Schritt für Schritt stapfte Sarah den Berghang hinauf. Der Sandstein knirschte unter ihren Stiefeln, während sie im warmen Licht der Vormittagssonne schnaufend nach oben wanderte.
Dieser Anstieg war zwar ein Umweg von ihrem direkten Weg nach Norden, doch sie hatte aus der Ferne vereinzeltes Gestrüpp an den Hängen entdeckt und in der Hoffnung auf eine Wasserquelle oder wenigstens etwas Schatten diesen Schlenker gemacht.
Leider waren alle Sträucher, an denen sie bisher vorbeigegangen war, verdorrt gewesen. Doch sie bereute ihre Entscheidung trotzdem nicht. Es kam nicht oft vor dass sie der eintönigen Dünenlandschaft entkommen konnte. Hier oben wehte sogar ein leichtes Lüftchen, das so wenig Sand mit sich trug, dass sie es wagte ihren Mundschutz abzunehmen und die warme Luft direkt einzusaugen.
Glücklich legte sie ihren Kopf in den Nacken, um ihre Anspannung ein wenig zu lockern. Weit oben am Himmel glitt ein einzelner Falke durch die Lüfte, auf der Suche nach Beute. Für Sarah war das ein gutes Zeichen. Wo Tiere waren gab es bestimmt auch Wasser und Nahrung.
Einige Minuten später erreichte sie den ersten Strauch, dessen grüne Triebe zumindest einen Hauch von Leben vermuten ließen. Der Anblick verlieh Sarah neue Kraft und sie strebte umso zuversichtlicher nach oben. Bald wurden die Sträucher und Gräser um sie herum immer grüner und üppiger, bis sie endlich fand wonach sie suchte.
Weder die behaarten Blätter der dornenbewehrten Sträucher, noch ihre winzigen Blüten waren für sie interessant. Aber die gelbblütigen Kolben, die zwischen ihnen aus dem Boden sprossen, sammelte sie eifrig in ihren Rucksack. Die Ausbeute war zwar mager, aber zumindest würde es etwas Abwechslung in ihren Speiseplan bringen.
Im Schatten eines großen Gebüschs ließ sie sich zur Rast nieder. Ihr Blick schweifte über die Landschaft unter ihr. Das schier unendliche Dünenmeer erstreckte sich zwischen den weit verstreuten Sandsteinbergen. Im Norden wurden sie immer seltener, bis sie komplett verschwanden und sich die ununterbrochene Ebene bis zum Horizont ausbreitete. Dahinter lag das norddeutsche Flachland und danach würde man die Salzwüste erreichen, doch Sarah hatte nur wenige Leute getroffen, die den weiten Weg auf sich genommen und überlebt hatten.
Automatischen fixierten sich ihre Augen auf den Punkt am Horizont, wo die Umrisse gigantischer Hochhäuser im Dunst zu erkennen waren. Sie wunderte sich was sie wohl in Hannover erwarten würde. Ob sie dort die erhoffte Sicherheit finden konnte?
Sarah wagte es nicht zu hoffen.
Am Anfang hatte es ähnliche Gerüchte gegeben. Unter den wenigen Überlebenden, die es rechzeitig geschafft hatten die Städte zu verlassen, hatte sich die Überzeugung verbreitet, dass sich die Zivilisation in den Alpen gehalten hätte. Dass es dort Wasser und fruchtbares Land gab.
Stattdessen hatten sie ein nuklear verseuchtes Ödland angetroffen. Der Grund für diese Zerstörung blieb eines der größten Mysterien der Wüste.
Mit einem Seufzen stand Sarah wieder auf und putzte den Staub von ihrer Kleidung. Sie würde es wohl kaum herausfinden indem sie hier saß und über ihre Lage sinnierte.
Also machte sie sich daran weiter hinauf zu steigen, mittlerweile mit der heißen Mittagssonne im Nacken, immer auf der Suche nach der Quelle dieser ungewöhnlichen Lebensvielfalt. Sie folgte den Pfaden der Tieren, aber außer einer etwas feuchteren Stelle unter einem Stein und zwei Eidechsen fand sie nichts.
Schließlich erreichte sie den Kamm. Sich selbst zur Vorsicht ermahnend suchte sie hinter einem Gebüsch Deckung, während sie vorsichtig weiterrobbte, um auf die andere Seite zu blicken.
Als sich ihr endlich der Blick in den kleinen, hochgelegenen Kessel zwischen zwei Ausläufern des Berges eröffnete, traute sie ihren Augen kaum. Hier lag, durch das niedrige Gebirge von den Blicken der Außenwelt abgeschottet, eine blühende Oase. Scheinbar befand sich am Zipfel des Tales eine Quelle, aus der ein weit auslaufendes Netz von Kanälen gespeist wurde, die jemand gegraben hatte um die in Terrassen angelegten Felder entlangder Hänge zu bewässern.
Ungläubig starrte sie hinab auf die geraden Reihen aus Mais, Kürbispflanzen und Dattelpalmen. Sie konnte sich nicht erinnern wann sie zuletzt solch eine üppige Landschaft erblickt hatte. Zwar war der Boden abseits der Kanäle so trocken und staubig wie eh und je, doch verglichen mit den trostlosen Dünen rund um den Berg kamen ihr diese Felder wie das reinste Paradies vor.
Eine kleine Ansammlung Steinhütten war unweit der Quelle errichtet worden. Sarah erkannte drei Wohnhäuser, ein dazwischen stehendes Vorratsgebäude und sogar einen Stall. Etwas abseits stand ein fensterloser Schuppen, dessen Zweck sie nicht ergründen konnte.
