Nachgeschrieben am 04.11.2019 von 9:56 bis 10:56 Uhr
Sternenhimmel
Venilal saß gerade auf der Veranda und war froh, es endlich geschafft zu haben, Maylie zu Bett zu bringen. In letzter Zeit tat ihre kleine Schwester sich schwer, einzuschlafen, was vermutlich nicht zuletzt daran lag, dass ihre Mutter fehlte.
Nachdenklich schaute die Leopardenchimäre hinauf in den Sternenhimmel. Torgundas Horizont war klar, wie eh und je, ungestört konnten die Sterne ihr Licht auf die Wüstenlandschaft abgeben. Die von der Nacht bläulich erscheinenden Ebenen wirkten wie das Meer. Wenn man dem Wind lauschte, konnte man ein sandiges Rauschen vernehmen - Torgundas eigene Art von Wellenschlägen. Sie mochte ihre Heimat. Das Land der Freiheit, das Land der sieben Tugenden - ganz egal, was die Leute von außerhalb sagten, Torgundia wie sie besaßen ein ausreichendes Maß an Stolz und Ehrgefühl. Und diese beiden Eigenschaften waren fest mit der Heimat verwurzelt.
Venilal erinnerte sich daran zurück, wie ihre Mutter einst erzählt hatte, dass ihre Vorfahren um die Freiheit des Landes kämpfen mussten, gegen zwei Länder gleichzeitig, die beide viel größer waren, als die ganze Insel Zirkonia, auf dessen Südseite sich Torgunda befand. Sie mochte die Geschichten. Und eines Tages, so hatte Venilal beim Hören dieser für sich beschlossen, würde sie losziehen und die Freiheit kosten, die sie ihren Vorfahren verdankte. Auf Land, auf See und in der Luft. Sie wollte auf einem Sandschiff durch die Wüste ziehen, wollte das Meer mit einem Seeschiff durchstreifen und von einem Luftschiff in unglaubliche Höhen getragen werden.
Venilal streckte ihre Hand zum Sternenhimmel aus und schloss sie zu einer Faust, als würde sie nach einem Stern greifen. Ihr Traum war noch so fern. Sie musste noch ein paar Jahre warten, bis sie losziehen könnte. Ob Maylie wohl Lust hätte, mitzukommen? Hoffentlich.
Venilal seufzte und besah weiter die Sterne. Sie ignorierte ihren Vater, den sie aus dem Blickwinkel bereits ausmachen konnte. Wieder torkelte er, weswegen schwer abzuschätzen war, wohin er eigentlich wollte. Doch konnte Venilal sich denken, dass sein Ziel die Veranda war. Kurz überlegte sie, reinzugehen, doch entschied sie sich dagegen. Es hatte keinen Sinn und so würde er nur in seiner brummigen Stimme, die typisch für seine Trunkenheit war, fragen, wieso sie einfach reinging, sobald sie ihn gesehen hatte. Venilal hatte keine Lust, dass Maylie durch ihn aufwachte, nachdem sie sich doch so viel Mühe gemacht hatte, ihre Schwester zum Einschlafen zu bewegen. Also machte Venilal lediglich die Tür ins Hausinnere zu und verweilte weiter auf der Veranda.
Kurz darauf setzte ihr Vater sich auf schweigend neben sie.
Venilal starrte nur geradeaus und linste vereinzelt zu ihm, doch drehte sie sich nicht zu ihm hin. Eine ganze Weile saßen sie nur schweigend nebeneinander und wirkten von außen wie ein Standbild.
"Schöner Himmel, nicht wahr?", entkam es bald ihrem Vater. Seine Stimme brummte, wie es zu erwarten war.
"Mhm, ja. Du hast wieder getrunken?" Sie drehte sich leicht zu ihm hin. Früher hat er nie etwas getrunken, doch inzwischen hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, in der nahegelegenen Kneipe zur Flasche zu greifen und alles zu vergessen, während Venilal sich um Maylie kümmern musste, damit diese nicht zu kurz kam. Venilal wünschte sich ihren alten Vater zurück. Doch war der scheinbar mit ihrer Mutter zusammen verstorben.
Sie holte tief Luft. Und fing an, zu husten, als sie zu viel Sand einatmete.
"Hey, alles gut?" Ihr Vater hielt sie am Arm und wollte sehen, was los war, doch wand Venilal sich aus seinem Griff, stand auf und schob die Tür nach drinnen wieder auf.
"Alles bestens, ich gehe jetzt schlafen." Sie machte einen Schritt ins Haus.
"Früher warst du nicht so."
Sie stoppte und drehte sich zu ihrem Vater um. "Gleiche Aussage an dich. Sieh dich doch mal an."
Ihr Vater sah völlig fertig aus. Die dunkelbraunen Haare fettig, der Bart seit Tagen nicht gestutzt, die Kleidung voller undefinierbarer Flecken. Er war nicht mehr der, den sie kannte. Ihr Vater sah mit glasigen Augen an sich hinab und schwieg eine Weile, ehe er sprach: "Ich weiß ... ich weiß, verdammt ..."
"Würde Mutter dich so sehen, wäre sie sicherlich enttäuscht."
Damit verschwand sie ins Haus und ließ ihren Vater in der Kälte der Nacht zurück. Sie hörte noch irgendwelche Worte, wie Geld oder Wetten oder dergleichen. Aber sie drangen nicht an ihren Verstand. Sie konnte sich nur mit dem Rücken an die Tür lehnen und gegen die Zimmerdecke starren.
Ob ihre Mutter noch irgendwo verweilte? Was passierte eigentlich, wenn man starb? Soweit sie gehört hatte, glaubten die anderen Länder an irgendwelche Gottheiten und Nachwelten oder dergleichen. Aber in Torgunda war das nicht so. Man machte sich nicht abhängig von irgendwelchen erfundenen Wesen. Einerseits machte es frei, andererseits aber löste es viele Fragen nicht. Was passierte nach dem Tod? Man mied es, darüber zu sprechen.
Ihr bernsteinfarbener Blick haftete weiter an der Decke, die die Sicht auf die Sterne blockierte. Das Licht der Lampe ließ sich ihre Pupillen zu Schlitzen zusammenziehen.
Wenn man starb ... verschwand man dann einfach?