Du bist Elred Aramys Nuvian.
„Man muss schon ein Mensch sein, um mit einem derartig bescheuerten Plan daherzukommen!“ Du kannst deine Wut nur schwerlich verbergen.
„Was ist daran auszusetzen?“, fährt Arthrax dich an.
Du beugst dich vor und zischst: „Alles! Du darfst das gerne machen, wenn du unbedingt sterben willst, Kurzlebiger!“
„Verdammte Waldfee!“, faucht Arthrax und funkelt dich wütend an. „Hast du vielleicht einen besseren Plan?“
„Suchen wir einen anderen Weg“, bestimmst du.
„Oh, die berühmte Weisheit der Elfen!“, schnaubt Arthrax, aber du bist bereits auf dem Weg. Der menschliche Krieger poltert hinter dir her.
Du weißt bereits, dass die Wallmauer keine Schwachpunkte hat, also hältst du nun die Augen nach etwas anderem offen. Tatsächlich erreicht ihr bald ein kleines Tor in der Mauer, von denen es unzählige gibt: Bewachte Durchlässe zwischen dem Orkland und der freundlicheren Gegend außerhalb. Auch dieser Eingang wird bewacht, doch es handelt sich um ein kleineres Tor als die großen Pforten in den Erdgeschossen der Wachtürme.
Während ihr euch in der Nähe versteckt, kannst du fünf unterschiedliche Orks zählen, die sich im Inneren der kleinen Wachkammer bewegen und gegenseitig anschreien.
„Glaubst du, sie haben ein Alarmsystem?“, fragst du Arthrax, während du langsam den Bogen spannst und einen Pfeil auf die Sehne legst.
„Was geht mich das an?“, raunzt der Krieger wenig hilfreich.
Du streckst den Arm mit dem Bogen nach vorne und ziehst in der gleichen, fließenden Bewegung die andere Hand mit dem gefiederten Pfeil bis ans Auge.
Keine Sekunde später hast du den Pfeil losgelassen und die Spitze steckt im Hals eines Orks, der röchelnd zusammenbricht.
„Jetzt kommen sie!“, freut sich Arthrax blutdürstig, während du einen neuen Pfeil auf die Sehne legst.
Die Orks stürmen brüllend nach draußen und sehen sich nach dem Angreifer um. Da sie nicht mit einem Elfen rechnen, vermuten sie den Bogenschützen viel näher als ihr eigentlich seid. Das gibt dir die Gelegenheit, deine Beobachtungen zu korrigieren, denn es kommen nicht vier, sondern sechs Orks aus der Festung. Alle fuchteln mit ihren Waffen in der Luft herum, schreien sich gegenseitig an und grunzen in ihrer kehligen Sprache ohne Vokale.
Zwei Orks mehr sind zwar ärgerlich, aber immer noch keine Bedrohung für dich. Du spannst den Bogen neu und schießt einen Ork ab, der sich etwas von den anderen entfernt hatte. Doch dein Plan geht nicht auf, denn einer der anderen Orks hat gesehen, aus welcher Richtung der Pfeil kam.
Brüllend stürmt die Horde auf euch zu. Arthrax antwortet mit einem ebensolchen Geschrei und rennt den Orks mit gezückter Axt entgegen. Noch während die Angreifer laufen, kannst du zwei weitere Orks erschießen, ein Kinderspiel, denn jetzt haben sie dir ihre Helme zugewandt und du kannst die Augen in den Lücken der Rüstungen treffen.
Dann haben die übrigen drei Arthrax erreicht und die schartigen Waffen der Orks treffen klirrend auf Arthrax' Axt.
Du hoffst insgeheim, dass die Orks Arthrax überwältigen. Nicht so schlimm, dass der Krieger daran stirbt, aber genug, um ihm eine Lehre zu erteilen. Leider kommt es anders.
Einer der drei Orks läuft auf dich zu, offenbar einer mit Verstand. Er ist so nah, dass dir nur noch Zeit für einen Pfeil bleibt, doch der Ork kann das Geschoss mit der rostigen Klinge abwehren.
Scheiße.
Du wirfst den Bogen weg und zückst dein Jagdmesser, dann ist der Ork bei dir. Gewand tauchst du unter der herabsausenden Klinge hinweg und weichst nach hinten zurück. Der Ork führt wilde, ausgreifende Schläge aus. Eine lächerlich ungeschickte, aber leider effektive Kampftaktik. Um ihn mit deinem Messer zu erwischen, musst du schnell sein.
