„Okay.“
„Wie bitte?“
„Ich mach‘s.“
Elodie riss erstaunt die Augen auf. Vermutlich hatte sie nicht damit gerechnet, mich noch herumkriegen zu können. Geschlagene drei Tage hatte ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen. Geschlagene drei Tage war Elodie bei mir gewesen und hatte versucht, sich um mich zu kümmern. Sie stellte mir Essen vor die Tür, redete mit mir (auch wenn ich nicht oft antwortete) und überredete mich schließlich dazu, endlich mal wieder aus meinem Schlafzimmer herauszukommen.
„Also gehen wir deine Mutter suchen?“, vergewisserte sich Elodie.
Ich nickte, wenn auch etwas zögernd. Es fiel mir schwer, dieses „Wir“ zu akzeptieren. In meinem Leben hatte es nie ein „Wir“ gegeben. Noch nicht mal mit meiner Mutter. Die Elodie und ich suchen gehen würden.
Ich bezweifelte, dass wir etwas fanden… Der Artikel im Internet, den sie mir gezeigt hatte, war erst wenige Tage vorher ins Netz gestellt wurden und äußerst fragwürdig. Anscheinend ging es um eine Obdachlosenspedition, die eine Ex-Obdachlose namens Nicole Becker (der Name meiner Mutter) ins Leben gerufen hatte. Dass sie die „Rabentafel“ hieß. Alles irgendwie merkwürdig. Beim Lesen des Artikels lag mir ein bitterer Geschmack auf der Zunge. Irgendetwas stimmte nicht, doch im kam nicht darauf, was es war. Außerdem… was blieb mir anderes übrig? Mein Leben wurde zerstört. Ich konnte hier nicht ewig bleiben, ich war nicht volljährig, sondern gerade mal fünfzehn. Ich ging noch in die Schule. Mein Vater war erziehungsberechtigt, doch von ihm wollte ich in meinem ganzen Leben nichts mehr hören. Nein, mir blieb nichts anderes übrig.
„Ja, lass uns das machen.“, hörte ich mich sagen. „Wann sollen wir los?“
Ganz kurz meinte ich, über Elodies Gesicht ging ein triumphierendes Grinsen, doch da hatte ich mich wohl getäuscht.
Ihre Stimme klang ganz normal, als sie sagte: „Wie wäre es mit jetzt gleich? Wir können bei mir Zuhause vorbei- beziehungsweise ich kann, du wohl eher nicht- und uns Sachen einpacken.“
Ich nickte nur kurz. Überzeugt war ich immer noch nicht so wirklich, aber egal. Jetzt würden wir das auch durchziehen. Ich strich mir schnell die Haare aus der Stirn und schritt auf die Tür zu. Elodie folgte mir.
„Warte kurz!“, fiel mir dann noch ein. „Ich bin gleich wieder da!“
Mit langen Schritten lief ich noch ein letztes Mal die Treppe nach oben, nahm mein Portemonnaie, meine Fahrkarte und meinen Rucksack. In Vaters Schlafzimmer zog ich die Schublade auf, dessen Berühren geschweige denn Öffnen mein Vater mir strengstens verboten hatte. Darin lagen dicke Geldbündel. Kurz zögerte ich. War das der richtige Weg? Ich konnte ihn doch nicht einfach… Aber wir brauchten Geld. Und in diesem Augenblick war mir mein Vater so egal. Er hatte genug. Entschlossen nahm ich ein paar Geldscheine und stopfte sie in mein Portemonnaie. Wenige Minuten später traten meine Stiefschwester und ich auf die Straße und machten uns auf den Weg zu ihrer Villa. Irgendwie würden wir uns da durchschlagen, da war ich mir sicher.