Tatsächlich hatte ich Schmetterlinge im Bauch und es fühlte sich fast an, als wären wir frisch verliebt. Wir hatten schöne Feiertage, die auch Margarete mit uns verbrachte. Wir hatten meine Mutter im Gästezimmer einquartiert. Mit Sanders waren wir am Samstag nach Ostern zum Grillen verabredet und von ihnen hörten wir dann, dass Alex bereits eine Zusage erhalten hatte. Unruhig sah ich zu Jan, der mit seinem Freund dessen kleinen Brüdern im Garten spielte. Was bedeutete dies nun? Wir hatten noch keine Entscheidung erhalten und hofften doch so sehr darauf. Angerufen hatte die Schule, so Ulrich. Sie mussten sich bis Pfingsten entscheiden, ob sie den Platz annehmen würden. Die Frage stellte sich uns erst gar nicht. Natürlich hatte Jan die Option auf die Realschulen in den Nachbarstädten, aber unser Bauchgefühl sagte uns, dass dies keine Lösung für seine Schulprobleme sein würde.
Alternativ hatte Frau Wittkamp noch eine Waldorfschule ins Gespräch gebracht, die wir aber noch nicht kontaktiert hatten. Das Warten machte mich beinahe verrückt. Und Pauls fragender Blick, wenn er in der Mittagspause vom Büro herüberkam, machte es nicht besser. Martin spürte, dass wir angespannt waren und fragte uns irgendwann, was denn los wäre. Es war das erste Mal, dass Paul ihn bezüglich Jan ins Vertrauen zog. Unser Großer hörte aufmerksam zu, als wir ihm erklärten, dass wir auf eine wichtige Entscheidung warteten. Und Martin überraschte mich.
"Das klingt nach einer guten Schule für den Kleinen", sagte er. "Da kann er besser lernen zu lernen, wisst ihr?"
Fragend sah er uns an und mir blieb einen Moment die Sprache weg. Martin nickte Paul vielsagend zu.
"Er muss es anders erklärt bekommen."
Er rieb sich die Nase und dachte kurz nach. "Aber dafür haben Lehrer oft keine Zeit, weil da einfach zu viele Schüler sind. Da kommst du eben mit oder halt nicht. Das machte denen auch keinen Spaß, glaube ich", fuhr er fort.
Ich bin heute immer noch der Überzeugung, er wäre ein toller Lehrer geworden. Aber Martins Pläne standen ja damals schon fest. Er hatte einen Plan. Von dem wir natürlich noch nichts ahnten.
Die Ferien gingen zu Ende. Wir hatten keinerlei Information erhalten. So langsam machte sich Resignation breit. Wenn sie wenigstens absagen würden, damit wir endlich wussten, woran wir waren. So hatten wir die Schule bisher auch eingeschätzt. Die Ungewissheit war wie ein Stachel. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, fuhr ich zusammen. Ich war jeden Morgen vor dem Briefträger an der Tür und sah ihm hoffnungsvoll entgegen. Ich beobachtete Jan, der ebenfalls spürte, dass etwas anders war als sonst. Aber er fragte nicht nach.
Der Anruf kam an einem Mittwoch. Kurz vor Schulschluss. Der Direktor, Hans-Jürgen Wolters, rief höchstpersönlich an. Und entschuldigte sich zunächst, dass man sich so spät erst meldete, aber einer der Entscheidungsträger des musischen Zweigs war krankheitsbedingt ausgefallen und die Besprechungen demzufolge verschoben worden. Er erklärte mir zudem, dass sie sich die Entscheidung nicht leicht gemacht hatten. Mir rutschte das Herz in die Hose. In Minibruchteilen an Sekunden sah ich mein Kind vor mir. Sein Weinen, seine traurigen Augen. Wie er im Schlaf um sich schlug. In diesen Bruchteilen fühlte ich eine Eiseskälte und furchtbare Angst. Ganz selten war mir so klar, dass es in einer Katastrophe enden könnte.
"Wir würden Sie und Jan gerne nochmal einladen."
Ich glaubte, mich verhört zu haben.
"Bitte?", fragte ich nach.
Der Direktor räusperte sich.
"Wir haben ein paar Wackelkandidaten, die wir uns gerne nochmal ansehen möchten. Darunter ihren Sohn. Ganz offen gesprochen, wir haben noch vier Plätze und sechs Kandidaten."
