Nachgeschrieben am 11.11.2019 von 10.15 bis 11.15 Uhr
Jekyll & Hyde
Ein manisches Lächeln zierte meine Lippen, als ich auf ihn hinabsah. Er lag im Dreck, wo er hingehörte, dieser Bastard. Keuchend krümmte er sich und schützte mit seinen Unterarmen den Bauchbereich. Ein weiteres Mal trat ich zu, um zu sehen, wie sehr ihn seine dünnen Ärmchen zu schützen vermochten. Wieder stöhnte er vor Schmerzen auf und mir entkam ein kurzer Lacher.
"Bitte ...", flehte er. "Wir sind doch im selben Team, wieso ..." Er richtete sich fahrig auf und sah mir in die Augen. "Wieso tust du das ...?"
Als er mich so flehentlich ansah, schwand mein Lächeln und meine Miene wurde ernster. Dabei hatte er doch gerade erst angefangen, Spaß zu machen, wieso musste er mir jetzt so kommen? Ich packte ihn am Haarschopf und zog ihn zu mir rauf. Als sein Ohr nahe an meinem Munde war, flüsterte ich: "Wir sind nicht im selben Team. Du bist nichts weiter, als ein Parasit, der mich in Ketten schlagen will. Da ist nichts mit Kameradschaft, Bruder." Noch bevor er etwas erwidern konnte, stieß ich ihn von mir weg und er landete rücklinks auf dem Boden. Wieder keuchte er auf, als ihm durch den Aufprall jegliche Luft aus den Lungen gestoßen wurde. Ich sah ihn nur kalt an.
Kleiner, unbedeutender, scheinheiliger Parasit. Er hatte seinen Platz hier nicht verdient.
"Sag mal", fing ich an. "Findest du nicht auch, dass es Zeit ist, zu gehen?" Ich kniete mich neben ihm hin und musterte seine armselige Gestalt. Immer noch hielt er sich den Bauch und ich glaubte, etwas Blut in seinen Mundwinkeln zu erkennen. War wohl ein guter Treffer gewesen. Da mir seine Reaktion zu langsam erschien, packte ich ihn am Kragen und zog ihn näher an mich ran. "Sag mal ...", brummte ich gedehnt die Worte. "Findest du nicht auch, dass es Zeit ist, zu gehen?"
Er erwiderte nichts, schaute nur zur Seite mit seinen trüben Augen. Mit einer Hand umfasste ich seinen Kiefer und drehte sein Gesicht zu mir. Weitere Worte sparte ich mir, denn dieser Idiot sollte trotz allem mitbekommen haben, was die Frage war. Hass spiegelte sich in meinem Blick, doch übertrug er sich nicht auf den meines Gegenübers. Wieso, wusste ich nicht. Immerhin war er es sonst immer gewesen, der mich so ansah.
Nach einer weiteren Weile des Schweigens ließ ich von ihm ab und stand auf, um mit hinterm Kopf verschränkten Armen durch den dunklen Raum zu wandern. Dann hörte ich seine Stimme hinter mir.
"Für wen soll es denn Zeit sein, zu gehen? Etwa für mich?"
Langsam ließ ich die Arme sinken und drehte meinen Kopf zu ihm. "Natürlich für dich. Du bist der Schwächere von uns beiden, also solltest du derjenige sein, der geht."
Sein trüber Blick senkte sich. "Wie konnte es nur dazu kommen?", murmelte er.
Da überkam es mich. Schnellen Schrittes marschierte ich auf ihn zu, packte ihn wieder am schon völlig zerknitterten Kragen und presste ihn zu Boden. "Weil du ein Idiot bist!", brüllte ich. "Weil du ein ..." Meine rechte Hand erhob sich, ballte sich zur Faust und schlug auf sein Gesicht. "Verdammter ..." Wieder holte ich aus. "Idiot bist!" Ich ließ die Faust auf seinen Kiefer niedergehen. Keuchend saß ich auf ihm, blickte seinem völlig blutigen Antlitz entgegen. Doch diesmal spürte ich keine Freude, keine Genugtuung. Nur Verzweiflung. Hastig stand ich auf, stolperte regelrecht von seiner Gestalt weg und besah meine zittrige Rechte voller Blut. Die Knöchel waren aufgeplatzt. Wie konnte es nur dazu kommen? Ich schluckte und wanderte weiter durch den Raum, während er immer noch dalag und sich kaum noch regte. Nur schwach hob und senkte sich sein Brustkorb, wie ich durch einen verstohlenen Blick feststellen konnte.
So mussten wir sicherlich gerade aussehen. Schwach, ausgezehrt, völlig am Ende. Vielleicht sogar dem Tode nahe. Und das alles nur, weil dieser Bastard meinte, es wiedermal maßlos übertreiben zu müssen. Er wollte eine Schlägerei? Die hatte er nun bekommen. Und mit ihr ein Desaster. Ich spürte, wie meine rechte Hand stärker zitterte und legte meine linke auf sie, um sie zu beruhigen. Leise atmete ich durch.
