01.10.2019 von 11:16 bis 12:16
Blutsbande
Es war ein verregneter Nachmittag. Zwischen den Rillen der einzelnen Steinplatten des großen Platzes vorm Schrein sammelten sich die Tropfen des Himmels. Der Himmel musste sehr aufgebracht sein, so stark wie es schüttete. Ich war gerade dabei gewesen, den Schrein zu säubern, doch hielt der Regen mich davon ab und so wanderte ich zufällig über den Platz.
Als ich dann zwischendurch zu den Treppen sah, die zu uns den Berg hinaufführten, erkannte ich meinen Bruder. Er erklomm gerade die letzten Stufen zu uns. Fast blieb mir der Atem stehen, als ich ihn so sah.
"Vegris?", fragte ich aus vorsichtigem Munde. Ich wollte auf ihn zugehen, doch etwas hielt mich zurück. Es kam mir gar vor, als würde eine unsichtbare Macht mich dazu zwingen, ihm fernzubleiben. So stand ich nur da, mit zittrigen Beinen, und wandte mich von ihm ab, um ins Haus zu gehen und in der Küche einen Tee aufzusetzen. So durchnässt, wie er war, wäre es wohl besser, wenn ich damit anfange, dachte ich.
"Was ist los?", erklang plötzlich die Stimme meines Vaters hinter mir. "Hast du den Schrein schon fertiggesäubert?"
"Äh, also ... noch nicht", stammelte ich und machte mich darauf gefasst, angeschrien zu werden. Doch stattdessen hob er nur eine Augenbraue und nickte leicht. Was mich jedes Mal aufs Neue verwunderte. Im Grunde konnte ich mir wohl so ziemlich alles erlauben, wenn ich wollte. Mich würde man nicht schlagen oder anbrüllen, weil ich nicht das älteste Kind war. Weil ich nicht Vegris war. Ich hatte Mitleid mit ihm. Schon seit ich denken konnte, sah ich ihn stets auf dem Vorhof des Tempels, dem großen Platz aus Stein, wie er mit Vater zusammen trainierte. Mit ihm war er auch öfters in den Bergen wandern gewesen, um zu jagen oder zu meditieren. Die dünne Bergluft sollte ihm dabei helfen, seinen Körper zu stählen, indem dieser mit wenig auskam. Dass das Wenige genug sein möge, oder so ähnlich hatte es Vater mal erklärt. Wenn Vegris mal nicht genaustens den Anweisungen folgte, wie er sich zu bewegen hatte, machte unser Vater immer einen Satz auf ihn zu und schlug ihn mit einem Bambusstock, auf dass er besser aufpasste. Oft ging es dabei um Details in seiner Haltung oder seinen Bewegungen, die ich bis heute nicht ganz erfassen konnte. Vielleicht waren meine Augen dafür zu schlecht, was wusste ich schon.
Derweil war ich oftmals drinnen bei unserer Mutter und habe mich um das Haus gekümmert oder, alle paar Tage, um den Schrein. Auch war ich dafür zuständig, mich um die wenigen Besucher von Außerhalb zu kümmern, wenn sie es tatsächlich auf sich nahmen, die dreitausend Treppenstufen zu uns zu erklimmen. Ich war jedes Mal aufs Neue erstaunt, was diese Leute antrieb und war mit jeder Geschichte, die sie von den Ländereien am Fuße des Berges erzählten, überwältigt. Es musste wirklich schön dort sein. Und Tiere gab es dort auch viel mehr, so schien es. Dabei weckten vor allem die Hunde meine Neugier. Aber mir wurde nie erlaubt, hinunterzugehen. Es hieß, das sei viel zu gefährlich. Ob die Menschen dort unten wirklich gefährlich waren, bezweifelte ich. Immerhin waren die, die uns besuchten, stets nett und dankbar für die Gastfreundschaft, die meine Mutter und ich ihnen entgegenbrachten. Wieso sollten solche Menschen böse sein? Dennoch wollte ich ihnen keine Sorgen bereiten und so bin ich stets Zuhause geblieben und bin meinen Pflichten als kleine Schwester nachgegangen.
Während mein Bruder sich von Kindsbeinen an für seine Bestimmung stählen sollte, war ich dazu verpflichtet, den anderen ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Denn so war der Lauf der Dinge bei uns.
Eine alte Legende besagte, dass in unserer Familie Gottesblut fließe. Eine weit zurückliegende Vorfahrin von uns hatte wohl unsere Welt besucht und wollte großes Unheil ablenken. Dann jedoch verliebte sie sich in einen jungen Mann und blieb fortan, um mit ihm eine Familie zu gründen. Viele Jahrzehnte lebte sie mit ihrer Familie zusammen, dann war sie von einem Tag auf den anderen verschwunden. Das hatte unsere Mutter mal erzählt.
