Wenn man so lange verheiratet ist, dann spielen sich Routinen im Alltag ein. Bis heute steht Paul sehr früh auf. Er brauchte schon damals diese erste Stunde am Morgen, ehe der Familientrubel einsetzte. Er konnte in Ruhe duschen, ohne dass sich die Jungs stritten, wer zuerst ins Bad wollte oder musste. Er kochte Kaffee, las den ersten Teil der Zeitung, den zweiten immer am Mittag und das Rätsel hob er sich für den Abend auf. Wenn ich im Morgenmantel herunter kam um das Frühstück zu richten, wartete schon immer eine volle Tasse Kaffee auf mich. Er war es, der anschließend die Kinder weckte und dann eine erste Pfeife auf der Terrasse rauchte und den Hund fütterte.
Martin brauchte wie sein Vater die Ruhe des Morgens. Ein Frühstück, ein langsames wach werden. Oft saßen die Beiden einträchtig schweigend am Küchentisch. Jan war kein Morgenmensch. Morgens bekam er kaum einen Bissen herunter. In der Regel packte ich ihm sein Frühstücksbrot ein, so dass er es auf dem Weg oder irgendwann später essen konnte. Waren die Jungs aus aus dem Haus, saßen Paul und ich noch zusammen bis Paul ins Büro musste.
Längst fuhr Martin mit dem Mofa zur Schule. Endlich war er nicht mehr abhängig vom Schulbus, den er oft genug verpasst hatte. Bisher hatte Jan eine knappe Viertelstunde zur Grundschule zu Fuß gebraucht, ab diesem Schuljahr wurde er deutlich früher vom Fahrdienst der Privatschule abgeholt. Nur zur Einschulung hatten wir ihn gebracht, schon am ersten Tag war es aber mit dem kleinen Bus nach Hause gegangen. Alex stand pünktlich fünf Minuten vor Abfahrt im Hof, wir hatten mit seinen Eltern und dem Fahrer verabredet, dass die Jungs bei uns zustiegen. So konnte sich der Fahrer einen zweiten Halt sparen.
Alex war die Zuverlässigkeit in Person. Kam er nicht, war er in der Regel krank. Spätestens wenn er Sunny begrüßte, musste Jan mit seiner Trödelei zu Ende kommen. Irgendwas suchte der Junge immer. Sein Aufbruch in den Tag wirkte immer hektisch, egal wann er aufgestanden war. Egal wie viel Zeit wir ihm einräumten. Kaum, dass der Bus dann aus der Einfahrt verschwunden war, verabschiedete sich Martin. Meistens rief er uns noch im Herauslaufen zu, dass er uns lieb hatte, dass er vorsichtig fahren würde und wann er zurück sei. Dann fiel die Tür ins Schloß, der Hund bellte leise und das Knattern des Mofas war noch zu hören, bis er am Ende der Straße abgebogen war.
Dann war da nur noch Stille. Maximal das Schlürfen meines Mannes, der seinen Kaffee leerte. Leise Musik aus dem Radio, das immer im Hintergrund lief, obwohl niemand richtig hinhörte. Kurz nach Sieben, jeden Morgen. Die Gelegenheit, über anstehende Termine zu sprechen.
Bis zum Mittag gehörte der Tag einfach nur mir. Ich vesorgte die Tiere, bereitete die Suppe für das Essen vor, arbeitete im Garten, erledigte die Hausarbeit und machte Besorgungen im Dorf. Oft kamen aber auch Pferdebesitzer auf einen Plausch oder meine beste Freundin Annemarie vorbei. Mit Jans Schulwechsel änderte sich meine Routine ab dem Mittag, denn er kam ja nur noch Freitags zum gemeinsamen Mittagessen aus der Schule. Inzwischen half ich auch meinem Schwiegervater bei seinem Haushalt. Die Hauptmahlzeiten nahm er mittlerweile bei uns ein. Jakob alterte deutlich in diesen Monaten. Dazu war Margarete nach einem Sturz, der damit verbundenen Operation und einer langen Reha in ein betreutes Wohnen umgezogen. Einmal in der Woche fuhr ich zu ihr, um nach dem Rechten zu sehen. Martin besuchte sie häufig nach der Schule und übernahm kleinere Besorgungen. Er verstand sich nach wie vor am Besten von uns allen mit meiner Mutter.
Jans erster Gang am Nachmittag galt immer seinem Großvater. Kaum dass er den Ranzen abgestellt hatte, eilte er in den Kotten oder die Werkstatt. Gemeinsam arbeiteten sie im Spätsommer an einem neuen Schreibtisch für den Jungen. Jakob bestätigte mir immer wieder, wie geschickt Jans Umgang mit den Werkzeugen war.
