Es war mir ein Rätsel, was mein Vater gemacht hatte, aber Anfang Februar war Britta schon nicht mehr seine Freundin. Warum hätte ich gerne gewusst, aber mein Vater verlor auch kein Wort darüber, er zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema schnellstmöglich. Mit meiner Mutter hatte ich anfangs, seit sie wieder mehr feste Handyzeiten hatte, aber seit meinem Geburtstag hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Sie wollte keinen Kontakt mehr mit uns behauptete zumindest mein Vater, irgendwie wollte ich es ihm allerdings nicht abkaufen. Aber beweisen konnte ich es natürlich nicht und wüsste auch nicht wie ich es hätte widerlegen könnte, sie schrieb ja nicht mehr mit mir und reagierte auch nicht auf Anrufe.
In der Schule hatte es gerade erst Zeugnisse gegeben und ich war trotz alledem zufrieden mit dem was sich auf meinem Zeugnis widerspiegelte. Nur zweier und eine eins in Sport, es spiegelte meine Leistungen aus den Klausuren wider und war kein Mitleidszeugnis, hoffte ich zumindest. Zumindest wäre es nicht gerechtfertigt mir bessere Noten zu geben als ich leistete, vor Weihnachten waren zwar meine Noten schlechter geworden, aber nicht besorgniserregend. Im Januar waren sie dann mit viel Hilfe von Mia wieder besser geworden, die Lehrer waren relativ begeistert von mir wieder. Mein Stolz hielt sich in Grenzen, ich vermisste Sola wann immer mein Vater über LGBTQ+ herzog, was fast täglich war. Es versetzte mir immer wieder einen Stich und Solas genervte Reaktionen fehlte mir.
Der achte Februar war auch noch Solas Geburtstag, sie wäre 16 geworden, mein Vater hatte Spätschicht, am Vormittag war er schon alleine zum Grab gefahren. Ich war mit Mia unterwegs zu dem Blumengeschäft das ihre Tante betrieb, ein paar frische Blumen würden dem Grab bestimmt gut tun. Ich biss mir auf die Unterlippe, als wir vor dem Blumengeschäft unsere Fahrräder abstellten und sie anschlossen. „Alles in Ordnung“, wollte Mia von mir wissen, als ich absichtlich langsam mein Schloss zusammenschloss und ich nickte zögerlich. In Mias Blick wich die Sorge einem Erkennen, das ich nicht ganz zuordnen konnte, als wir in den Laden liefen. Es gab eine riesige Auswahl an Blumen in allen erdenklichen Farben und Formen, von denen wir uns einige in Rot, und Violett mitnahmen.
Wir sprachen fast kein Wort, als wir mit den Fahrrädern zum Friedhof fuhren und sie an einem Zaun anschlossen. Mia warf mir immer wieder seltsame Seitenblicke zu, aber sie sagte nichts bis wir vor dem Grab standen. Das kleine Holzkreuz war inzwischen durch einen Grabstein ersetzt worden, der oben zwei Figuren eingehauen hatte. Sie sollten laut meinem Vater Sola und mich darstellen, Arm in Arm irgendwo, was alles an schönen Erinnerungen hervorholen sollte. Wortlos gruben wir die Blumen nebeneinander ein und klopften uns die Hosen danach wieder sauber. „Alles Gute zum Geburtstag Schwesterherz“, ich strich über die Oberseite des Grabsteins: „Ich vermisse dich.“ Mia legte mir den Arm um die Schultern und wir standen eine Weile vor dem Grab, auf dem die frischen Blumen blühten.
Irgendwann kehrten wir dann allerdings doch dem Grab den Rücken und machten uns auf den Heimweg. Wir fuhren beide zu mir, Mias Eltern waren bei einer Firmenfeier, mein Vater telefonierte wild im Erdgeschoss, in dem im Moment immer noch die Einrichtung meiner Großeltern stand. Worüber wusste ich allerdings nicht, wir verzogen uns in mein Zimmer, wo Mia ihre Sporttasche auspackte die sie mitgebracht hatte. „Hier ein bisschen was aus meinem Kleiderschrank“, sie warf einen dunkelblauen Rock und ein hellblau-weiß gestreiftes Shirt auf mein Bett. Ich schloss rasch meine Tür ab und zog mir dann meinen Hoodie und das T-Shirt aus. Das Shirt zog ich einfach über mein Unterhemd und tauschte meine Jeans gegen den Rock.
