Alles was ich heute erzähle, hat sich mir als Gesamtbild erst im Laufe der Jahre erschlossen. Stück für Stück. Aus Erzählungen Jans, Ingas und teilweise auch Annas. Später folgten weitere Details, die unser Sohn sehr lange für sich behalten hatte. Aus unserer damaligen Sicht war es ein Durcheinander. Wir begriffen vieles nicht, übersahen entscheidende Kleinigkeiten und uns war der Blick verstellt. Vielleicht waren wir zu nah dran. Vielleicht haben wir es nicht sehen wollen. Vielleicht nicht sehen können, weil man ja immer glaubt, solche Dramen spielen sich nur in anderen Familien ab.
Fangen wir nochmal mit dem Abend an, dem sich Jan so seltsam verhielt. Er war am Hochsitz gewesen. Hatte sich dort auf dem Walkman eine Partitur angehört und versucht, sich die Melodie einzuprägen. Irgendwann hatte er zum See gesehen, da hatte Anna schon knöcheltief im Wasser gestanden. Bis er zum Ufer gerannt war, stand ihr das Wasser zur Hüfte. Sie hatte nicht auf sein Rufen reagiert. Tat sie auch jetzt nicht, aber sie hatte sich immerhin zu ihm herumgedreht. Jan hatte nicht gezögert und war ihr hinterhergeeilt. Als sie weitergehen wollte, zog er sie mit großer Kraftanstrengung hinaus. Dabei wehrte sie sich und fiel komplett ins Wasser. Doch Jan zog sie auf die Böschung und als sie anfing zu weinen, hielt er sie fest.
"Warum?", hatte er gefragt. Und ihre Antwort hatte ihn sehr beschäftigt. Mich später auch.
"Das weißt du, dir geht`s doch nicht anders. Ich habe es gesehen, in deinen Augen."
Er hatte sie in die Werkstatt gebracht, sich selbst im Haus umgezogen und ihr ein paar Klamotten und Handtücher geliehen. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, dass sie es nie wieder versuchen würde. Im Gegenzug versprach er, zu schweigen. So erfuhren zunächst weder Inga noch wir von diesem Versuch. Es sollte, sie hielt ihr Versprechen gegenüber Jan nicht, nicht der letzte gewesen sein. Und mindestens zweimal hatten sie sich in den Kopf gesetzt, gemeinsam zu sterben. Dabei versuchte Jan in der ersten Zeit, auf Anna aufzupassen. Was wir als Fixierung wahrnahmen, war in Wirklichkeit der verzweifelte Versuch unseres Sohnes, seiner Freundin das Leben zu retten. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Zumal er sich damit erstmals selbst und direkt damit auseinandersetzte, sich dies tatsächlich an zu tun. Ob er davor wirklich und ernsthaft gefährdet gewesen war?
Eine schwere Frage.
Darüber habe ich mir in den letzten Monaten oft den Kopf zerbrochen. Ganz bestimmt hat es Momente in Jans Jugend gegeben, in denen er sich wünschte, er wäre nicht mehr am Leben. Er hatte ja einst selbst geäußert, dass vielleicht dann der Schmerz enden würde. Den er immer noch tief empfand. Aber ob er allein jemals diese Schritte gegangen wäre? Welch ein Gefühlschaos in ihm geherrscht haben muss. Er war zum ersten Mal verliebt. Gleichzeitig sorgte er sich um Anna. Durfte nicht erzählen, was beinahe am See passiert war. Konnte niemandem um Rat fragen. Dazu die eigenen Empfindungen, die nie verarbeitete Trauer und diese hohe Sensibilität.
Mir hat jemand erklärt, dass es diese Menschen gibt, die auch jede Schwingung um sich herum aufnehmen. So muss es Jan mit Anna gegangen sein. Was hätten wir tun können? Wenn wir denn nur teilweise geahnt hätten, worüber sich die Beiden austauschten. Welche Pläne sie verfolgten. Laut Jan schwankte es auch sehr. Mal malten sie sich ein gemeinsames Leben in München aus, als reisendes Musikerpaar, mit heimlicher Hochzeit in Paris, mal erarbeiteten sie Pläne, wie sie gemeinsam aus dem Leben gehen wollten.
Wir hätten ihn dem Umgang mit Anna verbieten können. Hätte es was genützt? Sie waren auch verliebte Teenager. Das darf man bei alldem nicht vergessen. Anna war die erste Frau, die Jan geküsst hat. Er erlebte sein erstes Mal mit ihr, sie hatten definitiv auch ihre gesunden Phasen. Inga, die hat es nach einem Zwischenfall im Sommer versucht, wollte Anna fernhalten. Wir vertraten auch danach den Standpunkt, dass wir sie nicht in Heimlichkeiten treiben wollten. Wir dachten, lieber bekommen wir mit, was sie anstellen.