Und auch bei Martin hielt der Nachmittagsunterricht vermehrt Einzug. Dazu sein Fussballtraining und er gab nach wie vor zahlreiche Nachhilfestunden. Mit eisener Entschlossenheit hatte er es sich in den Kopf gesetzt, schon jetzt für den Führerschein und ein kleines Auto zu sparen. Dabei hatte er noch über zwei Jahre Zeit. Doch so war, nein, ist Martin. Die Idee war da, der Plan auch und von seinen Zielen ließ er sich kaum abbringen. Immerhin verstanden sich die Brüder besser als je zuvor. Natürlich war nicht alles Gold was glänzte.
Wir erwischten Martin heimlich beim Rauchen und an seinem 16. Geburtstag war er das erste Mal betrunken. Paul hielt ihm eine lange Standpauke und führte eines seiner langen Erziehungsgespräche. Martin akzeptierte die Woche Hausarrest beinahe ohne Murren, was mich dann doch sehr wunderte. Auch hatte er zahlreiche andere kleinen Geheimnisse, auf die wir nach und nach stießen. Heimlich hatte er einen Austrägerjob angenommen und verteilte in aller Herrgottsrühe donnerstags Anzeigenblättchen. Paul stolperte erst darüber, als er eines morgens früher wach war und Martin gerade ins Haus zurückschlich.
Während wie ihn am Samstagnachmittag beim Fussball vermuteten, saß er drei Dörfer weiter an einer Supermaktkasse. Angesprochen darauf, wozu er all das Geld benötigte, gestand er uns, dass er mit einer sehr anspruchsvollen jungen Dame ausging. Dem Fräulein wusch Paul ordentlich den Kopf.
"Zuneigung kann man doch nicht kaufen", erklärte ich schmunzelnd meinem Sohn.
"Naja, der Bastian wollte halt auch mit ihr gehen", erklärte er sich achselzuckend. Innerlich musste ich mich ganz schön zusammenreißen. Er sah gar so zerknirscht aus. Immerhin wurde das Mädel bald von einer Julia und dann von einer Gabi abgelöst. Erstmals litt Martins Konzentration und seine Noten war nicht ganz auf dem Niveau, wie sonst. Kurz vor Ostern führten wir ein längeres Gespräch mit ihm.
"Wegen uns musst du nicht all dein Taschengeld sparen, Martin", eröffnete ihm Paul.
"Aber der Führerschein, Papa. Und ein kleines gebrauchtes Auto kostet ja auch Geld."
Paul sah zu mir, wir saßen unserem Sohn in der Stube gegenüber.
"Es ist ja nicht so, als hätten wir nichts dafür angespart", sagte Paul.
Leopold hatte noch vor seinem Tod ein Sparbuch für unseren damals ungeborenen Sohn angelegt und Margarete hatte das Gleiche für Jan getan. Auch Elli und Jakob hatten beide Sparkonten regelmäßig bedient. Auch von uns floss immer wieder etwas Geld dorthin. Wir erklärten Martin, dass der Führerschein kein Thema sein würde, wir seine Sparmaßnahmen aber sehr zu schätzen wussten.
"Und wegen eines Autos mach dir keine Gedanken. Da kommt Zeit und Rat", beruhigte Paul ihn weiter.
"Ich möchte das aber nicht einfach geschenkt bekommen", maulte Martin.
"Wie das Mofa."
"Das ehrt dich, Sohn. Aber ehe deine schulischen Leistungen leiden, weil du neben deinen ganzen Jobs keine Zeit zum Lernen hast oder übermüdet im Unterricht sitzt, nein. Keine Alternative."
Paul sah ihn ernst an.
"Und dann das Studium", flüsterte Martin. Nun legte Paul den Kopf zur Seite. Martin betrachtete seine Hände.
"Ich möchte doch so schnell wie möglich meinen Abschluss, damit ich die Firma übernehmen kann. Damit Mama und du euch noch schöne Jahre machen könnt."
Habe ich erwähnt, wie sehr ich meinen Großen liebe?
Ich seufte und auch Paul atmete tief durch.
"Du möchtest in die Firma einsteigen?", fragte er. Eifriges Nicken. "Ach, Schatz. Aber das hat doch alles Zeit. Du bist 16. Vielleicht gefällt dir in zwei oder drei Jahren etwas ganz anderes. Jetzt machst du erstmal dein Abitur und konzentrierst dich darauf", empfahl Paul.
"Aber ich hab doch alles schon recherchiert." Ausführlich erklärte Martin, wo er studieren wollte und mit welchen Schwerpunkten. Heimatnah war auf jeden Fall sein Ziel. Für die Uni hier brauchte er einen guten Abschluss, die Stadt war sehr begehrt. Martin wusste schon, dass es teuer werden könnte, vor Ort zu leben. Daher wiederum der Plan mit dem eigenen Auto. Wir waren ein wenig sprachlos. Wie er da so saß, mit diesem immer noch recht kindlichen Gesichtszügen, aber eben voller Ernst. Er sah Paul so unfassbar ähnlich, fast fühlte ich mich an den damals noch jungen Mann erinnert, in den ich mich so Hals über Kopf verliebt hatte. Aber wir waren dann doch ein paar Jährchen älter gewesen.
