Vorsichtig begab sich Mouna wieder Richtung Erdgeschoss. Die wenigen Stufen, die sie vom stabilen Holzboden es Wohnzimmers trennten, schienen mit jeder von Mounas Bewegungen das Gefühl von Angst hoch in ihren Körper zu schicken, der nun ganz eiskalt war. Die Ungewissheit fühlte sich ungewohnt an, ein Gefühl, dass Mouna nicht jeden Tag zu spüren kam. Aber die Spannung durchzuckte sie mit einer überwältigenden Elektrizität, die die Alarmbereitschaft einfach außer Kraft setzte. Langsam bewegte sie ihren Kopf Richtung Boden und lugte unter dem Boden der zweiten Etage kurz hervor. Doch sie sah niemanden, nur die Tür, die offen stand und ihr den Einblick in die Außenwelt gewährte. Konnte es sein, dass es nur der Wind war, der die angelehnte Tür aufgestoßen hatte? Vielleicht war ihre Mutter wirklich einfach nur Brötchen holen und hatte die Tür nicht richtig verschlossen. Die Sonne schien über die Türschwelle und erhellte den ganzen Raum. Draußen sah es nicht gerade stürmisch aus, die Blätter an den Bäumen in ihrer kleinen Nebenstraße bewegten sich kaum, sie waren ruhig wie ein Bergsee. Es konnte nicht der Wind gewesen sein.
Tausende Gedanken schwirrten in Mounas Kopf in diesem Moment der Stille, in dem sie nicht so richtig wusste, was zu tun war. Sollte sie nach oben gehen und sich in ihrem Zimmer verschanzen? Sollte sie im ganzen Haus nach einem Einbrecher suchen und dann Gefahr laufen, dass er bewaffnet war? Der Stillstand ihrer Bewegungen während sie dachte löste sich langsam und sie bewegte sich nach oben in ihr Zimmer, um ihr Handy zu holen. Sicherlich wäre es sinnvoll, die Polizei zu rufen, nur zur Sicherheit. Sie ging leisen Schrittes in ihrem Zimmer umher, während sie die 110 wählte und mit leicht zitternden Händen das Handy an ihr Ohr hielt. Eine ewig lange Minute piepte ihr das Geräusch des Anrufs ins Ohr und weiter passierte nichts.
Unmöglich, dass die Polizei nicht herangeht, dachte Mouna und versuchte es erneut. Möglicherweise hatte sie die Zahlen nicht richtig getroffen und sich verwählt, weil sie so aufgeregt war. Doch auch der zweite Versuch blieb unbelohnt. Vorsichtig bewegte sie sich wieder Richtung Treppe, um zu sehen, ob etwas verdächtiges zu entdecken war. Und erstarrte. In ihrem Körper fand sie nun mehr Aufregung als Angst oder Ungewissheit. Ein kleines Kribbeln in ihrem Bauch ließ sie wissen, dass die Person am Ende der Treppe keine Gefahr barg. Sie hatte ein Gespür für gefährliche Situationen und diese hier war harmlos. Vielleicht war es auch Schicksal, dass sie die Polizei nicht erreichte, wenn es ohnehin ein Fehlalarm gewesen wäre. Sie wollte auch nicht, dass ihm etwas zugestoßen wäre, hätte die Polizei nun ihn für einen Einbrecher gehalten.
Jack stand Mouna direkt gegenüber, zwischen ihnen nur die Stufen der großen, kalten Treppe. An jedem Ende zwei pochende Herzen, deren Puls sich langsam wieder normalisierte, als sie sich in die Augen sahen.
"Was machst du hier?" fragte Mouna mit eiserner, bestimmter Stimme.
"Du weißt es noch nicht." war Jacks Antwort in einem ähnlich kühlen Ton. Mouna glaube ein wenig Unsicherheit in seinem Gesicht zu entdecken.
"Was weiß ich nicht?"
"Es sind alle weg."
"Wer ist weg?"
"Alle, hab ich doch gesagt."
"Wo sind sie denn hin?"
"Das weiß ich nicht." Jetzt war sie schon deutlich besser zu erkennen, die Unsicherheit. Mouna hörte gar nicht wirklich, was Jack sagte. Sie betrachtete die kantigen Konturen seines Gesichts. Einen Tag zuvor waren sie noch so selbstbestimmt, geometrisch, geordnet. Jetzt konnte sie Chaos sehen, einen winzigen Moment der Schwäche, der Menschlichkeit, die er sonst so weit von sich schob.
"Warum hast du mich nicht gerufen?" fragte Mouna, immernoch starr die Treppe herunter blickend.