Dabei hatten sie uns kurz vor den Sommerferien Anlass genug gegeben. Sie hatten uns belogen, gezielt. Von einem Grillabend mit der Clique erzählt, dass sie wie die anderen dann am See zelten wollten. Was immer mal vor kam und uns daher auch nicht aufhorchen ließ. Erst als Paul und ich abends durchs Dorf schlenderten, wir kamen vom Luigis und wollten noch ein Eis auf die Hand, und uns dabei Alex mit seiner damaligen Freundin entgegen kam, wunderten wir uns. Und auch Alex reagierte überrascht, er wusste von keiner Feier und gemeinsam gezeltet hätten sie schon eine Weile nicht mehr. Paul hob die Augenbraue und sah mich an. Während Jans Kumpel sich verabschiedete, gingen wir langsamen Schrittes weiter. Die Zwei wollten einfach einen Abend für sich, argumentierte ich. Dennoch, so Pauls Meinung, musste Jan dafür nicht lügen. Wieder diese Geheimniskrämerei. Wir beschlossen, den Beiden zu vertrauen. Jan war fast 17, Anna 18. Sie waren keine kleinen Kinder mehr. Hätten wir um die Geschehnisse im Herbst gewusst, niemals wäre ich ruhig geblieben.
Am Vormittag stand dann überraschend Inga vor der Tür. Sie wollte Anna etwas bringen, was jene vergessen hatte und war offenbar der Auffassung, dass sie bei uns war. Noch während ich Inga hinein bat, griff Paul nach seinen Autoschlüsseln. Und kehrte 40 Minuten später alleine zurück. Am See waren nur morgendliche Schwimmer gewesen, niemand hatte dort ein Zelt gesehen. Auch der Hochsitz war verlassen gewesen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Inga wollte die Polizei rufen und nach Jan und Anna suchen lassen. Sie berichtete uns unter Tränen, dass Anna den Tod des Vaters nicht verarbeitete. Mir wurde ganz anders. Keinen Ton hatte Anna dazu anklingen lassen. Diese Parallele zu Jan sahen wir sofort und Paul nickte.
Wir kannten die beiden Polizeibeamten gut, die uns wenig später gegenüber saßen und die Vermisstenanzeigen aufnahmen. Man beruhigte uns, dass die meisten Jugendlichen schnell wieder auftauchten. Sie erfragten Details und wir suchten Fotos heraus. Gerade als der jüngere Beamte uns versicherte, dass die Kinder bald wieder bei uns sein würden, schob Jan wie auf Kommando sein Fahrrad in den Hof. Auf dem Gepäckträger das Zelt, den Rucksack auf dem Rücken.
Inga stürzte heraus, ich konnte ihr kaum folgen, so schnell war sie. Sie war bei Jan angekommen und schrie ihn an. Wollte wissen, wo Anna sei und packte unseren Sohn an den Oberarmen. Jan hatte das Fahrrad losgelassen, er war blass und sah vollkommen übernächtigt aus.
"Zuhause. Sie ist Zuhause", antwortete er und sah an Inga vorbei. "Es geht ihr gut", fügte er noch hinzu. Inga ließ ihn los und Jans Blick ging immer noch zu Paul. Weitere Fragen prasselten auf ihn ein, Inga wirkte völlig hysterisch.
Mein Mann griff ein.
"Komm, ich fahre dich schnell", bot er ihr an. Sie wandte sich um. Nickte. Die Beamten sahen interessiert zu und fragten dann, ob wir sie noch brauchten. Energisch verneinte Paul. Er ging an Jan vorbei, sah ihm kurz in die Augen, berührte ihn an der Schulter und schickte ihn auf sein Zimmer. All das tat er ruhig und ohne laut zu werden. Sehr besonnen und damit brachte er auch Inga dazu, sich etwas zu beruhigen. Die Beamten hatten einen Moment gezögert, uns beobachtet und waren dann in ihren Wagen gestiegen.
Paul wartete, bis Jan im Haus verschwunden war, dann lehnte er das Fahrrad an die Wand der Werkstatt und hangelte erneut nach dem Autoschlüssel.
"Ich bringe Inga schnell rüber." Er gab mir einen Kuss und zwinkerte mir aufmunternd zu. Dann flüsterte er mir zu, dass ich darauf achten sollte, dass Jan sich nicht verschanzte oder gar wieder verschwand. Wir hatten Redebedarf.
