Mouna stolperte die massiven Steintreppen hinauf, vorbei an den kühlen Wänden, die mit zahlreichen Plakaten aus Schulprojekten behangen waren. Sie erinnerte sich an das eine Projekt, das sie selbst vor 4 Jahren in der 8. Klasse mitmachen musste. Eine Schatzssuche auf Französisch mit dem Ziel, dem geheimnisvollen Dieb zuvor zu kommen. Dazu hatten sie und ihre Gruppe zu Beginn einen "anonymen" Hinweis bekommen, dass sich jemand in der Schule herumtreiben würde, der es auf den verborgenen Schatz im Keller abgesehen hätte. Im weiteren Verlauf folgten weitere ominöse Hinweise, die alle an den Orten zu finden waren, auf die der vorherige deutete. Und das alles auf französisch. Anstatt sie aber zum Schluss tatsächlich in den sagenumwobenen Schulkeller zu schicken, wurde eine nicht allzu offensichtliche Tür ganz oben im Physik-Trakt mit einem Zettel gekennzeichnet, auf dem "cave" stand, zu Deutsch Keller. Etwas enttäuscht war Mouna schon, als aus der vielversprechenden Beschreibung ein kinderfreundliches, gewalt- und nervenkitzelfreies Mini-Abenteuer wurde. Das kleine Fünkchen Sehnsucht nach einem echten Abenteuer, mit Geheimnissen, mystischen Orten und Magie, ganz fernab vom Alltag, wurde von der geballten Realität begraben.
Und so wie jeden Tag, war das einzige Abenteuer, das sie bestreiten durfte, das des Lebens. Und Mounas Leben bestand aus Klausuren und Hausaufgaben. Immerhin brauchte man das ja, um einen Job zu bekommen, um Geld zu verdienen und leben zu können.
In ihren eigenen Gedanken versunken tappste sie durch die Gänge der Schule, hinauf und weiter hinauf bis zum Mathematikraum. Dort angekommen setzte sie sich ganz hinten rechts an ihren Stammplatz. Sie war eine der ersten. Das war sie eigentlich immer, nur um nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wenn sie durch die Tür ging. Andere wiederum genossen sie richtig, diese Flut an neidischen, verehrerischen Blicken. So wie Carmen: sie schaffte es, immer im Mittelpunkt zu stehen, selbst wenn sie die einzige Person im Raum war und ihr niemand diese Aufmerksamkeit geben konnte. Ihre bloße Anwesenheit, ihre Haltung und ihr sichtbares Selbstbewusstsein lenkten alle Blicke auf sich. Sogar die der Tische und Stühle. Mouna wusste nicht einmal so recht, ob sie Carmen verachtete, weil sie so unglaublich arrogant war oder sie bewunderte, weil sie selbst ein kleines bisschen mehr Selbstbewusstsein vertragen konnte.
"Darüber nachzudenken macht ja doch keinen Sinn. Sie wird sich nicht schlagartig ändern und ich ebenso wenig." dachte Mouna in sich hinein, doch der Gedanke hallte laut in ihrem Kopf wieder und wieder und immer wieder.
Wo lag schließlich der Sinn im Erwachsenwerden, wenn man jede Hoffnung auf Veränderung aufgab?
In Gedanken versunken bemerkte Mouna nicht, wie Carmen direkt auf sie zusteuerte und sie ansprach: "Mara, richtig?"
"Mouna." erwiderte sie nüchtern, immernoch irritiert von Camens Präsenz.
"Achso, naja das klingt ja fast gleich."
"Warum redest du mit mir?"
Carmen setzte sich schwungvoll auf den Stuhl neben ihr.
"Ach ich dachte nur, dass sich mal jemand mit dir unterhalten sollte, weil du hier immer so allein rumsitzt."
"Und worüber möchtest du mit mir reden?"
"Dies und das, Gott und die Welt. Erzähl doch einfach mal ein bisschen von dir?"
In Mounas Gehirn ratterte so angestrengt, dass man es nach außen hin hätte hören können. Wollte Carmen wirklich einfach mal nett sein oder war das der Anfang ihres Untergangs? Eigentlich hatte Mouna auch gar kein Interesse an einem Gespräch mit ihr.
"Ich wüsste nicht was ich dir erzählen sollte. Die Frage ist mir zu unkonkret."
"Oh man du bist echt so verklemmt. Was machst du denn so den ganzen Tag?"
"Ich bin in der Schule, genau wie du."