"Jeremy", sagte ich. "Jeremy, wach auf." Ich konnte beobachten, wie er sich ein wenig regte. Dennoch war es nicht genug. "Jeremy!", forderte ich lauter.
Dann öffnete er träge seine Augen. Dass er auf den Namen Jeremy reagierte, beruhigte mich ungemein, denn dies gab mir die Sicherheit, dass ich trotz allem immer noch ich war und er trotz allem immer noch er. Trotzdass er es nun war, der am Boden lag und ich die blutigen Knöchel hatte.
"Henrik", murmelte er. "Wieso ist es dazu gekommen ...?" Ich wusste, was er meinte. "Das ist frustrierend", fügte er an und wischte sich über die blutende Nase.
Ich schwieg dazu und verbarg meine Hände in den Hosentaschen, damit das Zittern nicht mehr so störte.
Hilflos suchte Jeremys Blick den meinen, doch verwehrte ich ihn, indem ich zur Seite schaute. Ich wusste doch selbst nicht, wie wir das wieder hinbekommen sollten. Aber mal ehrlich, diese ganze Sache war doch schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt gewesen. Seit wir seiner, meiner, unserer oder wessen Neugierde auch immer nachgegangen waren. Seit wir beide im selben Körper existierten und um das Recht konkurrierten, am Steuer zu sitzen. Da war es doch kaum verwunderlich, dass solch ein Unfall wie nun passieren musste, der uns nicht nur fast ins Grab gebracht zu haben schien, sondern auch noch alles völlig durcheinander warf. Nun waren die helle und die dunkle Seite vertauscht und wir konnten nichts dagegen tun. Ohnehin wäre es von Anfang an besser gewesen, sich nicht in zwei Hälften aufzuteilen.
"Henrik", ertönte wieder seine schwache Stimme. "Ich glaube, wir sollten es beenden."
Meine Schritte, die bis eben noch stetig durch den Raum verhallt waren, stoppten augenblicklich. "Ja, das denke ich auch." Ich erwiderte seinen Blick, der nur darum flehte, seiner stummen Bitte nachzugehen. Dann ging ich zu ihm und kniete mich neben ihn. Ich besah den Raum aus dunklem Grau, der uns umgab und kam nicht umher, zu überlegen, wie er sich wohl verändern würde, wenn nur noch einer von uns beiden da wäre. Vermutlich würde er dann schwarz werden. Oder vielleicht doch weiß?
Wortlos griff ich in meine Tasche und holte ein Klappmesser hervor. Dann zog ich Jeremy am Arm, sodass er sich aufsetzen musste. Das kalte Metall des Messergriffs in der Hand, legte ich ihm eine Hand auf den Rücken. Jeremy sog überrascht Luft ein, als er spürte, wie ich ihn umarmte. Er löste sich von mir und sah an sich herab, direkt auf den Blutfleck an seinem Hemd. Dann glitt sein Blick zu mir. Der Griff um mein Klappmesser war immer noch kalt, ganz im Gegensatz zu all dem Blut, welches aus meiner Bauchwunde trat. Ich bemerkte, wie meine Sicht allmählich verschwamm. War vielleicht doch eine blöde Idee gewesen.
"Hey", keuchte ich und wollte mich somit noch ein wenig wachhalten, trotz der brennend kalten Schmerzen. "Einer musste ja gehen, nicht?" Ich dachte daran zurück, wie Jeremy es bisher immer gewesen war, der mein Verschwinden forderte, mich zu Boden stampfe und beleidigte. Doch nun ... waren die Rollen vertauscht. Und das alles bloß wegen der Schlägerei, in die er uns geführt hatte. Alles nur wegen des Schlags gegen unseren Schädel. Welch Ironie, dass ich es nun war, der seine Rolle einnahm, während er meine innehatte, und dass trotz allem ich es nun war, der tatsächlich ging und somit Platz machte für den anderen. Für die gute, nicht die schlechte Seite Jeremy.
"Es tut mir leid, Bruder ...", konnte ich seine zittrige Stimme vernehmen. Erst jetzt realisierte ich, dass er mich in eine feste Umarmung gezogen hatte.
Ich legte ihm eine Hand auf den Rücken. "Schon gut. Und ich bin nicht dein Bruder", grinste ich schwach, doch wusste ich, dass er es nicht sehen konnte. "Schon vergessen, dass wir ein und dieselbe Person sind?"
Er erwiderte daraufhin nichts, sondern hielt mich weiterhin fest. Mindestens solange, wie mein Verstand noch existierte, ehe er in die endlose Leere glitt.