Seitdem war unsere Familie einerseits gesegnet, andererseits verflucht. Es war Tradition, dass wir alle paar Generationen die Aufgabe der Göttin übernahmen und das Unheil, welches immer wiederzukehren versuchte, abzuwenden. Um was es sich dabei handelte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ein Orakel dafür zuständig war, vorauszusagen, wann der oder die Nächste von uns sich dem zu stellen hatte. Diesmal war es mein Bruder. Noch während Mutter mit ihm schwanger war, wussten sie um seine Bestimmung. Er hatte keine Gelegenheit, ein normales Leben zu führen. Eine normale Kindheit zu durchleben. Manchmal hatte ich Mitleid mit ihm. An anderen Tagen jedoch beneidete ich ihn dafür, so flink, stark und geschickt zu sein. Er hätte keine Probleme, die dreitausend Treppenstufen nach unten zu wandern, durfte sogar ab und zu den Berg verlassen. Diesmal wieder ...
Zunächst merkte ich nicht, wie der Wasserkocher mich anpfiff, ich solle ihn von der Feuerstelle nehmen. Mit einer hastigen Handbewegung zog ich ihn aus der Hitze und verbrannte meine Hand dabei. Mit zusammengepressten Lippen unterdrückte ich einen kurzen Aufschrei und goss das heiße Wasser in einen Tonbecher, der für meinen Bruder bestimmt war. Ob er wohl gerade das Haus betrat? Ich hörte keine Schritte im Heim. Mit dem Becher auf einem Holztablett wanderte ich zum Hauseingang und öffnete die Schiebetür, um mit geschlossenen Augen einen tiefen Atemzug zu nehmen. Ich mochte Regen. Die Luft war dann immer so erfrischend. Aber lange draußen sein durfte ich dann nicht, um mich nicht zu erkälten. Daher verließ ich das Haus mit Hast.
"Oh", entkam es überrascht von mir, als ich zur Treppe sah. Mein Vater stand dort, hinter ihm konnte ich meinen Bruder ausmachen. Verwundert ging ich auf die beiden zu. Und merkte, wie mich wieder dieses Gefühl beschlich, was mich dazu verleitet hatte, überhaupt ins Haus zu gehen und Tee zu machen, bevor ich meinem Bruder überhaupt entgegentrat. Wieder nahm ich einen tiefen Atemzug und stemmte mich mit jedem Schritt vorwärts gegen das Gefühl, das in mir keimte.
Dann ließ ich das Tablett fallen.
Mein Vater drehte sich überrascht zu mir um, woraufhin ich nur einen besseren Blick auf meinen Bruder hatte.
"Vegris …?", zitterte meine Stimme und kam kaum gegen das Rauschen des unnachgiebigen Regens an. Den Tränen des Himmels. Meine Beine zitterten und ich fürchtete, jeden Moment zu stürzen.
"Es wäre besser, wenn du jetzt reingehst, Myla. Und vergiss das nicht." Er deutete auf das nasse Tablett, auf dem der angebrochene Tonbecher lag.
Ich nickte leicht und schaute nochmal zu meinem Bruder. Vegris erwiderte meinen Blick mit gewohnt grimmigem Ausdruck. Doch unter dieser harten Schale, die er stets aufrechthielt, mischte sich eine Betrübtheit in seine Augen, die tief griff. Sie schien sich in meine Seele zu bohren. Ein weiteres Mal sah ich an ihm hinab. Das Schicksal hatte ganze Arbeit geleistet. Mit einer ganzen Reihe neuer Narben und Schnittwunden am ganzen Körper hielt er sich mit seinem linken Arm an einem großen Holzstock fest und hatte sichtbare Mühe, weiterhin aufrecht zu stehen. Eigentlich war er Rechtshänder, aber fortan musste er sich auf seine Linke verlassen. Ein Strom aus Blut rann seinen abgebundenen Armstummel hinab. Sein rechtes Bein derweil wurde durch eine behelfsmäßige Holzprothese ersetzt. Man hatte ihn rechts erwischt. Hatte seine starke Seite zerstört. Und damit auch die Flammen in seinen Augen zum Erlöschen gezwungen.
"Geh jetzt!", brüllte Vater mich an und aufgescheucht, wie ich war, lief ich sofort los, kaum als ich das Tablett mit dem Becher aufgehoben hatte.
Ich verschanzte mich im Haus und stellte mit zittrigen Händen das Tablett auf dem Küchentisch ab. Ohne auf das Wasser zu achten, welches meine nassen Haare und meine Kleidung im Raum verteilten, lief ich wie in Trance durchs Haus, bis ich den Schrank mit unseren Tüchern erreicht hatte. Ich nahm eins, nein, doch lieber zwei hinaus. Und brach auf die Knie zusammen. Ich konnte es nicht … Ihn so zu sehen, brach mir das Herz. Und so saß ich da und wimmerte. Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß, doch als ein Blitz mich aus meiner Trance der Trauer erweckte, zwang ich mich wieder auf die Beine und machte mich auf zu meinem Bruder, um ihn zu versorgen. So, wie es meine Pflicht als jüngere Schwester war.
Ich wusste nicht, was aus der Welt werden würde, nun wo mein Bruder seine Prophezeiung nicht erfüllen konnte. Aber ich wusste, dass ich für ihn da sein wollte. So lange ich noch konnte.