Im Obergeschoss lief die Dusche. Jan hatte seinen Rucksack achtlos auf sein Bett geworfen, seine verdreckten Schuhe hatten Spuren auf der Treppe hinterlassen und lagen vor dem Fenster. Seine Jacke hatte er über den Schreibtischstuhl geworfen. Die getragen Klamotten lagen auf einen Haufen vor seinem Schrank. Wie oft hatte ich ihn schon gebeten, dass er die Sachen zeitnah in die Wäschetonne gab? Gerade als ich danach greifen wollte, stand er mit einem Handtuch um die Hüfte in der Tür.
"Ich mach das gleich, Mama", sagte er. Ich starrte ihn an.
Er hatte einige Blutergüssen am Oberkörper. Kratzer an den Armen, Schrammen bis hin zu den Handgelenken und einen besonders tiefen an der Wade. Das breite Kreuz fiel mir auf. Das Ergebnis des Schwimmtrainings und der Gewichte, die er neuerdings wie sein Bruder stemmte. Als Martin in den Semesterferien im Frühjahr hier gewesen war, hatte er mit dem Jüngeren trainiert. Die Jungs waren sich erstmals auf Augenhöhe begegnet, Jan war schon fast so groß wie Martin. Man konnte sehen, dass er auch nach der Abreise seines Bruders fleißig weiter mit den Hanteln gearbeitet hatte. Jetzt verschränkte er die Arme, Trotz lag in seinem Blick. Ich wusste, er würde mir jetzt keine meiner Fragen beantworten. Stattdessen bat er mich, ihn allein zu lassen. Er wollte sich anziehen. Ich bat ihn, danach runter zu kommen. Jan antwortete, dass er sich hinlegen wollte. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben, also nickte ich. An der Tür blieb ich nochmal stehen, er hatte bereits die Schranktür geöffnet. Ich musterte ihn.
"Wir werden darüber reden müssen", mahnte ich. Er nickte ergeben.
"Ich weiß", antwortete er.
Später tischte er uns eine Geschichte auf, die im Nachhinein der Wahrheit sehr nahe kam und die wir vermutlich auch deshalb schluckten. Sie war plausibel und die Lücken ließ Jan geschickt aus. Er und Anna hatten für ein Wochenende heimlich allein sein wollen. Da es ihr gerade nicht so gut ging und sie schlimmen Stress mit ihrer Mutter hatte. Inga und Anna stritten viel, das stimmte. Oft hatte sie mir selbst davon erzählt, wenn sie mir in der Küche geholfen hatte. Jan verneinte, dass sie hatten weglaufen wollen. Und schon gar nicht durchbrennen. Ihr Plan war gewesen, bis Sonntag wegzubleiben, etwa 20 km entfernt hatten sie angeblich einen auf einem Zeltplatz schon alles organisiert gehabt. Die Nacht sei dann zum einen kühler gewesen als gedacht und Anna hatte schlecht geträumt. Dabei, so Jans Schilderung, habe sie wild um sich geschlagen und dabei Jan so zugerichtet.
Bei diesen Worten starrte Jan seine Tasse an und vermied jeden Augenkontakt mit uns. Er hatte die ganze Nacht gebraucht, um sie zu beruhigen und dann gegen ihren Willen entschieden, die Aktion abzubrechen. Er habe sie nach Hause gebracht, dabei hätte sie ununterbrochen geschimpft. Vieles davon stimmte. Anna ließ sich ein paar Tage nicht blicken. Inga glaubte die Geschichte weder ihrer Tochter, noch unserem Sohn. Sie setzte alles daran, dass Anna anderweitig beschäftigt war, verreiste mit ihr über die gesamten Sommerferien, was Jan den ersten bitteren Liebeskummer seines Lebens einbrachte. Wir zweifelten die Version nicht wirklich an. Nicht mal, als ich in Jans Schmutzwäsche auch sein blutbeflecktes Hemd entdeckte.
Ausgelassen oder beschönigt hatte Jan entscheidende Dinge. Zum einen hatten Anna und er vorgehabt, nicht einfach nur das Wochenende weit weg von uns zu verbringen. Vielmehr wollten sie vermeiden, dass man sie zu schnell entdeckte. Und rettete. Der perfide Plan, dass sie sich gemeinsam umbringen wollten. Die Pulsadern hatten sie sich aufschneiden wollen und sich davor tüchtig Mut angetrunken. Einige der Schrammen, hätten wir sie näher begutachtet, zeugten davon, dass es auch Jan versucht hatte. Mit dem Hemd hatte er die nur leichte Blutung gestoppt. Die Blutergüsse hatte ihm tatsächlich Anna beigebracht, als er die Notbremse des irrwitzigen Vorhabens gezogen hatte.
