Sie war wieder in der Schule. Diesmal aber nicht im Klassenzimmer, sondern auf dem Pausenhof, umgeben von spielenden Schülern. Die Gestalten um sie herum wirkten verschwommen. Sie waren bloß Schatten der Vergangenheit, die in ihren Träumen weiterlebten als wäre die Welt noch heil.
Nur eine kleine Gruppe Jungen besaß feste Formen. Sie liefen laut schreiend einem Ball hinterher durch den gesamten Hof und schienen gar nicht zu bemerken dass sie wiederholt andere Schüler anrempelten. Sie verspürte ein sehnliches Verlangen mit ihnen mitzuspielen.
Der Ball flog in ihre Richtung und Sarah nutzte die Gelegenheit um ihn zu fangen und damit weiterzulaufen, wie es die Jungs getan hatten. Diese unterbrachen jedoch sofort das Spiel und sahen sie erbost an.
"Gib unseren Ball zurück!", drang eine unfreundliche Kinderstimme an ihr Ohr.
"Aber ich wollte doch nur mitspielen", verteidigte sie sich.
"Mädchen können nicht mitspielen", behauptete einer der Jungen und schnappte ihr den Ball aus den Händen.
"Warum?"
"Weil Mädchen schwach sind", erklärte er und warf ihr den Ball gegen den Bauch, sodass sie umkippte. Der Schmerz fuhr durch ihren ganzen Körper, trieb ihr Tränen in die Augen.
Unter dem Gelächter der anderen Schüler wachte sie langsam wieder auf.
Die Schmerzen jedoch verfolgten sie bis in die Realität. Sarah krümmte sich zusammen, als sich ihr Unterbauch von einem heftigen Krampf zusammenzog. Ihre Unterhose fühlte sich nass und ekelhaft an.
Verdammt.
Mit einem Stöhnen griff sie zu ihrem Rucksack und zog ein halbwegs sauberes Stück Stoff daraus hervor. Sie hatte mehrere ähnliche Textilien für genau diesen Fall ausgekocht, als sie noch genügend Wasser gehabt hatte.
Die verdreckte Unterhose legte sie angewiedert zur Seite. Sie würde später irgendeinen einen Weg finden müssen um sie zu säubern. Als nächstes nahm sie ihren Gürtel ab und schnallte ihn unter ihrer mehrschichtigen Lumpenkleidung um ihre Hüften. So konnte sie die imprivisierte Binde zwischen ihren Beinen befestigen.
Endlich blickte sie auf. Sie lag auf ihrer Decke, die sie auf dem harten Betonboden der Ruine ausgebreitet hatte. Das verlassene Gebäude hatte sie am letzten Tag entdeckt und für Sicher befunden. Es musste vor langer Zeit eine Tankstelle gewesen sein, aber die waren schon vor ihrer Geburt ausgestorben.
Erneut zwangen sie die Krämpfe in die Fötusposition. Sie hasste es, hatte es schon als Jugendliche gehasst. Aber jetzt war es noch schlimmer. In der Wüste konnten ihre Tage den Tod bedeuten.
Verzweifelt blickte sie in ihr Notizbuch, auch wenn sie schon wusste was sie dort lesen würde. Sie konnte es sich nicht leisten zu lange hier zu bleiben. Der Weg bis Hannover war noch weit und sie hatte zwar hinter der Ruine einige vertrocknete Grasbüschel gefunden, aber kein Wasser.
In ihrer Verzweiflung überlegte sie tatsächlich eine der wertvollen Schmerztabletten einzuwerfen, doch sie verwarf den Gedanken sofort. Bei einem Händler konnte sie diese gegen Proviant für mehrere Wochen eintauschen. Nicht einmal ein gut erhaltenes Gewehr war so viel wert wie echte Tabletten.
Nein, sie würde sich wohl mit einer weniger verschwenderischen Methode begnügen müssen. Vom Boden ihres Rucksacks kramte sie die Dose hervor, in der sie ihre Lebensretter in solchen Situationen aufbewarte. Allein das Knistern des Starniolpapiers ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Beinahe andächtig brach sie eine winzige Ecke von der mehrfach geschmolzenen Tafel Schokolade ab und legte sie genüsslich auf ihre Zunge, ließ sie im Gaumen zerschmelzen. Für einen Moment durchströmte sie ein unbändiges Glücksgefühl, die Welt schien wieder komplett in Ordnung zu sein.
Aus ihrer Kehle drang ein Knurren als der nächste Krampf diesen Augenblick des Friedens wieder zunichte machte.
Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf die Schokoladentafel biss sie die Zähne zusammen und packte ihre Sachen wieder ein. Als sie damit fertig war zwang sie sich aufzustehen und die ersten Schritte zu machen. Die Schmerzen machten zwar keine Anstalten fortzugehen, doch wenn sie sich auf das Wandern konzentrierte war es auszuhalten.
Von wegen schwach. Sie würde einen weiteren Tag überleben, während die Jungen vom Pausenhof schon lange tot waren.