.... geriet Jans Welt aus den Fugen. Mit brachialer Gewalt wurde ihm, aber auch uns vor Augen geführt, dass vieles zu lange totgeschwiegen und verleugnet worden war. Meine tiefsten Ängste wurden wahr. Ein Auslöser zündete in Jans Seele eine Lawine. Unaufhaltsam suchte sich etwas seinen Weg. Es nahm keine Rücksicht. Weder auf Jan, noch auf uns. Und zunächst bekamen wir auch viel zu wenig mit. Das fehlende Ur-Vertrauen verhinderte, dass er sich sofort an uns wandte.
Viel zu lange war er der Auffassung, dass er alleine einen Weg finden würde. Wie falsch er damit lag. Es ist grausam, sein eigenes Kind so leiden zu sehen. Meine Hilflosigkeit machte mich wütend. Paul versuchte uns allen ein stabiler Halt zu sein und das gelang ihm unfassbar gut. Er blieb ein Fels. Stark. Zuversichtlich. Er gab auch unserem Sohn das, was der dann am Nötigsten brauchte. Kraft. Vertrauen. Hoffnung.
Aus Jans Kampf mit dem Leben wurde ein Kampf ums Überleben. Mir zerriss es mehrfach mein Mutterherz. Es raubte mir die Luft zum Atmen, als sich unsere Versäumnisse, seine Veranlagung und das Schicksal zu einem Bild zusammenfügten. Hatte Jan überhaupt eine faire Chance gehabt? Wenn wir achtsamer gewesen wären, in jungen Jahren? Aber ehe ich davon erzähle, muss ich noch Diana vorstellen. Denn sie brachte zunächst den Stein ins Rollen und sie war es, die Jan beinahe in den Abgrund stürzte.
Unser Bauchgefühl schlug Alarm. Sofort und laut, aber dennoch konnten wir nichts tun. Als Jan uns Diana vorstellte, war die Schwangerschaft nicht mehr zu leugnen. Mit keiner Silbe hatte unser Sohn diese Tatsache bisher erwähnt. Wir fielen aus allen Wolken. Relativ spontan hatte er seinen Besuch über das Wochenende angekündigt. Wir waren vollkommen ahnungslos gewesen. Auch von Diana wussten wir erst seit ein paar Wochen. Gleichzeitig eröffnete er uns, dass er zu ihr ziehen und Berlin verlassen würde.
Pauls Ruhe war mir direkt unheimlich. Er hatte zugehört, dabei die hübsche Blondine gemustert und keinen Ton gesagt.
„Wie habt ihr euch kennen gelernt?“, wollte ich wissen. Jan griff demonstrativ nach der Hand seiner Freundin.
„Über Jule. Sie hat mich auf eine Party mitgenommen, als ich sie in Stuttgart besucht habe.“ Jan sah mir in die Augen. In seinem Blick konnte ich ein bisschen Trotz erkennen.
„Uns ist klar, dass wir uns noch nicht lange kennen und das Baby war so natürlich nicht geplant, aber wir wollen unbedingt versuchen, eine Familie zu sein“, fuhr Jan fort.
Diana sah auf. Sie saß Paul genau gegenüber und hielt seinem prüfendem Blick stand. Die Ablehnung beruhte auf Gegenseitigkeit.
Erst ein paar Wochen später erfuhr ich über Jule, mit der ich über all die Zeit den Kontakt gehalten hatten, dass sie und auch Alex unserem Sohn eindringlich geraten hatten, die Finger von Diana zu lassen. Zunächst sei es wie mit den anderen Affären Jans nach der Trennung von Jule gewesen. Auf keine dieser Frauen hatte er sich ernsthaft eingelassen und auch Diana hatte der Sinn nicht nach einer ernsthaften Beziehung gestanden. Zudem hatte sie auf Heimlichkeit bestanden. Keine Treffen in der Öffentlichkeit. Nie war sie nach Berlin zu ihm gekommen, er aber hatte sich oft in die Bahn oder den Flieger gesetzt. Für ein paar wenige Stunden Zweisamkeit. Oft hatte ihn Diana auch kurzfristig versetzt. Und auch von der Schwangerschaft hatte sie ihm zuerst nichts erzählt. Aber da glaubte Jan schon lange, dass er sich verliebt hatte.
