Nachgeschrieben am 03.10.2019 von 11:30 bis 12:30
Herbststurm
Ein unsichtbarer Stoß kam von vorne und stieß mich gegen die Fassade des Steinhauses hinter mir. Ein seltsames Gemisch aus Ächzen und Lachen entkam mir, als ich kerzengerade an der Wand lehnte und spürte, wie der Windstoß langsam nachließ. Dann kam auch schon Liz zu mir und tippte mir auf die Nase.
"Hab dich, du bist", verkündete sie breit grinsend.
"Hey, Windmagie ist nicht fair!", protestierte ich und musste immer noch lachen. Das hat mich echt kalt erwischt.
Liz verschränkte nur die Arme. "Offenbar gebietet mir Spica, dich mit ihrer Kraft, mit ihrem Segen, zu fangen. Akzeptiere, dass ich die Kraft eines Elementars auf meiner Seite habe. Und nun knie beim nächsten Schrein nieder und entschuldige dich bei ihr!" Damit rannte sie lachend weg und ließ mich, perplex, wie ich war, erstmal stehen.
"Falk! Du bist!", erklang es aus der Ferne und ich machte mich auf den Weg, Liz hinterherzueilen, da ich ja mit der Jagd dran war.
Zwischen einer ganzen Reihe Passanten musste ich mich drängen und schaffte es schließlich, ihre leicht zerfranste, dunkelgrüne Kapuze ausfindig zu machen. Doch kaum war ich etwa zwanzig Schritte von ihr entfernt, erhob sich die Kapuze und Liz machte einen großen Satz aufs nächste Hausdach. Immer diese Luftgeprägten ...
Würde man mich darauf ansprechen, würde ich es wohl vehement verneinen, aber ich beneidete Leute, wie Liz. Den Wind zu nutzen, war einfach praktischer und bot vor allem viel mehr Möglichkeiten, als ich sie hatte. Ich habe damals den Segen von Regulus erhalten und bin dadurch Elektrizitätsgeprägter … allein schon dieses Wort ist eine Qual. Vor allem aber stört mich, dass ich meine Magie nicht frei nutzen kann. Oder eher, es nicht möchte. Denn ich weiß, dass sie gefährlich ist. Ein kleiner Elektroschock und mein Gegenüber könnte umfallen und, wenn das Unglück seine Finger im Spiel hatte, sterben. Oder zumindest Herzprobleme bekommen. Alles etwas, was ich nicht wollte. So blieb mir also nichts anderes übrig, als auf mein magisches Potenzial zu verzichten und derweil zuzusehen, wie andere - vor allem Liz - sich ihre Magie zunutze machten.
Ich schüttelte den Kopf. Keine Zeit für sowas! Ich sah mich nach einer Möglichkeit um, schnell aufs Dach zu kommen und erblickte eine Holzleiter, die jemand aufgestellt hatte. So drängte ich mich durch die Menschenmassen und marschierte wie selbstverständlich zur Leiter, um diese zu erklimmen. Liz hatte immer gesagt, dass man seine Auffälligkeit verringern konnte, wenn man so tat, als würde man etwas ganz Normales tun. So verziehen einem die Menschen manchmal sogar die abstraktesten Aktionen. Ihre Weltanschauungen waren immer … kreativ.
Ich erreichte das Ende der Leiter und erklomm die Dachziegel. Während ich die frische Luft einsog, sah ich mich um. Die Gebäude Latis' waren in diesem Bezirk von den Dächern aus sehr überschaubar, da sie alle ziemlich gleich groß waren. Anders, als im Zentrum. So fiel es mir nicht schwer, Liz zu entdecken. Ganz weit weg war sie inzwischen und wank mir wie wild zu. Natürlich. Sie war zwar nett genug, sich ein Haus auszusuchen, auf das ich ebenfalls schnell rauf finden konnte, aber nicht nett genug, um es mir insgesamt einfach zu machen. Und da sauste sie wieder aufs nächste Dach ...
Mit einem Seufzen machte ich mich auf, sie einzuholen. Das Mädchen hatte aber auch Energie! Nie habe ich erlebt, wie ihre Magiereserven versiegt waren. Dabei nutzte sie gefühlt bei jeder Gelegenheit ihre Magie, ohne, dass es ihr je langweilig wurde. Ein personifizierter Sturm. Hat Spica sich wohl genau die richtige Person ausgesucht.
Naja. Ich wusste nicht, wie das Auswahlverfahren der Elementare aussah, wenn sie ein Kind auf ihr Element prägten. Aber es musste eines sein, das mit Abstand den meisten Menschen ein magisches Element verlieh - ob sie nun damit zufrieden waren oder nicht, war ihnen wohl einerlei.