Weil er tief drin zu viel Angst gehabt hatte. Noch mehr Angst als vor dem Leben hatte er vor dem Tod gehabt. Sie hatten miteinander gerangelt, Anna wollte es notfalls auch alleine durchziehen, aber das konnte und wollte Jan nicht zulassen. Es gelang ihm mühelos, ihr die Rasierklinge abzunehmen. Er rettete sie also wieder und sie warf ihm an den Kopf, dass sie ihn hasste. In der Nacht hatte sie zweimal versucht, von ihm wegzulaufen, aber Jan blieb aufmerksam, machte einfach kein Auge mehr zu. Vor ihrer Haustür wollte er warten, ob Ihre Mutter da war. Er hatte furchtbare Angst, dass sie es beenden würde, wenn er sie jetzt alleine ließ. Doch Inga war ja bei uns.
Anna wollte ihn nicht in die kleine Wohnung lassen, doch wieder setzte Jan seine körperliche Überlegenheit ein. Vermutlich hatte er ihr weh tun müssen, sie hatte blaue Flecken an den Armen, weil er sie fest gepackt hatte. Ehe sie sich ins Bad einschließen konnte, drängte Jan sie in ihr Zimmer. Dabei müssen sie so laut gestritten haben, dass eine Nachbarin durch die offene Wohnungstür herein kam. Im Vertrauen darauf, dass Anna nicht alleine war und Inga bestimmt bald zurück, machte er sich auf seinen Heimweg. Erst jetzt hatte er bemerkt, wie erschöpft er war. Dass er nur noch ins Bett wollte und alles vergessen.
Mir zerriss es Jahre später beinahe das Herz. Niemandem hatte er sich anvertraut. Den Sommer verbrachte er mit der Clique, blieb insgesamt still und wenn ich mir versuche vorzustellen, wie es in seiner Seele ausgesehen haben muss, schießen mir die Tränen in die Augen. Natürlich kamen Inga und Anna wieder und bereits in den Herbstferien waren die beiden wieder ein Paar. Inga eröffnete uns, dass sie den beiden nicht vertraute. Auch wir waren skeptisch, verbaten uns Lügengeschichten und hofften einfach, dass die Zeit auf unserer Seite war. Sie waren ja noch so jung. Das ganze Leben lag vor ihnen.
Während sich Martin um ein Auslandssemester bewarb, London, erlebten wir eine relativ unaufgeregte Zeit. Immer wieder kriselte es zwischen Jan und Anna, aber sie ließen sich einfach nicht los. Schon da zeigte sich, dass Jan und Liebeskummer ein sehr eigenes Thema wurde. Seine Traurigkeit wandelte sich schnell in Jähzorn. Es blieb dabei, dass er alles mit sich allein ausmachen wollte. Auch mit Alex oder Martin sprach er nicht, wenn ihn etwas bedrückte, obwohl sich die Brüder viel näher gekommen waren. Im nächsten Sommer kam Ursel aus den Staaten und blieb mit uns drei Wochen auf Texel, auch Martin war gekommen. Bei Margarete hatte man beginnende Demenz diagnostiziert, Ursel begleitete uns noch eine Woche nach Hause um unsere Mutter zu besuchen. Sie lernte Anna kennen, die nach einem Streit mit Inga zwei Tage bei uns schlief. Ehe sie uns Richtung Flughafen verließ, nahm sie mich nochmal beiseite.
"Das wird nicht gut gehen", mahnte sie eindringlich. "Denkt mal darüber nach, ob ihr Jan nach dem Abitur nicht ein bisschen zu mir schicken wollt. Ich kann ihm mit Sicherheit ein paar Klassen und Kurse ermöglichen." Sie nahm mich lange in den Arm. Ich versprach mit Paul über diese Idee zu reden.
Wir erwogen es wirklich. Hätten wir gewusst, dass es Anna noch dreimal bis zum Abitur versucht würde und auch Jan nochmal, wir hätten ihn vermutlich direkt mit ihr geschickt. Aber wir waren blind und naiv. Wollten nicht wahrhaben, als Inga noch wenige Wochen vor der ersten schriftlichen Abiturprüfung andeutete, dass sie es nicht gut hieß, dass sie beiden nun tatsächlich zusammen nach München gehen würden. Im Nachhinein fühlt es sich beinahe wie blanker Hohn an, aber das konnte Inga ja damals nicht wissen. München war für ihre Tochter der Rettungsanker, der Wendepunkt. Und trotzdem verlor sie alles.