Paul sprach aus, was ich dachte, aber nicht hatte fragen wollen.
„Und du bist dir sicher, dass das Kind von dir ist?“
Wir saßen am späten Abend allein mit ihm in der Stube. Diana hatte sich schon zurückgezogen. Ich hielt die Luft an, während Jan seinen Vater mit offenem Mund ansah.
„Papa! Bitte“, sagte er dann. Paul schüttelte nur den Kopf.
„Liebst du sie? Oder bleibst du aus Pflichtgefühl bei ihr?“, fragte er weiter. Ich berührte ihn sanft am Arm. Wollte verhindern, dass er zu weit ging. Jan biss sich auf die Lippe.
„Du weißt, dass du jederzeit auf uns zählen kannst. Aus finanziellen Gründen musst du das nicht tun, auch wenn es dich ehrt, dass du die Verantwortung übernehmen willst“, fuhr Paul fort. Er sprach bestimmt, aber in seiner ganz eigenen Ruhe. Seufzend lehnte sich Jan zurück.
„Natürlich liebe ich sie. Sie wird die Mutter meines Kindes sein.“ Ein bitteres Lachen entfuhr meinem Mann.
„Da sollten schon noch andere Gründe eine Rolle spielen, mein Sohn.“ Er sah mich an.
„Macht sie dich glücklich? Ist sie die eine, die dich versteht, respektiert, liebt und deine andere Hälfte ist? Habt ihr ein gemeinsames Bild vom Leben? Vom Lieben? Fühlt es sich so an, als würde nichts, gar nichts, euch etwas anhaben können? Kannst du dir vorstellen, mit ihr im Alter vor einem Kamin zu sitzen?“
Bei seinen Worten hatte ich Tränen in den Augen. Und das nicht nur, weil es eine perfekte Liebeserklärung an unsere Ehe war, sondern auch, weil ich zusehen konnte, wie Jan diese Worte trafen. Ich bin mir sicher, dass Jan schon an diesem Abend hätte wissen müssen, dass er einen großen Fehler machte, aber er wollte es nicht wahrhaben. Unbedingt wollte er, dass es funktionierte. Vielleicht zu sehr. Hatte ihn anfangs begeistert, dass Diana eben nicht in seine Seele eindringen wollte, so frustrierte es ihn nur wenige Monate später. Erst hatte er alles dafür getan, dass auch sie ihm nicht zu nahe kam. Dann aber konnte er sie mit keinem Mittel der Welt dazu bewegen, dass sie ihm genau die Partnerin wurde, die er sich tief im Herzen wünschte. Und die er brauchte. Die Katastrophe war vorprogrammiert. Paul hat sie kommen sehen, wenn auch nicht diese Wucht. Er gab Diana genau eine Chance. Sie nutze sie nicht.
Sie lehnte Jans Heiratsantrag nur wenige Wochen vor der Geburt Davids ab. Wir haben ihr versucht Brücken zu bauen, ich noch länger als Paul, aber sie blieb eine Fremde für uns. Dank Alex, der auch mit Hilfe Jules Kontakten mit seiner Agentur ebenfalls in Stuttgart ansässig geworden war, kam Jan dort an einem renommierten Musiktheater unter. Zumindest wussten wir ihn in einem sozialen Umfeld, das ihn nicht würde fallen lassen. Obwohl Jule wieder in festen Händen und auch Alex mittlerweile verheiratet war, nahmen sie sich seiner an. Als kurz nach Martins Geburtstag dann unser Enkelsohn das Licht der Welt erblickte, nahm Paul seinen Vorwurf über ein mögliches Kuckuckskind zurück. Auf dem Foto, das uns Jan noch aus dem Kreißsaal schickte, strahlten uns hellblaue Augen an. Die gleichen Augen wie Paul und Martin. Erst Jahre später sollten wir wieder daran erinnert werden.
