Du bist Arthrax Sundergeer.
„Gehen wir lieber kein Risiko ein“, meinst du. „Wir suchen eine Rüstung und gehen auf die Feier.“
„Das nennst du kein Risiko eingehen?“, fragt Elred, doch er widerspricht dir nicht. Ihr schleicht euch hinter einer niedrigen Steinmauer zum Vordereingang des Palastes.
„Das Schicksal meint es gut mit uns!“ Elred grinst plötzlich. Als du dich über die Schulter des Elfen beugst, erkennst du, was er meint: Im kargen Grünstreifen vor dem Palast liegen mehrere Orks verstreut, die sich nicht rühren. Einige sind erschlagen, davon künden klaffende Wunden und Unmengen an Blut. Andere geben betrunkenes Schnarchen von sich. Bei einigen ist auch nicht ganz klar, wie es um sie steht. Für euch allerdings bedeutet das freie Auswahl bei eurer Verkleidung.
Elred huscht mit gespanntem Bogen in den Schatten eines bulligen Turmes, du schleichst dich zwischen die Orks. Schnell sammelst du Brustpanzer, Beinschienen und Stiefel, Helme, Waffen und Schilde ein. Dann klettert ihr zurück hinter die Mauer und legt die erbeutete Verkleidung an.
„Ich bin erstaunt, wie gut das stinkende Ding passt“, stellt Elred fest. „Du hast ein gutes Auge für Körperformen, Arthrax. Schonmal überlegt, Schneider zu werden?“
„Ich schneide dir gleich deine Kehle auf, wenn ich noch ein Wort davon höre!“, gibst du zurück. Elred grinst und flötet etwas von Maßband und Nähgarn, bevor er sich über die Mauer schwingt und auf die Pforten des Palastes zuschlendert.
Dir bleibt wenig anderes übrig, als ihm zu folgen. Nervös versuchst du, den schwankenden, breitbeinigen Watschelgang der Orks nachzuahmen. Du stellst fest, dass Elred sich nach einem kurzen Blick deiner Farce anschließt. Wenn Brenna und Allyster euch jetzt sehen könnten! Deine Schwester würde dafür sorgen, dass du diesen Moment niemals wieder vergisst.
Brenna. Der Gedanke versetzt dir einen winzigen Stich. Hoffentlich geht es ihr gut!
Dann stößt Elred die breiten Flügeltüren auf und ihr betretet die Halle. Es riecht nach Fleisch, Schweiß und Fürzen. Die stechenden Aromen von starkem Schnaps und der klebrige Geruch nach billigem Bier steigen dir in die Nase. Du riechst Blut und Eiter, köstlichen Bratenduft und Kohl. Vor allem riecht es, als hätten die Urheber des Furzgestanks eine Menge Kohl gegessen.
„Uäääh!“, macht Elred gedämpft in seiner Rüstung.
„Einfach weitergehen“, drängst du, aber niemand schenkt euch sonderlich viel Beachtung. Die Orks verteilen sich über zwei lange Bankreihen an der Seite der großen Halle. In der Mitte brennen mehrere Kochfeuer in Vertiefungen im Boden, diverse unkenntliche Speisen drehen sich über den Flammen. An den Tischen stehen Fässer voller Bier, unter den meisten liegt ein Ork mit offenem Maul, umringt von anderen Orks, die ihn allem Anschein nach anfeuern. Hier und da steht eine Gruppe Musiker zwischen zwei Säulen. Die Orks schlagen und zerren an ihren Instrumenten, als wollen sie sie zerstören. Ein einheitlicher Rhythmus oder gar eine Melodie sind nicht zu erkennen.
Wo keine Kochfeuer brennen, befinden sich in der Mitte freie Flächen, die von Zuschauern umringt sind. In den Flächen prügeln sich zwei oder mehrere Orks, das Gebrüll der Zusehenden fällt in dem ganzen Lärm kaum noch ins Gewicht.
Einen Moment lang bringen Hitze und Lärm dich ins Stolpern, doch du gehst tapfer weiter. Du bist dir sicher, dass mehrere Orks euch beobachten, wie ihr vorsichtig in den Schatten der Säulen eintaucht und euch einen Weg durch das Gedränge nach vorne bahnt. Unzählige Orks, vielleicht hunderte, befinden sich in der Halle, eine Menge davon strömt zwischen den Säulen nach vorne oder hinten, bewaffnet mit Bierkrügen oder Tellern voller Essen. Im Grunde ist es wie eine abendliche Taverne in Kalynor, wenn man mal davon absieht, dass dieses Gebäude viel, viel größer ist und gelegentlich Orks durch die Luft fliegen.