Sie suchte bedächtig den gesamten Talboden nach den Bewohnern ab, doch diese schienen sich vor der Mittagshitze in ihre Behausung geflohen zu sein. Leider konnte sie durch die schmalen Fenster auch keine Regung erspähen.
Sarah wusste dass es zu gefährlich wäre, sich aus ihrem Versteck zu wagen. Selbst zum nähesten Kanal müsste sie 20 Minuten den steinigen Abhang hinuntergehen, wo sie vor zufälligen Blicken der Bewohner ungeschützt war.
Jeden Muskel in ihrem Körper angespannt machte sie sich bereit loszustürmen. Vermutlich würde man sie entdecken, aber wenn sie schnell genug war konnte sie bestimmt entkommen bevor man sie verfolgte. Sie fixierte ihren Blick auf das nächste Maisfeld, dessen reife Kolben ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen.
Mit einem letzten Schlucken stieß sie sich vom Boden ab und stürmte hinab ins Tal. Das schwere Gepäck wurde an ihrem Rücken hin und her geworfen, sodass es ihr trotz des sanften Hanges schwer fiel ihr gleichgewicht zu halten. Verbissen konzentrierte sie sich darauf nicht zu stürzen, während sie in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihr Ziel zu rannte.
Ein plötzliches Brummen ließ sie einen Blick zur Seite riskieren. An der höchsten Stelle des Tals erblickte sie einen kleinen Turm, der ihr vorher entgangen sein musste. Er erinnerte sie ein wenig an die Wachtürme entlang von Hochsicherheitsgefängnissen. Zwei Gestalten waren daraus hervorgetreten und hatten sich in einen bereitstehenden Wüstenbuggy geschwungen, der nun in hoher Geschwindigkeit auf sie zuraste.
Ihre unachtsamkeit verfluchend beschleunigte Sarah ihre Schritte und stürmte noch verzweifelter auf das Feld zu. Umzukehren war inzwischen ohnehin sinnlos.
Das Fahrzeug hatte schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt als sie sich endlich in den Schatten zwischen den großen Pflanzen warf. Kurz nahm sie sich Zeit um Luft zu schnappen, dann lief sie weiter ins Zentrum des Feldes. Im Vorbeigehen versuchte sie einen Maiskolben abzureißen, doch ihre Hand rutschte von der schützenden Blätterhülle ab und sie musste unverrichterter Dinge weiterstolpern.
Hinter sich konnte sie schon die Stimmen ihrer Verfolger hören, die am Rand des Feldes ausgestiegen waren und sich zu Fuß an die Verfolgung gemacht hatten. Vielleicht war das ja ihre Chance zur Flucht.
Sie erreichte einen schmalen Kanal und folgte ihm eine Weile. Das Blut pochte ihr in den Ohren und das Geräusch ihrer schnellen Schritte übertönte alles um sie herum. Die Verfolger hatten sogar aufgehört zu rufen, was es ihr unmöglich machte ihre Position zu erraten.
Dann brach plötzlich vor ihr eine Gestalt zwischen den Pflanzen hervor. Es war eine große Frau, deren braungebrannter Körper in Tücher aus grobem Flachs gehüllt war. Sarah konnte sich nicht entscheiden was sie an der Fremden mehr erschreckte. Die schwere Keule in ihrer Hand, oder das einfache Tattoo auf der Stirn, das sie als Exilantin auszeichnete. Eine Person die schon vor Ausbruch des Virus für irgendein schweres Verbrechen in die Wüste verbannt wurde.
Ohne einen Gedanken darüber zu verschwenden schlug Sarah einen Haken und stürmte zurück ins Feld, hauptsache weg von ihrer Verfolgerin, die nun ihrem Kollegen etwas zurief. Ein Rascheln neben ihr verriet dass der Zweite ihr nun dicht auf den Fersen war, also bog sie erneut ab, stürmte im Zickzack zwischen den geraden Reihen von Mais hindurch.
Inzwischen hatte sie jegliche Orientierung verloren und versuchte einfach nur noch weg von den Verfolgern zu kommen, die sich jetzt wieder aufgeregt Dinge zuriefen. Sie war längst außer Atem und verspürte ein schmerzhaftes Stechen im Zwerchfell.
Durch einen Ruf zu ihrer Rechten aufgescheucht schlug sie einen weiteren Haken nach links, nur um sich auf einmal dem Mann gegenüber zu sehen. Sie duckte sich unter seinen vorschnellenden Armen hindurch und stolperte durch die nächste Reihe von Maispflanzen, dann sah sie nur noch die Keule auf sich zusausen.
Als sie ihr Bewusstsein wieder erlangte brummte Sarahs Schädel wie ein Bienenstock. Sie schmeckte Blut, doch damit konnte sie sich jetzt nicht befassen.
Als sie die Augen aufschlug erblickte sie ihre beiden Verfolger, beide etwas älter als sie und mit dem Tattoo markiert, die ihre Besitztümer durchwühlten. Gerade begutachtete die Frau ihr GPS-Gerät, warf es aber schnell uninteressiert wieder zurück in den Rucksack.
Sarah versuchte sich aufzurichten, doch die Anstrengung ließ sie mit einem Keuchen zurücksacken. Das schien dem Mann aufzufallen: "Ey, Lina, die is ja doch no am Leben."
"Gut. Falls sie noch stehen kann nehmen wir sie mit zum Dorf. Mit der können wir sicher noch unseren Spaß haben", antwortete die Frau. Hilflos ließ Sarah zu wie sie auf die Beine gezerrt und in Richtung des Buggys geschubst wurde. Ihre Besitztümer und das Gewehr behielten die Entführer weit von ihr entfernt, doch sie war ohnehin zu benommen um einen Fluchtversuch zu starten.