"Ich wollte dich erschrecken." und plötzlich wirkte er wieder ganz wie er selbst. Ein charmantes, nicht zu freundliches Lächeln, das seine Mimik wieder völlig in Ordnung brachte und.
Er kam ihr auf der Treppe entgegen und alle ihre Sinne schrien sie förmlich an, ihn nicht an sie heranzulassen. Doch als er oben angelangt war, nahm er Mounas Hand, bestimmt und voller Selbstbewusstsein und führte sie nach unten Richtung Haustür. Mit halboffenem Mund, lies sie sich von ihm führen und ein wohliges Raunen in ihrem Bauch lies alle anderen Sinne schweigen. Es interessierte sie nicht, was ihre Augen sahen, ihre Ohren hörten, ihr Blick war nur auf ihn gerichtet. Nichteinmal der Kopf konnte ihr sagen, dass Gefahr auf sie wartete.
Etwas ungeschickt stolperte sie hinter seinem zügigen Gang hinterher. Was er wohl von ihr wollte?
Auf der Tür schwelle angelangt erstarrte sie, stocksteif.
Alles was sie sah, war Nichts. Alles, was sie hörte, war Nichts. Alles, was sie fühlte, war Nichts. Vor ihr lag ihre so wohlbekannte Straße, mit den Bäumen und den Häusern. Doch es fehlte etwas.
Es gab keine Geräusche, kein Vögelzwitschern, keine Reifenquietschen, kein Kindergeschrei. Alles war totenstill. Keine Menschenseele bewegte sich und selbst der Wind schien den Atem angehalten zu haben.
"Wo sind sie hin?" fragte Mouna, ohne zu wissen, von wem sie eine Antwort erwarten sollte.
"Ich wachte auf und sah das gleiche wie du jetzt." antwortete Jack.
Mouna sah ihn an, mit dem gleichen schockstarrigen Gesicht, das sie seit Betreten der Türschwelle aufgesetzt hatte.
"Hast du eine Ahnung warum?"
"Nein."
Und plötzlich sah Mouna in Jack die Besorgnis, die ihn schon immer umgeben hatte und die sie erst jetzt zu verstehen vermochte. Er hatte Angst vor dem Alleinsein, Angst vor Einsamkeit. Das Gefühl vermochte Mouna nicht zu teilen, doch sie spürte, dass sie in diesem Moment das einzige Ufer am Rande eines endlos tiefen, schwarzen Meeres war.
Und mit einer noch nie dagewesenen Überzeugung sagte sie:
"Wir finden sie" und nahm seine Hand.
Er lächelte. Nicht als wären alle Ängste beseitigt, aber so, als gäbe es Hoffnung. Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Mouna führte Jack über die Türschwelle hinaus, in ihren Vorgarten und sie setzten sich gemeinsam auf die Bank direkt vor dem Küchenfenster.
"Was ist passiert?" fragte Mouna.
"Woher soll ich das wissen?"
"Du hast doch auf alles eine Antwort."
"Nein, nicht auf Dinge, die unerklärlich sind."
"Es gibt für alles eine Erklärung."
"Dann sag du mir, was passiert ist." sagte Jack mit finsterer Miene und sah direkt in Mounas Augen. Doch als sie seinen Blick erwiderte, freundlicher und wärmer. Wurde seine Finsternis ein wenig besänftigt.
Er kramte in seiner Tasche und holte Tabak und Papes raus. Fast seelenruhig beobachtete Mouna ihn dabei, wie er seine Zigarette drehte. Er hatte noch immer einige Falten auf der Stirn, von der Konzentration, die er seinem Handwerk schenkte oder von der ganzen Situation, die ihn so sehr zu bedrücken schien.
"Hast du die immer mit dabei?"
"Nein, nur wenn es nötig ist."
Das waren die letzten Worte, die gesprochen wurden, für eine lange Zeit. Gefühlte Stunden saßen sie zusammen auf der Bank.
Mouna fiel ein, dass sie eigentlich zur Schule musste, doch wer würde dort auf sie warten? Wer würde sie unterrichten? Der Schulbus hätte schon längst vor ihrem Haus halten müssen. Doch es passierte weiterhin nichts. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde ihr die Lage erst bewusster und doch spürte sie, dass etwas in ihr ein unerklärliches Ereignis wie dieses schon geahnt hatte. Sie hatte es sofort erkannt. Auf den ersten Blick hatte sie keine Zweifel gehabt, dass wahr gewesen ist, was Jack sagte. Sie hatte nicht weiter nach ihrer Mutter, ihren Nachbarn gesucht. Ihr Innerstes wusste, dass es sinnlos gewesen wäre. Sie waren alle weg und Mouna wurde das Gefühl nicht los, dass es ihre Schuld gewesen ist.