In mir wuchs der Wunsch, ihn einfach in den Arm zu nehmen. Schon damals überragte mich Martin deutlich, doch ausnahmsweise ließ er dann zu, dass ich ihn fest an mich drückte.
"Mach dir bitte nicht so viele Gedanken", brummte Paul. Nochmal zuckte Martin seine Schultern.
"Naja, Jans Schule ist bestimmt nicht billig, aber eben nötig. Da wollte ich euch nicht länger auf der Tasche liegen. Ohne die Schule schafft es der Kleine doch nicht."
Vor Rührung zwinkerte ich ein paar Tränchen beiseite. Martin hatte den Ernst der Lage schon da begriffen, wir brauchten erst die Katastrophe.
Sie lauerte schon, aber natürlich ahnten wir nichts. Jan kämpfte verbissen um Anschluss. Es fiel ihm einfach nichts in den Schoß. Außer es ging um die Musik oder um Holz. Dabei las er viel, verschlang in der Zeit alles was er in die Finger bekam, aber wehe es ging ums Lernen. Die Noten, besonders in Mathematik, waren unter Klassenschnitt. Deutlich. In zwei Fächern war er in einen Förderunterricht gerutscht. Das Hausaufgabenkonzept zeigte nur langsam Wirkung. Jan war nach wie vor unkonzentriert und träumte viel. Immerhin aber hatte man dort sehr viel mehr Geduld mit ihm. Die Lehrer nahmen sich Zeit und insbesondere der Vertrauenslehrer sah genauer hin.
Trotzdem flossen viele Tränen. Die erste Klassenarbeit in Mathe war so schlecht, dass sich Jan kaum getraut hatte, sie vorzuzeigen. Es blieb ihm aber nichts anderes übrig, denn wir mussten sie unterschreiben. Ein paar Tage druckste er herum und blieb auffällig unauffällig. Dabei sah man ihm an, dass er etwas mit sich herumschleppte. Erst nach einer schlaflosen Nacht schob er beim Frühstück seinem Vater das Arbeitsheft über den Tisch. Zudem ging es kaum anders, als dass er auch Zuhause hier und da nacharbeiten oder auf eine Arbeit lernen musste.
Jakob war es, der uns an die Pausen erinnerte und Jan wieder vermehrt unter seine Fittiche nahm. Mit dem Halbjahreszeugnis kam etwas Ruhe. Kleine Erfolgsmeldungen taten dem Jungen gut. Anerkennend kann man in der Rückschau nur sagen, dass er sich wirklich mit aller Macht aus diesem Kreislauf befreien wollte. Die Musik half ungemein. Der Gatte seiner ehemaligen Musiklehrerin war an der neuen Schule sein Chorleiter und erstmals hatte Jan richtigen Gesangsunterricht. Für den er logischerweise mehr Zeit hatte, wenn er weniger Förderunterricht besuchen musste und seine Hausaufgaben vom Tisch bekam. Wir staunten, wie flexibel der Unterricht angepasst wurde. Schwerpunkte wurden verschoben und Jan lernte, sich zu fügen. Ohne einen ordentlichen Schnitt in den Kernfächern keine zusätzlichen Übungsstunden und keine Teilnahme an den im Quartal stattfindenden Schulkonzerten.
Im ersten Halbjahr stand dies völlig außer Frage. Das Weihnachtskonzert hatten wir gemeinsam besucht, ebenso den dazugehörigen Gottesdienst der Schule. An beiden hatten Chor und Orchester teilgenommen und es hatte kleine Solostücke für einzelne Schüler gegeben. Von da an kannte Jan sein Ziel. Mit großen Augen hatte er zugesehen und als er für das Abschlusskonzerts des Schuljahres seinen Namen auf der Liste fand, leuchteten seine Augen. Noch kein Solo, aber immerhin dabei. Jakob wischte sich die Tränen aus den Augen und selbst Martin schien stolz auf seinen kleinen Bruder zu sein. Ich dachte an diesem Nachmittag viel an Elli. An ihre Worte, als unser Sohn erstmalig mit einem Chor gesungen hatte.
Als alle Schüler dann die Bühne verließen, suchten Jans ruhige grünblauen Augen nach uns und er winkte ganz vorsichtig, ehe er hinter dem Vorhang verschwand. Paul lächelte, als er seinem Vater vom Stuhl half und zwinkerte mir zu. Wir waren glücklich und stolz, voller Freude und Hoffnung. Das war gut, eine völlig normale Reaktion. Wer konnte den ahnen, dass dieser Sommer alles verändert würde? Ja, es hätte auch alles gut werden können, wie oft habe ich mir das im Nachhinein ausgemalt. Das Schicksal schlug zu und wir trafen Entscheidungen, die wir bereuen sollten.