"Wow. Wie langweilig kann man nur sein. Echt kein Wunder, dass du hier keine Freunde hast."
Und mit diesen Worten schwang sie sich ebenso elegant, wie sie sich setzte wieder zurück durch das Klassenzimmer auf die andere Seite, neben den Fenstern, zu ihren "coolen" Freunden.
Immernoch verdutzt überlegte Mouna, ob sie vielleicht wirklich so seltsam war, wie Carmen sagte. Andererseits.. Warum sollte sie jemandem, den sie nicht gut kannte und für den sie auch kein Fünkchen Sympathie hegte, etwas privates aus ihrem Leben erzählen?
Und trotzdem Mouna ihre eigene Reaktion für richtig hielt, war sie doch plötzlich traurig gestimmt. Aber es war nicht nur Trauer, die sie tief in ihrem Herzen spürte. Dort fand sie Wut und Hass, auf alle diejenigen, die ihr ständig sagen wollten, was sie zu tun hatte. Und vor allem auf Carmen. "Warum wollte sie denn überhaupt irgendwas von mir wissen? Sie hätte mich einfach in Ruhe lassen können." dachte sie im Stillen und fraß den Ärger immer weiter in ihr Herz. Denn mit wem konnte sie darüber reden, um ihn loszuwerden?
Voller Unruhe in ihrem Kopf ignorierte Mouna den Unterricht, der vor ihr wie ein beiläufiger Film spielte. Für gewöhnlich war sie sehr aufmerksam, doch heute hatten sie ihre dunklen Gedanken voll im Griff.
"Was wäre, wenn ich anders wäre? Hübsch und beliebt wie Carmen? Oder einfach mutig und selbstbewusst? Könnte ich nicht einen Tag sie sein, wie bei Freaky Friday? Aber was würde das nützen? Danach wäre ich immernoch ich und und es würde nichts daran ändern, wer ich in Zukunft sein würde. Ich könnte niemals sein wie sie. Carmen ist wie eine Plage. Welch Wohltat wäre es, könnte man nur irgendwie aus ihrem alles überdeckendem Schatten treten."
Gedankenversunken neigte sich ihr Kopf durch den Raum. Sie beachtete die Menschen vor und neben ihr nicht, sie sah sie nicht. Sie blickte nach draußen, wo der Mond noch seine letzte Kraft nutzte, um für die Welt sichtbar zu bleiben, bevor er vom hellen Licht der Sonne verschlungen wurde.
Etwas scheint ihr zuzuflüstern: "Sei vorsichtig."
"Vorsicht? Wieso das denn?"
"Deine Gedanken werden dunkel."
Die Stimme hatte recht. Mounas Gedanken drängten sich langsam in die dunkelste Ecke, die in ihrem Kopf existierte. Niemand sollte sich wünschen jemand anderer zu sein und erst recht sollte es keine Überlegungen über das Leid anderer geben.
Doch wo kam diese Stimme her? War sie ebenso nur in ihrem Kopf? Aber warum sollte sie dann anderer Meinung sein? Oder sprach doch jemand zu ihr?
Mit diesem Gedanken verschärfte sich ihr Blick und sie sah sich um. Niemand sah sie an, keiner erwartete eine Antwort. Auch der Rest ihrer Mitschüler, sie wirkten allesamt abwesend. Plötzlich kam ein Geräusch von der Fensterseite, das Mouna nicht einordnen konnte. Sie drehte sich ihr zu und bemerkte, dass das Fenster der alten Backsteinschule langsam aus dem Rahmen fiel. Es drohte zu kippen, jedoch nicht nach außen Richtung Straße.
Geistesgegenwärtig schrie sie "Vorsicht!". Carmen, die direkt unter dem wackeligen Fenster saß und die gesamte Klasse drehte sich ruckartig mit großen Augen zu ihr um, als hätten sie alle ein Schwein sprechen hören. Keiner bewegte sich und so nahm Mouna allen Mut zusammen und stürzte sich durch den Raum auf das Fenster und hielt es in letzter Sekunde davon ab, auf Carmens Kopf zu zerschellen.
Reine Stille erfüllte dem Raum. Niemand sprach ein Wort. Alle blickten erschrocken und erstaunt drein. Mouna war sich nicht sicher, ob es die Tatsache war, dass eine Schülerin beinahe erschlagen wurde oder die Verwunderung über ihre plötzliche Handlungsbereitschaft, die diese Stille auslöste. Und auch sie selbst wusste nicht, was sie mehr überraschte.