„Perfekt“, befand meine Freundin, während sie um mich herumging: „Jetzt machen wir dir noch ein Foto davon.“ Sie zog ihr Handy aus ihrer Hosentasche und sah als erstes auf WhatsApp: „Meine Tante schreibt, dass sie hofft, dass dir die Blumen für das Grab gefallen haben.“ „Sie haben mir gefallen“, erwiderte ich und lächelte ein wenig müde in die Kamera und wartete bis Mia es mir geschickt hatte. „Carlos bist du schon wieder da?“ Mein Vater klopfte an die Tür: „Ja und Mia ist auch schon da!“ Rief ich durch die Tür, mein Vater seufzte: „Na dann lasse ich euch mal alleine, viel Spaß bei was auch immer ihr da drinnen macht.“ Überrascht, ihn so schnell wieder losgeworden zu sein, ließ ich mich auf mein Bett fallen und Mia setzte sich neben mich.
Trotzdem zog ich lieber schnell das Shirt und den Rock wieder aus und wühlte einen möglichst weiten Hoodie aus meinem Schrank, den ich mir rasch über mein eigenes Shirt zog. Erst dann schloss ich meine Tür wieder auf, während Mia schon die Switch unter meinem Fernseher beäugte und Mario Kart dann einlegte. Seufzend ließ ich mir einen der Controller geben und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl, da Mia blitzschnell meinen Sitzsack beschlagnahmte. „Dein Sitzsack ist echt bequem weißt du das?“ Ich seufzte: „Ja weiß ich durchaus, deswegen habe ich den auch schon durchaus gerne.“ Mia grinste frech: „Wenn ich nachher wieder heimfahre, kannst du ihn ja sicher wiederhaben, ich sehe zumindest niemanden, der ihn beanspruchen könnte.“ „Du bist echt dreist weißt du das?“ Ich startete das Spiel während Mia ranzig über mich kicherte.
Mitten in einer spannenden Runde Mario Kart kam mein Vater hereingetrampelt und stellte zwei Teller mit Kuchen und zwei Gläser Orangensaft auf meinen Schreibtisch. Dann verschwand er mit einem Blick auf den Fernseher auch schon wieder und ich warf nach der Runde einen Blick auf die Teller, es klebte ein kleiner gelber Zettel darauf. „Ich gehe jetzt zum Zwischendienst, es ist jemand auf Arbeit plötzlich krank geworden. Ich bin erst nach Mitternacht wieder da, geh bitte spätestens um halb elf ins Bett, hab dich lieb Carlos.“ Mehr stand nicht darauf, ich reichte Mia eines der beiden Orangensaftgläser und setzte mich dann wieder auf den Schreibtischstuhl, den ich etwas von meinem Schreibtisch abgerückt hatte. Mia startete die nächste Runde und innerhalb von Sekunden flogen Geschosse über den Fernseher, meine beste Freundin hatte einiges umgestellt, nicht unbedingt zu meiner Begeisterung, als ich drei Cooper Shells hintereinander abbekam.
Mia fuhr erst um halb sieben wieder nach Hause und umarmte mich fest zum Abschied: „Bis morgen in der Schule.“ „Bis Morgen“, sie winkte zum Abschied und schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr davon. Ich ging mir drinnen etwas zum Abendbrot suchen und setzte mich schließlich mit einer Schale mit Jogurt mit Zimt und Haferflocken und YouTube an den Esstisch. Draußen begann es jetzt dicke weiße Flocken zu schneien, die auf der Fensterscheibe des Esszimmers schmolzen. Auf der Wiese vor dem Haus blieb ein dünner Film liegen. Mit den Fingern wischte ich einen Jogurtfleck vom Esstisch und stellte meine Schale in die Spülmaschine und wischte die Reste des Flecks mit dem Lappen weg.
Oben ging ich dann in aller Ruhe duschen und benutzte mein eigenes, recht neutral riechendes Shampoo. Ich hätte mir liebend gern eines mit einem anderen Pflanzenduft geholt, was mein Vater allerdings für albern befunden hatte.