Als Mouna in die Küche zu ihrer Mutter tapste, setzte sie sich, wie jeden Tag, an den kleinen Küchentisch und fing an die selbstgemachten Pfannkuchen zu essen.
"Du musst aufhören so rumzutrödeln. Es ist keine Schande zu früh in der Schule zu sein." hörte sie ihre Mutter im Hintergrund sagen, während das Kauen ihre Stimme dumpf und kaum hörbar erscheinen ließ.
"Hast du gut geschlafen Mama?" fragte Mouna, mehr aus reiner Höflichkeit, als aus Interesse.
"Hach Süße, mir geht es momentan generell nicht so gut. Ich wache nachts ständig auf und habe Schmerzen am ganzen Körper."
"Das wird schon irgendwann wieder werden." sagte Mouna, während sie weiter ihre Pfannkuchen genoss.
Sie tat ihr auch leid. Wie Oma Rosi. Aber Mounas Mutter redete kaum von etwas anderem. Pausenlos tat ihr irgendetwas weh. Ununterbrochen bekam ihre Tochter zu hören, was sie an ihrem Leben alles nicht leiden konnte. Dabei hatte sie ein wirklich gutes Leben, fand Mouna. Immerhin hatten sie eine wunderschöne Wohnung in einer guten Gegend, einen guten Job und genug Geld für alles, was sie brauchten. Eine ganz normale Familie eben, ohne Probleme, aber mit vielen Sorgen. Wenn erwachsen werden bedeutete, ständig nur alles doof und anstrengend zu finden, dachte Mouna, wollte sie nicht erwachsen werden.
Auf Familienfeiern hieß es immer: "Es geht mir gut" und "Ich kann mich nicht beklagen", von jedem. Aber wenn sie dann alle zwei Gläschen Wein hatten, sprudelte alles raus. Wie unerfüllend der Job war, wie der letzte Jahresurlaub alle Ersparnisse aufgebraucht hatte, obwohl man das gar nicht wollte. Wie schon wieder die Waschmaschine nicht funktionierte, obwohl sie doch gerade erst ein Jahr alt war. Wie man denn nun schon wieder krank war und man wüsste gar nicht mehr, welche Medikamente man noch nehmen sollte.
Wie schrecklich musste das Leben als Erwachsener sein.
"Ich habe diese Nacht wirklich gut geschlafen." sagte Mouna zu ihrer Mutter, die gerade den Abwasch erledigte, um anschließend zum Arbeitsplatz zu hasten, der nur ein Zimmer entfernt war.
"Das freut mich. Könntest du bitte schonmal deine Tasche packen? Der Bus fährt in 15 Minuten vor."
Die Frage wirkte auf Mouna eher wie ein Befehl und so ging sie wieder hoch in ihr Zimmer, mit einem leichten wütenden Grummeln im Bauch. Ihre Schultasche hatte sie am Abend zuvor schon gepackt. Das macht sie immer. So oft hatte sie ihrer Mutter gesagt, dass sie schon alt genug war und das allein konnte. Sie konnte allein entscheiden, wann sie ihre Tasche packte, wann sie zum Bus lief und wann sie in der Schule ankam. Mouna hatte ihr nie Probleme gemacht und doch vertraute ihr ihre Mutter nicht genug. Vielleicht war es einfach das Alter. Die Zeit in der die Pubertät einen Keil zwischen Mutter und Tochter trieb, obwohl sich nichts geändert hatte, außer der Zahl auf der Geburtstagstorte. Oder vielleicht bemerkte ihre Mutter gar nicht, wie sie Mouna zu bevormunden versuchte.
Doch mit ihr darüber zu reden machte wohl wenig Sinn, dachte sie sich. Sie änderte ja doch nichts, wenn sie es überhaupt hörte. Manchmal war sie so in ihren Alltag vertieft, dass sie vergaß, dass auch Mouna ein Teil davon war.
Ohnehin redete Mouna nicht viel mit ihr. Eigentlich redete sie generell nicht viel, ihre Gedanken behielt sie meist für sich. Wer würde sich schon für ihre Gedanken interessieren?
Mit dem Kopf voller Grübeleien schnappte sie sich ihre Tasche und ging nach unten, um zum Bus zu gehen, der sie direkt vor die Schule fuhr. Besser konnte es kaum sein. Sie zog ihre braunen, schlichten Winterstiefel und ihre schwarze Winterjacke mit Kapuze an. Das komische Fell wollte sie schon länger von der Kapuze abtrennen, es gefiel ihr überhaupt nicht. Aber jedes Mal, wenn sie nach Hause kam und die Jacke an die Garderobe hing, vergaß sie es wieder.
"Viel Spaß in der Schule mein Schatz. Ich hab dich lieb."
"Ich hab dich auch lieb, Mama", Mouna wusste genau, was ihre Mutter hören wollte. Oder eher was sie hören musste, um nicht gleich bei der nächsten mittelschweren Katastrophe überdramatische Gorillatränen fließen zu lassen.