Zuhause angekommen empfing Mounas Mutter sie überstürzt mit aufgerissenen Augen, als konnte sie nicht glauben, wer da durch die Tür kam. Als hätte sie eher einen Einbrecher als ihre eigene Tochter erwartet. Für das perfekte Bild hätte nur noch der Baseballschläger in ihrer Hand gefehlt.
“Was machst DU denn schon hier?“ fragte ihre Mutter mit einer vorwurfsvollen Betonung auf dem DU. Natürlich hatte sie zuerst gedacht, Mouna würde schwänzen, doch warum sollte die dann so dumm sein und nach Hause kommen?
“Wir wurden nach Hause geschickt, es gab einen Unfall.“ sagte Mouna.
“In der Schule? Was ist denn passiert?“
Warum auch immer alle dachten, es sei ungewöhnlich und völlig unwahrscheinlich, dass in der Schule ein Unglück passieren könnte, war Mouna ein Rätsel. Es gäbe kaum einen besseren Ort, um massenhaft junge Mädchen und Jungen gegen ihren Willen festzuhalten. Die Lehrer hätten freie Entscheidungsgewalt über ihre Zukunft und niemand hätte die Kraft sich zu widersetzen. Wenn auch nur ein Lehrer auf dumme Gedanken kommen würde, wären sie verloren.
Doch dieses außerordentlich absurde Gedankenszenario wurde unterbrochen, bevor es ausarten konnte.
Das Telefon mischte sich in die Unterhaltung ein und Mounas Mutter nahm ab.
“Hallo? ... Ja da sind Sie hier richtig. ... Aber natürlich, einen Moment. ... Hier, es ist für dich Schatz, wir reden später weiter.“
“Hallo?“
“Mouna bist du das? Hier ist Carmen.“ hallte es leise aus dem Telefonhörer. Sie kannte also doch ihren Namen.
“Ja. Was ist?“ versuchte Mouna wenigstens etwas selbstbewusst zu klingen, obwohl sie mit der Situation ebenso überfordert war, wie in dem Moment als Carmen ihr leibhaftig gegenüber gesessen hatte.
“Ich wollte mich nur bei dir bedanken. Ich war vorhin noch so benommen und hab gar nicht verstanden, was da passiert war. Und dann hab ich mir deine Nummer aus der Telefonliste rausgesucht. Deine mobile Telefonnummer habe ich leider nicht.“ sie machte eine Pause, als würde sie darauf eine Antwort erwarten. Mouna hatte mit vielem gerechnet in dieser Situation, jedoch nicht mit einem Anruf von Carmen und erst recht nicht mit einem beinahe wahrhaftigen „Danke“.
“Kein Problem.“ sagte Mouna.
“Ich will dich auch nicht weiter stören. Also.. hab noch einen schönen Tag. Wir sehen uns dann morgen in der Schule.“
“Ja bis morgen.“ sagte sie zum Schluss und drückte den Hörer wieder zurück auf das alte Telefongehäuse.
Im Nachgang dachte Mouna, dass Carmen vielleicht auch nur jemanden zum reden brauchte, um zu verstehen, was passiert war. Schließlich klang sie ehrlich und aufrichtig dankbar und auch noch etwas verstört. Nicht so, als hätten ihre Eltern sie gezwungen sich zu bedanken, sondern als hätte sie aus eigenem Antrieb heraus das Gespräch mit ihr gesucht. Mouna, ihre Retterin, denn das war sie schließlich. Die ganze Sache hätte übel ausgehen können, wäre Mouna nicht gewesen.
Und zum ersten Mal gab es ein echtes, wahrhaftiges „Wäre ich nicht gewesen“, das ihre Gedanken durchkreuzte. Es war nicht so, dass Mouna niemals zuvor gebraucht worden war. Spätestens für ihre Mutter war sie oftmals als Seelsorgerin da gewesen, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte. Aber zum ersten Mal hatte Mouna selbst das Gefühl, als wäre sie unentbehrlich gewesen. Für einen kleinen Moment, der sonst so niemals stattgefunden hätte. Der im Zweifelsfall sehr viel übler verlaufen wäre. Ein beschämender Stolz machte sich in ihr breit. Wie konnte sie sich über so ein Unglück nur freuen? Andererseits war es doch dank ihr kein Unglück gewesen und das machte sie so glücklich, wie kaum etwas zuvor.
In der Küche wartete ihre Mutter gespannt auf das, was in der Schule vorgefallen war. Bevor Mouna etwas sagen konnte, fiel ihrer Mutter der Verband an ihrer Hand auf.