Wir besuchten die kleine Familie über die Weihnachtstage, lernten auch Dianas Eltern kennen. Es verwundert wahrscheinlich nicht, dass wir keinen Draht zueinander fanden. Dianas Vater war ein strenger, sehr konservativer Mann, der aus der Verachtung vor Jans Beruf keinen Hehl machte. Ihre Mutter strahlte so wenig Emotionalität aus, dass ich fürchtete, in ihrer Gegenwart zu erfrieren. Beide mochten Jan nicht, beide standen der Beziehung skeptisch gegenüber. Und ich werde niemals begreifen, wie man auf dieses wunderschöne Baby so gefühllos reagieren konnte. Egal wie wir zu ihr standen, sie hatte uns dieses Enkelchen geschenkt.
Jan und Diana wirkten natürlich müde, das Würmchen war gerade drei Wochen alt. Die Geburt hatte lange gedauert und Diana hatte sehr gelitten. Nie mehr, so sagte sie in diesen Tagen, würde sie sich dem je wieder aussetzen. Jan lächelte das Urteil seiner Freundin weg. Er war vollkommen verliebt in seinen Sohn und offenbar war er es, der den Säugling am Besten beruhigen konnte. Jan als Vater zu sehen, war unglaublich berührend. Zum ersten Mal strahlte er eine eigene, innere Ruhe aus und erinnerte mich hierin sehr an Paul. Ich weiß, dass er alles versucht hat, diese Familie zusammenzuhalten.
Er setzte eine halbe Saison aus, weil Diana alleine überfordert war. Nur hier und da übernahm er Liederabende oder kleinere Konzertprojekte. Alex hatte mit dem Geld, das Jan in der Vergangenheit verdient hatte, gute Reserven gebildet. Uns fragte er jedenfalls nicht einmal nach Unterstützung. Dann wurde ihm eine Rolle angeboten, zu der er nicht nein sagen konnte. Die Produktion sollte fest für viele Jahre in Stuttgart angesiedelt sein, es klang einfach nur perfekt. Sicherheit, ein festes Einkommen. Dazu konnte er bei David und Diana bleiben. Es gab seiner Karriere einen ordentlichen Schubs. Als der Kleine eineinhalb wurde, wollte Diana wieder arbeiten. Sie fühlte sich nur mit dem Kind nicht wohl. Er ließ durchblicken, dass sie mit dem Kind nicht viel Geduld hatte. Später bezeichnete er sie David gegenüber als lieblos.
Alles fühlte sich fragil an. Die Beziehung der Beiden an sich. Das Familiengefügte. Jans Verhältnis zu ihren Eltern, ihres zu uns. Dazwischen der Kleine. In den immer kürzer werdenden Telefonaten mit Jan spürte ich, dass er weit davon entfernt war, glücklich zu sein. Unsere Sorgen wuchsen, wir erkannten gleichzeitig, dass es uns nicht zu stand einzugreifen. So wenig wie wir es bei Martin und Nele tun konnten, galt dies auch für Jan und Diana. Während Martin aber viel zu uns kam, unsere Meinung zumindest hören wollte, so sehr schloss Jan uns aus. Er entglitt uns. Über Jule hörte ich beinahe mehr über ihn, als von ihm selbst. Es schmerzte mich. Ungemein sogar. Eine kleine, leise Stimme sagte mir, dass dies nun die Konsequenz war. Paul aber gab mir Zuversicht. Tröstete mich. Gab dem Funken an Hoffnung in mir Nahrung.
Wie oft wir Jan in diesen Jahren sahen? Zwei Hände sind ausreichend. Die Geburt Davids. Seine Premiere. Zwei Geburtstage. Feiertage. Die Büroübergabe an Martin. Zwei Konzerte. Ein Kurzbesuch. Und Jan ließ nicht zu, dass wir tiefer hineinblicken durften. Und dann kam jener Herbst. David war noch keine vier Jahre alt. Als Diana mit einem Brief die Beziehung beendete und einfach so verschwand, stürzte Jan in ein Loch. Aber er fiel nicht bodenlos, sondern stieß immer wieder gegen Wände. Doch nirgends fand er den Halt, den er brauchte. Zumindest sah er ihn nicht. Auf dem Weg nach Unten waren wir die Statisten. Und allein das Zusehen war grausam. Und als Diana wieder auftauchte, stieß sie ihn den Abhang herunter, den er mühsam herausgeklettert war.