Dritter Versuch
Das kleine Café in der Via Dolorosa macht einen hervorragenden Espresso. Das musste er zugeben. Aber sonst …
„Bisschen viel Rummel. Aber wieder hübsch geworden.“
Als er den Ort das letzte Mal aufgesucht hatte, war das hier ein Trümmerhaufen und Steinbruch. Al-Ḥākim hatte ein paar Jahre zuvor die Zerstörung angeordnet. Jetzt war die Grabeskirche, wenn auch ein wenig zwischen die anderen Häuser eingepfercht, wieder aufgebaut. In schauderte – das war nun auch schon 1.000 Jahre her. Und das Mal davor, da hatte er hier sein Grab gefunden … Er wollte besser gar nicht daran denken.
Jesus betrachtet lange das Eingangsportal, stellte sich dann in die Reihe der Wartenden. Er erwartete nicht viel – und wurde doch enttäuscht. Die schlichte Fassade hatte ihm gefallen. Das Innere war eine Mischung aus Museum und Rummelplatz. Ein Zankapfel der Konfessionen. Wie konnte man nur darum streiten, wie man einen Gott verehrt? Ist es so wichtig, welchen Namen man ihm gibt? Wie sich die Priester kleiden? Wie man die Kirche ausschmückt? Die Tatsache, dass eine muslimische Familie seit Jahrhunderten den Schlüssel für dieses den Christen so wichtige Heiligtum innehat, ließ ihn schmunzeln. Aber viel lieber hätte er einen Besen ergriffen und den Tempel ausgekehrt. Er unterdrückte den Gedanken. Bei seinem letzten „Besuch“ vor 1.000 Jahren hatte ihm das einen schnellen Tod eingebracht. Ein christlicher Ketzer, erschlagen vom Mob. Kein Hahn hatte danach gekräht.
Er verließ die Kirche wieder, ohne sich näher umgesehen zu haben. Das, was echt war, kannte er nur zu gut. Noch mehr jedoch war einfach erfunden. Märchen für Menschen, die nur das glauben konnten, was sie sehen und anfassen konnte. So war der Glaube also zu einer Märchenwelt verkommen. Und er, der er gesandt wurde, um die Menschen zu retten und auf den richtigen Weg zu führen, war nichts anderes als ein Märchenerzähler.
Jetzt war er also zum dritten Mal auf der Erde. Zum dritten Mal im Abstand von 1.000 Jahren war er „Mensch geworden“ und stand planlos in einer Welt, die er nicht verstand und die ihn nicht verstehen wollte.
Jesus machte sich keine Illusionen. Zu viel war in den letzten 1.000 Jahren auf der Erde geschehen. Zu viel hatte sich verändert. Die Menschen ritten nicht mehr auf Eseln oder Pferden, sondern fuhren in schnellen Autos. Ja, sie flogen sogar durch die Luft und ein paar hatten den Planeten schon verlassen und waren auf dem Mond gelandet. Ob ihnen bewusst war, wie wenig sie sich dennoch bewegt hatten. Nicht in ihrem technischen Fortschritt, wohl aber in ihrem Denken und Handeln den anderen Menschen gegenüber. Und dem Planeten, auf dem sie wohnten.
Jetzt war er also wieder im „Heiliges Land“, wie sie es nannten. Selbst das war ihm schleierhaft. Warum sollte dieses Land heiliger sein als ein anderes? Es gab keinen Grund dafür. Und es gab auch keinen Grund dafür, dass er ausgerechnet jedes Mal hierher kommt.
Ja, natürlich. Hier wurde er das erste Mal geboren. Hier war er der Messias und hier starb er für die Menschheit am Kreuz. Und nun? Nun war das Heilige Land ein Schlachtfeld. In Bücher gezwängte Dogmen waren die Schlachtrufe, mit denen alte Männer die Jugend zum Mord aufriefen. Die Eitelkeiten der Religionen waren die Schlachtrösser, auf denen die Krieger in die Schlacht zogen.
Er kaufte sich ein Flugticket nach Italien. Fliegen, mit einer Maschine.
„Nicht schlecht“, dachte er noch einmal. „Immerhin das hat die Menschheit geschafft.“