, Wunnibald, das ist der Beweis!“ meinte einer. „Wieso Beweis? Wofür denn?“ „Na, dass eine Welt außerhalb des Teiches existiert!“ „Theobald, ich denke das haben wir schon zigmal durchdiskutiert, warum sollte das ein Beweis sein?“ „Na, wo soll der den sonst herkommen? Wo sollen denn die Blätter im Herbst herkommen, wenn nicht von außen – also muss da etwas sein.“ „Das siehst du völlig falsch," sagte Wunnibald, "Romuald meint, dass es ein Zeichen des großen Teichwirts ist, der unseren Teich einst aus dem Nichts geschaffen hat – er schickt uns die Blätter als Zeichen seiner Gunst – und dieser da – denke ich, ist ein weiteres Zeichen des großen Teichwirts – und wir müssen nur herauskriegen, was er uns damit sagen will.“ „Aber das ist doch Unfug,“ meinte Theobald „es gibt keinen einzigen Beweis dafür, dass so etwas wie der große Teichwirt existiert.“ „Und was ist mit denen, die jedes Jahr aus dem Teich entschwinden? Der große Teichwirt nimmt sie zu sich!“ sagte Gernot, der nun dazu geschwommen kam. Ich wollte jetzt einwerfen, dass es natürlich eine Welt dort draußen gäbe und der große Teichwirt die Karpfen frisst -aber ich konnte mich nicht verständlich machen.
Ein alter, sehr ernster Karpfen schwamm heran und meinte: „Ich habe den ganzen Winter darüber nachgedacht. Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass nur real ist, was tatsächlich existiert! Das Wasser, der Grund, die Algen, die Insektenlarven – das ist die reale Welt, damit müssen wir umgehen, sie müssen wir bewahren. Ob der große Teichwirt existiert lässt sich nicht mit Gewissheit sagen – also müssen wir diese Annahme als Möglichkeit offen lassen!“ „Was meinst du damit? Wir brauchen den Teichwirt, er gibt uns diesen Teich, er ermöglicht uns unser Leben!" warf Romuald ein, der nun herbeigeschwommen kam, "Das Leben wäre doch sinnlos und ohne Ziel, wenn es den Teichwirt nicht gäbe und die ethische Ordnung der Teichgemeinschaft wäre bedroht! Allein der Gedanke, dass er nicht existierte ist ketzerisch und strikt abzulehnen!“ meinte er. „Du bist ein Erzreaktionär, Romuald!“ erwiderte Theobald und verdrehte die Augen, „Du bist total verbohrt! Mit diesem Denken von vorgestern kommen wir heute doch nicht weiter! Wir könnten eine ganz neue, offene, der Zukunft zugewandte Gesellschaft von aufgeklärten Karpfen bilden wenn wir nur endlich diese überholten Vorstellungen über Bord werfen würden!“ „Nein, du bist verbohrt, Theobald, es gibt keinerlei Beweise für eine Welt dort draußen! “ meinte Wunnibald wiederum. Nun schwamm ein Karpfen hinzu, den ich noch nicht bemerkt hatte und meinte: „Nein, ihr habt alle Unrecht! Die Welt um uns, der ganze Teich ist eine große Illusion! Ihr seid selbst nicht real, der Teichwirt ist nicht real, ich bin das einzig reale Wesen dieser Welt!“ „Was redest du nur wieder für Unsinn, Reginald“ meinte Gernot und so sprachen und stritten bald alle durcheinander und warfen den anderen Ignoranz, Verbohrtheit, Rückständigkeit, Blasphemie oder noch Schlimmeres vor. Ich verlor vollkommen den Faden als der alte ernsthafte Karpfen auf mich zu schwamm und fragte: „Wer bist du?“
Ich wollte antworten, öffnete den Mund und ein Schwall Wasser drang unvermittelt in mich ein. Ich geriet in Panik zu ertrinken, tauchte hastig auf und schnappte nach Luft. Etwas verwirrt kletterte ich aus dem Teich und legte mich erschöpft auf das Gras um mich auszuruhen. Ich war völlig durchnässt und beschloss, die Kleider auszuziehen um sie in der Sonne trocknen zu lassen. Ich war fast eingenickt als mich eine empörte Männerstimme aus allen Träumen riss: „Was soll das? Sie können doch hier nicht nackt herumlaufen, haben sie denn überhaupt keinen Anstand?“ Ich fühlte mich sehr verlegen und versuchte die Umstände zu erklären. Er räusperte sich und meinte: „Lassen sie´s gut sein, wenn das so ist! Ich würde sie trotzdem bitten jetzt zu gehen, ich habe hier zu arbeiten, ich bin der Teichwirt!“
Ich zog die immer noch etwas nassen Sachen wieder an und machte mich auf den Rückweg zum Dom. Den ganzen Weg ging mir das Gespräch der Karpfen nicht aus dem Kopf. Diese grundlegenden Fragen die sie sich stellten und auch, warum Gernot nicht Gernald hieß? Während ich mich nochmal hinsetzte um die Sonne zu genießen und die Kleider vollständig trocknen zu lassen, kam der Teichwirt nochmal an mir vorbei. Er grüßte mich freundlich und zeigte mir einen stattlichen Karpfen im Netz, der aussah wie Reginald. „Ein Prachtstück,“ meinte er strahlend „der wird uns heute schmecken!“
Mich ließ der Gedanke nicht los, dass das alles nicht real war. Vielleicht hatte Reginald ja recht gehabt, vielleicht war ich das einzige reale Wesen hier und alles andere wäre nur Illusion? Vielleicht findet das alles nur in meinem Kopf statt? Ich trat förmlich aufgekratzt in den Dom ein, setzte mich auf eine Bank und blickte um mich. Ich richtete mich auf, hob die Zahnbürste trotzig in Richtung Decke und rief in mich hinein: „Ihr könnt mich mal! Ihr könnt mich alle mal! Ihr könnt mir gar nichts!“ Ich fühlte mich groß und kräftig und hatte den Eindruck stetig zu wachsen. Bevor ich an die Decke stieß begann ich die Wände einzureißen und beiseite zu drücken! Sie fühlten sich an wie Styropor.
Endlich stand ich wieder in meinem Wohnzimmer und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Ich ging zum Schrank und goß mir einen Schnaps ein, und dann noch einen! Ich fühlte mich frei und unbezwingbar.
Am nächsten Morgen, ich hätte eigentlich ausschlafen wollen, weckte mich mein Sohn. Er war völlig aufgelöst, zog heftig an der Bettdecke und rief weinend: „Papa, Papa, du musst unbedingt kommen, jemand hat meinen ganzen schönen Dom zerstört!
P.S.: Einige Wochen später hatte ich einen dieser unangenehmen Zahnarzttermine. Eine Brücke musste erneuert werden und ich fasste meinen ganzen Mut zusammen um dem Bohren und Schleifen ins Auge zu sehen.
Der Zahnarzt sah in meinen Mund, sah auf die Akte, sah wieder in meinen Mund. „Ich bin völlig ratlos“ stotterte er und sah auf die alten Röntgenbilder. „Was ist denn?“ fragte ich besorgt zurück. „Ihre Brücke, ihr ganzes Gebiss?! Da ist keine Brücke mehr, das sind keine Plomben, keine Kronen – das ganze Gebiss steht perfekt, als wäre es vollkommen neu, sogar das Zahnfleisch ist rosig und so kräftig wie es sein nur kann !“ "Gott sein Dank!" entfuhr es mir erleichtert.