Der nächste Schlag pfeift auf Kopfhöhe durch die Luft. Du duckst dich und das Schwert stutzt einen beindicken, morschen Baum neben dir. Rost und sogar kleine Metallstücke springen von der Klinge ab, aber ein fester Stahlkern im Inneren verhindert, dass die Waffe bricht. Du weichst noch ein Stück zurück, springst ein weiteres Mal aus dem Weg. Der Ork brüllt frustriert und setzt dir mit schnellen Schlägen nach. Du hast alle Mühe, den Hieben auszuweichen.
Plötzlich spürst du einen Busch im Rücken, die Äste greifen in deinen Mantel. Einen Moment bist du abgelenkt. Der schiefe Mund des Orks verzieht sich zu einem Grinsen. Du kannst seine gelben Zähne und die Hauer durch die Lücken in der Rüstung sehen.
Was ist das eigentlich mit Orks, dass sie immer grinsen, anstatt zu kämpfen? Du tauchst nach unten ab und stößt das Messer nach vorne, wo es tief in den Hals des Orks dringt. Das Grinsen schwindet von seinem grünen Gesicht, als der Ork mit den Pranken nach der Kehle hascht. Schwarzes, öliges Blut quillt hervor, gefolgt von einer Wolke stinkenden Atems. Dann fällt der Ork um und bleibt leblos auf dem Boden liegen.
Hinter ihm steht Arthrax, die blutbeschmierte Axt in der Hand, und beobachtet euch mit grimmigem Blick. Er sieht so aus, als hätte er einfach nur zugesehen, doch du bemerkst zu deinem Erstaunen, dass Arthrax seinen Dolch gezückt hatte, bereit, ihn zu werfen, um dich zu retten.
„Sind die anderen tot?“, fragst du und überspielst deine Überraschung.
Arthrax gibt ein Grunzen zur Antwort, das du frei als ein „Ja“ interpretierst.
Er säubert seine Axt im Gehen, du läufst voran und stürmt die kleine Burg im Alleingang. Bis auf den Ork, den du ganz zu Beginn des Kampfes erschossen hast, ist sie leer. Es gibt das Erdgeschoss, wo die Orks sich aufgehalten haben, einen Keller, der auch als Waffenkammer fungiert, und schließlich das Dach, von dem die Wehrgänge in zwei Richtungen weiterführen. Dir bietet sich ein kalter Ausblick auf das Land der steinernen Klaue. Mit ungutem Gefühl starrst du auf die graugelbe, karge Ebene vor dir. In einiger Entfernung ist eine Ansammlung hoher Gebäude zu erkennen – Orkstadt.
„Und wie genau willst du da durch?“ Arthrax ist hinter dich getreten. Du drehst dich um und bemerkst, dass der Mensch zwei Rüstungen unter den Armen trägt – hässliche, grob gearbeitete Rüstungen, die er den toten Orks abgenommen haben muss.
„Auf keinen Fall!“, sagst du. „Wir würden auffliegen!“
„Würden wir auch ohne sie, und dann deutlich schneller“, grunzt Arthrax. Du rollst mit den Augen. Der Mensch könnte auf jeden Fall gut als Ork durchgehen!
„Das ist Wahnsinn – wir können uns nicht wie Orks verhalten, wir wissen zu wenig über sie.“ Will das nicht in Arthrax' dicken Schädel hinein?
„Aber ein Mensch und ein Elf, die fröhlich durch ihr Land spazieren, das ist weniger auffällig?“, fragt Arthrax hitzig und deutet auf die Einöde. „Falls es deine Elfenaugen nicht sehen, Kumpel, da gibt es keine Deckung!“
Du willst nicht nachgeben. „Es ist zu riskant.“
Arthrax schnaubt nur und wirft eine Rüstung auf den Boden, bevor er geht. Du hörst, wie er unten seine Verkleidung anlegt.
Seufzend bückst du dich nach deiner eigenen Rüstung. Du willst nicht nachgeben, aber leider hat Arthrax recht.