“Oh Kind! Hat dir jemand etwas getan, Schatz?“
“Nein Mama, ich habe doch gesagt es gab einen Unfall. Mitten in Mathe ist ein Fenster aus dem Rahmen gefallen.“
“Wie bitte?! Das kann ja wohl nicht sein. Die Schule sieht ohnehin schon aus, als stünde sie seit Jahrtausenden und wäre noch nicht einmal renoviert worden. Ich werde später eine Beschwerde schreiben, man kann euch Kinder doch nicht in eine baufällige Schule gehen lassen. Bist du dabei ernsthaft verletzt worden? Geht es dir gut?“
Sie wusste, dass es für ihre Mutter ein Schock war, doch ihre Prioritäten anhand ihrer Gedankenreihenfolge gaben Mouna zu denken.
“Ich hab das Fenster aufgehalten, bevor es fallen konnte und mir dabei ein paar Splitter zugezogen.“
“Saßt du etwa unter dem Fenster? Da hätte sonst was passieren können. Ein Glück geht es dir gut.“
„Ich saß nicht darunter, sondern Carmen. Sie hatte eben angerufen und sich bei mir bedankt.“
“Oh mein kleines Mädchen, du bist ja eine wahre Heldin.“ mit diesen Worten sprang sie auf und umarmte Mouna ganz kräftig. In dieser Umarmung steckte so viel Erleichterung und Stolz, dass sie es in Worten nicht besser hätte ausdrücken können.
In diesem Moment spürte Mouna die Liebe ihrer Mutter so intensiv und präsent und so nah, wie es nur selten der Fall war. Und auch Mouna empfand echte Liebe, als wäre ihr plötzlich klar geworden, was sie aneinander hatten. Es war so viel wertvoller als das tägliche „Ich hab dich lieb“.
“Ich gehe hoch in mein Zimmer und ruhe mich aus.“
“Mach das mein Schatz, brauchst du noch etwas?“
“Nein Mama, alles in Ordnung.“ Mouna gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und verschwand auf der Treppe, die in ihr Zimmer führte.
Die knarrenden Holzstufen unter ihren Füßen wurden in ihren Gedanken wieder zu einem roten Samtteppich in der großen Empfangshalle eines Schlosses. Doch diesmal fühlte sie sich, als würde sie ein kleines Stück mehr in dieses Schloss gehören. Als wäre sie gewachsen und könnte es zu ihrem Zuhause machen, es selbst gestalten. Das Schloss in einem Wald aufbauen, Bäume und Moos überall um sie herum, der rote Teppich wäre kühler Erdboden und die Kronleuchter warmes Sonnenlicht. Die Wände wären aus Holz, liebevoll aneinandergereiht und mit viel Zeit und Zuversicht in eine einzigartige Form geschnitzt. Das war das Schloss in dem sie Leben wollte, doch bin dahin war es noch ein langer Weg.
Oben angekommen, beschloss Mouna etwas zu zeichnen, dafür hatte sie normalerweise nicht allzu viel Zeit nach der Schule und den Hausaufgaben. Meist gab es danach nur noch Abendbrot und dann sah sie mit ihrer Mutter auf dem Sofa fern. Mouna dachte, dass ihre Mutter sich sonst allein fühlte. Aber das Zeichnen war so befreiend. Darin konnte sie ihren Tag reflektieren und sehen, was sie erlebt hatte. Und heute hatte sie viel erlebt.
Die harte Striche ihres Bleistifts glitten wie von selbst auf dem Papier auf und ab und bildeten zusammen ein Gebäude. Über diesem Gebäude stand der Mond im Zenit und strahlte und blickte sanftmütig auf alles hinab. Er strahlte ein wohltuendes Gefühl aus, als könnte er in tausend Jahren niemandem etwas Böses wünschen. Seine Macht faszinierte Mouna. Unter ihm sah alles so finster aus und nur er erhellte das, was er erhellen wollte. Er konnte sich aussuchen, worauf sein Licht viel und alles andere im Unwissenden belassen. Unwissen über das Schicksal, Unwissen über die Zukunft, Unwissen über alles, was ist. Doch Mouna schien diese Unwissenheit nicht zu sehen, sie schien alles Dunkel zu ignorieren, als wäre es nicht da und wäre nur eine Illusion. Doch sie sah die Anderen. Andere Menschen, Freunde und Feinde. Und sie sah ihre Dunkelheit. Die Ängste, die Trauer und die Unsicherheit. In diesem Bild, war alles Realität und doch nichts, wie es sein sollte. Niemand sah die Dunkelheit und doch war sie überall. Wie ein Glasfenster, das neben ihnen stand und auf ihnen zusammenbrach, sobald sie nach dem Licht fragten.
Auch Mouna hatte nach dem Licht gefragt, doch ihr wurde geantwortet. Wie ein Fenster, das durchsichtig war und nur darauf wartete, aufgefangen zu werden.