Du hältst dich einen knappen Meter hinter Elred, für den Fall, dass irgendwas schief läuft und du entweder in der Menge abtauchen oder überraschend zuschlagen musst. Doch ihr werdet nicht angesprochen, die betrunkenen Orks sind viel zu sehr mit Bier und Speisen beschäftigt. Schließlich erreicht ihr den vorderen Teil der Halle, wo ihr noch am Vortag versucht habt, dem Orkkönig eure Orkigkeit zu beweisen.
Elred bleibt stehen und du drängelst dich an seine Seite vor.
„Was ist denn?“, fragst du in gedämpften Tonfall.
„Ich kann den Schöpferstein fühlen, aber … er ist nicht hier“, sagt Elred.
„Wie meinst du das?“ Du versuchst, deine aufsteigende Panik zu überspielen. Wenn der Schöpferstein überhaupt nicht im Palast, vielleicht nicht einmal in Orkstadt ist … dann sitzt ihr umsonst mitten im feindlichen Land fest.
„Natürlich ist er hier irgendwo!“, schimpft Elred. „Aber er ist nicht in der Halle!“
„Das hätte mich auch gewundert!“, meinst du. „Wer lässt den bitte seinen magischen Schöpferstein irgendwo herum liegen, wo ihn jeder finden kann?“
Elred wirft dir einen Blick zu und du siehst durch die Schlitze seines Helms, wie er mit den Augen rollt. „Guck nochmal genau hin, Mensch.“
Du guckst nochmal genau hin. Jetzt fällt dir auf, dass die einzigen Türen, die aus der Halle führen, von jeweils zwei Orks bewacht werden. Es sind zwei Türen, eine am Ende der Halle, umrahmt von zwei geschwungenen Treppen, die andere darüber auf einem kleinen Balkon, zu dem die Treppen führen.
„Gut, wir haben also ein Problem“, stellst du fest, damit Elred weiß, dass du verstanden hast.
„Genau.“ Der Elf klingt widerlich selbstzufrieden. „Wir müssen uns jetzt entscheiden, ob wir nach oben oder nach unten wollen. Der Schöpferstein ist definitiv dort irgendwo, aber wir können schlecht alle vier Wachen ausschalten und dann gemütlich nachsehen. Wir werden handeln müssen, bevor die Orks wissen, was los ist.“
„Sie werden doch auf jeden Fall mitbekommen, dass wir die Wachen töten!“, entfährt es dir etwas zu laut. Erschrocken siehst du dich um, aber niemand in eurer Nähe wirkt, als hätte er dich gehört.
„Ein wenig Zeit bleibt uns, genug, um die Tür von Innen zu verschließen.“ Elred sieht dich an. „Jetzt brauche ich dein Fachwissen: Denkst du, der Schatz ist im Keller oder im Dachboden?“
„Mein … Fachwissen?“
„Nun, Menschen und Orks sind doch fast gleich intelligent“, meint Elred schulterzuckend.
„Es juckt mich in den Fingern, dir den Helm abzureißen und dich von den Orks auffressen zu lassen“, knurrst du, lässt es aber bleiben. Stattdessen wendest du dich den Türen zu.
Die Wachen an beiden Türen geben dir keinen Hinweis. Sie wirken ähnlich stark und ähnlich gepanzert, jeweils zwei große Orks, die ihr mit einem schnellen Überraschungsangriff hoffentlich beseitigen könnt. Bei den Orks der oberen Tür könnte das etwas schwieriger werden, denn sie werden euch auf jeden Fall kommen sehen und sich fragen, warum zwei Feiernde die Treppe hinauf steigen. Die beiden unteren Orks stehen dagegen mitten unter den Gästen. Ihr Fehlen sollte nicht so schnell auffallen – wenn es euch gelingt, sie mitten unter ihresgleichen zu töten, heißt das.
Du grübelst noch immer. Bedeutet höheres Risiko auch eine höhere Chance auf den Schöpferstein? Aber befinden Schatzkammern sich nicht traditionell im Keller? Das nächste Mal, wenn du dich in eine große Diebstahlmission ziehen lässt, wirst du darauf bestehen, zuerst Informationen über das zu sammeln, was euch erwartet.
„Nun?“, fragt Elred.
Du entscheidest dich …
- … für den Weg nach oben. Lies weiter in Kapitel 26.
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- … für den Weg nach unten. Lies weiter in Kapitel 27.