°°°
Die Rüstung ist das Schlimmste, was du jemals getragen hast. Sie stinkt nach altem Blut und ungewaschenem Ork, ist viel zu schwer und dabei so schlecht gearbeitet, dass sich scharfe Metallkanten in deine Haut bohren und deine Kleidung zerfetzen.
Schon nach wenigen Schritten in eurer Verkleidung bist du völlig außer Atem. Arthrax dagegen schnauft so laut wie sonst auch immer – als würde ihn die Rüstung kaum stören. Du windest dich in deinem Panzer und hoffst, dass dieser Ausflug nicht lange anhält. Schon jetzt ist dir übel von dem Gestank und deine Haut juckt.
Aber noch ein anderes Gefühl steigt in dir auf, ein Ziehen in der Magengegend, das dir verrät, dass ihr auf dem richtigen Weg seid. Du kannst Magie spüren – den Schöpferstein!
Die ersten Stunden könnt ihr unbehelligt durch die Ebene ziehen. Ab und zu seht ihr andere Orks am Horizont, die in die gleiche Richtung laufen wie ihr. Diese Orks werden immer zahlreicher, je näher auch die Stadt rückt. Offenbar ist gerade ein größerer Schichtwechsel und ihr fallt in der Menge nicht weiter auf.
°°°
Orkstadt erhebt sich als ein Gewirr von Türmen, Mauern, Bogengängen und Schießscharten über euch. Ihr taucht in den Schatten der Stadt ein.
Hier stoßt ihr zum ersten Mal auf ein Hindernis, bestehend aus einer Masse an Orks, die sich vor dem Eingang stauen. Die grünen Wesen schnauben und knurren einander an, es wird gerempelt und geschubst und aus Versehen auf die Füße größerer Orks getreten, worauf diese größeren Orks in bedrohlichen Gesten nach ihren Waffen greifen.
Der Lärm ihres Gebrülls, Gequiekte und Geschrei ist ohrenbetäubend, trotzdem machst du die wertvolle Entdeckung, dass die Orks offenbar unterschiedliche Sprachen und Dialekte besitzen. Du siehst zwei Orks am Rand der Menge, die aufeinander einschreien, doch ihre Gesten machen deutlich, dass sie einander nicht verstehen und nur davon ausgehen, dass der jeweils andere sie beleidigen will. Die beiden Kontrahenten brüllen immer lauter und schriller, in Sprachen, die um ein winziges anders klingen als die des anderen. Dann stößt der Größere dem Kleineren die Stirn vor den Kopf und der Kleinere packt die Kehle seines Gegners.
Bevor du sehen kannst, wie der Streit ausgeht, rempelt euch plötzlich jemand von hinten an, so heftig, dass Arthrax in den von unzähligen Eisenschuhen aufgewühlten Matsch fällt. Ein großer, massiger Ork drängt sich zwischen euch vorbei und tritt im Vorbeigehen nach Arthrax.
Der Menschenkrieger springt auf und zieht seine Axt. Der massige Ork bleibt stehen und sieht auf Arthrax herunter. Er ist zweimal so groß wie der Mensch, dreimal so breit, und seine Haut ist übersät mit Metallstücken, die er sich in das Fleisch getrieben hat. Um diesen zweifelhaften Körperschmuck zu betonen, trägt er keine Rüstung.
Jetzt schnaubt er auf den schlammbeschmierten Arthrax herab, mehrere Orks machen Platz um die beiden.
„Warte!“, rufst du und versuchst, deine Stimme Orkisch klingen zu lassen. „Arthrax, nicht!“
„Er hat mich in den Schlamm getreten“, gibt der Krieger zurück. „Das würde kein Ork auf sich sitzen lassen!“
Er klingt überraschend beherrscht. Und dir wird klar, dass er Recht hat. Kein Ork würde vor einem Kampf zurückschrecken. Aber Arthrax' Gegner ist riesig und sicherlich gefährlich.
Brennas Gesicht blitzt vor dir auf und du hörst ihre Stimme: „Wieso hast du denn nichts getan?!“
Du entscheidest dich …
- … und packst Arthrax am Arm: „Egal, verschwinden wir!“ Lies weiter in Kapitel 6.
[https://belletristica.com/de/books/20828/chapter/21229]
- … und zückst deine Waffe: „Gut, verdammt, aber lass dich nicht umbringen!“ Lies weiter in Kapitel 7.