Jan war nicht einfach weitergerutscht, wie wir gehofft hatten, somit waren auch die Stipendien schon vergeben. Letzteres war nun wirklich kein großes Problem, aber ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass es zu so einer Situation kommen könnte. Ob mir eine direkte Ablehnung lieber gewesen wäre? Ehrlicherweise: Ja. Der Gedanke, dass sich Jan erneut unter Stress beweisen musste, setzte mir zu. Das Mutterherz litt.
Wir vereinbarten einen Termin.
Am Montag.
Während des Unterrichts.
Es sollte ein echter Probetag werden.
Mit allem drum und dran.
Als ich den Hörer auflegte, waren meine Beine wie aus Pudding.
Und mir war schlecht.
Und dann war es Jan, der diesen Tag zu seinem machte. Paul hatte sich extra so kurzfristig frei geschaufelt. Auf keinen Fall wollte er uns damit alleine lassen. Während Jan am Vormittag am normalen Unterricht teilnahm - Chor, Mathe und Gesang- unterhielten wir uns mit dem Direktor und Jans möglichem Vertrauens- und Klassenlehrer. Wir erfuhren, dass man sich auch wegen Jans schwankenden Leistungen unsicher war. Sie befragten uns zu seiner Biografie. Ich weinte, als ich von seiner Geburt erzählte, Paul hielt stumm meine Hand. Ellis Tod war Thema, Jans Streben um Anerkennung von seinem Bruder. Der selbst viel zu klein gewesen war, um dies zu begreifen. Zur ersten großen Pause trafen wir ihn wieder und Jan strahlte vor Glück. Entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung erzählte er unaufgefordert von den ersten Stunden des Tages. Als er für den zweiten Block - Deutsch, Bio und Orchester - abgeholt wurde, drückte Paul fest meine Hand.
Am späten Nachmittag waren wir auf dem Heimweg. Ich beobachtete über den Rückspiegel, wie Jan mit dem Schlaf kämpfte. Nach dem Mittagessen hatte er noch ein Einzelgespräch mit dem Vertrauenslehrer geführt und eine Klavierstunde absolviert. Wir hatten derweil einen langen Spaziergang unternommen, das Haus des Lernen besichtigt und die Aufenthaltsräume zu Gesicht bekommen. Sollte die Schule annehmen, würde ihn bis zur Klasse 7 jeden Tag der Fahrdienst abholen und auch nach Hause bringen. Er würde ein Schloss für einen Spind benötigen. Nur wenige Bücher würde er mit nach Hause bringen, da fast 90% der Aufgaben hier erledigt wurden. Zudem brauchte er Sportsachen und Freizeitkleidung, die aber in der Schule gewaschen wurden. Daher war es wichtig, alles mit Schildchen zu versehen.
Zuhause erwartete uns Jakob, der sofort alles wissen wollte. Obwohl Jan müde war, erzählte er seinem Opa ausführlich von dem Tag. Er schloss mit dem Wunsch, dass er auf diese Schule wollte. Und er wiederholte ihn, als ich ihn später ins Bett brachte.
"Mama? Darf ich da hingehen?", fragte er mich, als ich das Buch beiseite legte, aus dem wir zusammen gelesen hatten.
"Ich hoffe es sehr, Schatz" ,antwortete ich milde. Strich ihm durchs Haar. Jan hatte sich unter seine Decke gekuschelt und in seinem Blick lag ein Flehen. Aber es lag nun mal nicht an mir. Oder seinem Vater. Ginge es nach uns, könnte er sofort wechseln. Ich hoffte sehr, dass uns die Schule nicht zu lange auf die Folter spannen würde. Das wäre nicht gut. Weder für unseren Sohn, noch für uns. Dem Jungen fielen die Augen zu und ich löschte das Leselicht über seinem Bett. Dann ging ich zur Tür, dort lehnte Paul. Der mich wortlos in den Arm nahm.
Die Zusage kam am Ende der Woche, wir nahmen sofort an. Ich weinte vor Erleichterung. Es fiel eine Last von mir ab. Erst jetzt merkte ich, wie angespannt und fixiert ich gewesen war. Als wir es Jan sagten, war da so viel Freude in ihm. Martin knuffte seinen Vater in die Seite, als wir bei Kaffee und Kuchen im Garten saßen. Und Jakob wischte sich beschämt ein paar Tränken aus dem Auge. Seit Ellis Tod vielleicht der schönste Tag. Voller Hoffnung und Zuversicht steuerten wir den Sommerferien entgegen. Welch neues Gefühl. Wir freuten uns auf das neue Schuljahr. Wir alle.