Bald erreichte ich das Ende des Daches und machte einen kräftigen Satz, um ganz knapp aufs Nächste zu kommen. Hoffentlich würde man mich nicht sehen und mir ein paar Leute des Staats aufhetzen … Wenn doch, würde ich die Schuld auf Liz schieben. Immerhin hatte sie mich dazu angestiftet … hm, nein, oder ich würde dazu stehen.
Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Egal, erstmal musste ich sie erwi-
Dann legte sich ein Schatten über mich. Ich sah nach oben zum bewölkten Himmel und konnte gerade die dunkelgrüne, leicht zerfranste Kapuzenjacke identifizieren, als Liz auf mir landete und ich krachend zu Boden stürzte.
"Was zum Geier, Liz?!", keuchte ich unter ihr und merkte, dass sie meine Arme umgriffen hatte und zu Boden drückte. Ich konnte nicht aufstehen.
"Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich keine Lust mehr habe, Fangen zu spielen."
Demonstrativ schaute ich abwechselnd zu meinem linken, dann zu meinem rechten Arm. "Und was soll das hier werden?" Ich merkte, wie mein Gesicht warm wurde.
"Die goldene Regel besagt, dass du mich antippen musst, um mich zu erwischen. Nun, kannst du das so?" Sie grinste schelmisch auf mich hinab.
Mit ganzer Kraft versuchte ich, mich aus ihrem Griff zu befreien oder wenigstens mit irgendeinem meiner Finger an einen ihrer Arme zu kommen. Doch war es zwecklos. Ich seufzte. "Wenn die Regel golden ist, hast du sie sicherlich gestohlen. Na schön, du hast gewonnen - schon wieder."
Lachend ließ sie von mir ab und setzte sich im Schneidersitz neben mich.
Mit einem immer noch warmen Kopf richtete ich mich auf und saß daraufhin ebenfalls. Verstohlen linste ich zu ihr.
Ruhig saß Liz da, die Augen geschlossen, den Mund zu einem sanften Lächeln geformt, während der Herbstwind ihr durch die braunen Haare fuhr, die vom Wind immer leicht zerzaust waren. Es war ungewohnt, sie so zu sehen, aber auch … schön.
Schnell schaute ich in die Ferne und versuchte, mich abzulenken. Oh, der Himmel. Er war ja so bewölkt. So bewölkt ...
"Ist etwas, Falk?", stupste mich Liz nach kurzer Zeit an.
Ich fuhr zu ihr herum und erblickte ihre braunen Augen, wie sie mich leicht verwundert musterten. Vielleicht wusste sie es selbst nicht, aber ich war mir schon seit längerem sicher, dass mich diese Augen nie so ansehen könnten, wie ich es gerne hätte - wie ich sie sah.
Langsam schüttelte ich den Kopf. "Nein, alles bestens, Ma'am", salutierte ich gespielt.
Dann ergriff sie meine Hand. Verdutzt, wie ich war, wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte und saß nur da, während ich sie dezent entgeistert anstarrte. Liz führte meine Hand hoch zum Himmel. "Lass sie eine Weile dort." Sie ließ los und ich tat, wie geheißen.
Ich spürte, wie es ein wenig Kraft kostete, den Arm nicht vom Wind bewegen zu lassen.
"Ein Sturm zieht auf", sagte Liz leise. Dann stand sie auf und reichte mir ihre Hand, um mir aufzuhelfen. Ich ergriff sie.
Sie führte mich übers Dach, auf welches der Wind einzelne Laubblätter getragen hatte. Ich zog meinen Schal fester, da es kälter wurde. Dunkler wurde es auch.
"Ich denke, wir sollten wieder zurück", nuschelte ich durch den Stoff meines Schals. Wir gingen gerade zur Leiter, die ich wenige Minuten zuvor erklommen hatte. Hoffentlich hatte der Wind sie nicht umgeweht.
"Hast recht. Zu Snorri?"
"Zu Snorri."
Und so marschierten wir - immer noch Hand in Hand - über die Dächer, während der Wind sein pfeifendes Lied spielte. Ich erwischte mich dabei, mir zu wünschen, dass dieser Moment ewig anhielt.
Dieser Moment, in dem ich durch ihre Hand die Wärme des Lebens spürte.
Dieser Moment, in dem Liz gänzlich in ihrem Element war.
Dieser Moment, der nur uns beiden gehörte.
Doch waren wir letztlich lediglich … Freunde.
Als wir fast bei der Leiter waren, ließ Liz meine Hand los.