“Ich weiß, dass du mich hörst.“
Mounas Augen waren fest geschlossen und doch konnte sie die Umrisse der eindringlichen, aber so sanften Stimme ganz klar erkennen. Es war weder die Stimme eines Mannes, noch die einer Frau und auch die Silhouette nahm keine eindeutigen Proportionen an. Es war etwas anderes, aber es klang so sehr vertraut.
“Du musst mich sehen! Es wird Zeit.“ sprach die Stimme und verhallte im Nachklang ihrer eigenen Worte. Mouna konnte nicht antworten. Hätte sie es gekonnt, so hätte sie fragen können, wer da zu ihr sprach, wen sie so dringend sehen sollte. Tief in ihr hörte sie das Echo noch immer, als sie langsam den Kopf von ihrem Schreibtisch erhob und statt der morgendlichen Verwirrung ganz klar und scharf sehen konnte. Ihr wurde allmählich klar, dass die Stimme, die sie in ihrem Traum begleitet hatte, die selbe war, die im Klassenzimmer zu ihr sprach. Sie schien es sich nicht eingebildet zu haben, sie war wirklich da, erneut. In Tag- und Nachtträumen hörte und spürte sie das gleiche Verlangen. Verlangen nach Antworten und Erklärungen dafür, wer da gesprochen hatte. Dafür, wie diese seltsame Stimme in ihrem Kopf wissen konnte, was in der Zukunft geschah. Dafür, warum scheinbar niemand anders diese Stimme hörte.
In ihrem Zimmer war es dunkel, mittlerweile Nacht geworden, seitdem sie auf ihren Zeichnungen geschlafen hatte. Der große Bleistiftmond hinterließ nun einen leichten Abdruck auf ihrer Stirn und der helle Mond vor ihrem Fenster ließ sie ihn erkennen, als sie in den Spiegel an ihrem Kleiderschrank sah.
“Na gut“, sprach sie im leisesten Flüsterton zu sich selbst, sodass es niemand hören konnte, auch wenn sicherlich niemand in Hörweite war, „scheint als wäre es Zeit fürs Bett.“ Auf leisen Sohlen schlich sie ins Badezimmer vorbei an der Schlafzimmertür ihrer Mutter.
Sie putzte sich die Zähne mit ihrer hölzernen Zahnbürste und versuchte die Augen nicht zufallen zu lassen. Die Müdigkeit war schwer auszuhalten.
“Nur noch das Gekritzel von meiner Stirn waschen und dann kann ich ins Bett“ wiederholte sie in ihren Gedanken. Doch als sie die Zeichnung auf ihrer Stirn mit Lappen und Seife entfernen wollte, rührte sich kein Strich. Auf dem Lappen war nicht einmal annähernd die grau-silbrige Farbe zu sehen und auf ihrer Stirn schien der Mond augenscheinlich noch heller als zuvor. „Gut, dann versuche ich es morgen eben nochmal“ sagte sie zu sich und legte sich erschöpft ins Bett.
So ereignisreich ihr Tag auch gewesen war, während sie schlief begleiteten sie keine Träume. Weder gut noch schlecht. Kein Märchenwald und keine Höllenschule. Als hätte ihr Kopf aufgehört über alles nachzudenken. Selbst ihre Fantasie machte eine Pause von den Ereignissen des Tages. Es war so ruhig und friedlich, als würde die gesamte Luft in ihrem Zimmer stehen bleiben, sich nicht bewegen. Kein Atem und keine Geräusche aus dem offenen Fenster zur Straßenseite. Kein Windhauch, der durch das Zimmer glitt. Für Mouna wäre diese Stille ungewohnt gewesen, denn für sie gab es immer etwas zu tun und wenn es nur träumen war. Doch sie schlief so tief und fest, dass sie nicht einmal die Stille wahrnehmen konnte.
Vielleicht hob sie sich selbst für ihre Tagträume auf, damit sie wahrhaftig miterleben konnte, was alles möglich war. Träume in der Nacht vergaß sie so schnell, aber Tagträume waren echt. Sie blieben nicht nur im Gedächtnis, sondern auch im Herzen. Das wusste Mouna nicht, doch sie bekam es jeden Tag zu spüren, wenn sie den roten Teppich ausrollte oder den geheimnisvollen Wald besuchte.
Ein Leuchten erhob sich. Es zuckte wie eine Sternschnuppe durch den Raum. Es hatte kein Anfang und kein Ende und doch schien es von Mouna auszugehen. Ein weiteres Zucken. Und noch eins und immer mehr. Wie ein Feuerwerk und doch: Es kam von ihr.
Von dem kleinen ruhigen, schüchternen Mädchen voller Fantasien entsprang ein Feuerwerk aus Licht, aus Helligkeit, aus Gutem und legte sich über die ganze Stadt, das ganze Land, die ganze Welt.
Niemand konnte es sehen, doch es verbreitete ein wohliges Gefühl von Wärme in jedem einzelnen, in der ganzen Stadt, auf der ganzen Welt. Ein Moment der Freude legte sich in den schlafenden Träumern nieder. Nur Mouna träumte nicht.
Sie verbreitete so viel Freude in den Träumen anderer, dass für sie selbst nichts mehr übrig blieb. Sie musste sich ausruhen, um am nächsten Tag wieder den Märchenwald zu sehen, den Duft von Moos und Gras zu riechen, um die geheimnisvolle Stimme zu hören und im ihrem Schloss entlangzuschreiten und alles um sich herum zu spüren.
Am nächsten Morgen wachte Mouna etwas zerknautscht und leicht verwirrt auf. Der Tag zuvor hatte ihr einige Kraft abverlangt. Oder war es die Nacht?
Noch immer nicht ganz anwesend, machte sie sich auf den Weg nach unten.
"Guten Morgen Mama" rief sie noch mit kratziger Stimme durch das Wohnzimmer.
Keine Antwort.
Mouna ging in die Küche, in der Hoffnung dort ihr tägliches Frühstück vorzufinden.
Nichts.
Die Verwunderung nicht den gleichen Anblick, wie jeden Morgen vor sich zu haben, ließ Mouna etwas wacher werden.
"Mama?" rief sie nun etwas lauter durch die ganze untere Etage.
Wieder kam nichts zurück.
Ihre Mutter hätte ihr wohl gesagt, wenn sie am frühen Dienstagmorgen woanders hingefahren wäre. Oder sie hätte wenigstens einen Zettel hinterlassen. Aber wohin Mouna auch sah, keine Spur von niemandem.
Etwas widerwillig ging sie zum Kühlschrank und holte sich einen Joghurt raus, den sie sofort am Küchentisch verputzte. Dabei sah sie sich weiter um, womöglich war ihre Mutter nur zum Bäcker gegangen oder im Vorgarten.
Als sie suchend aus dem Fenster sah, bemerkte sie, dass es ungewöhnlich still war. Es waren keine Autos, nichtmal eines, draußen auf der Straße vor ihrem Haus zu hören. Wie konnte das sein? In dieser Stadt war doch immer etwas los.
"Hab ich irgendwas verpasst? Womöglich einen besonderen Feiertag?" sagte Mouna zu sich selbst. "So still ist es nicht einmal Sonntags."
Sie lief ins Wohnzimmer zum Fernseher und schaltete ihn ein. Aber alles was sie sah, war schwarz. Kein Bild, auf keinem Sender.
"Okay, so langsam wird es gruselig."
Auf dem Weg nach oben, sie wollte sich gerade anziehen, um zur Schule zu fahren, hörte sie ein Geräusch. Ein Klopfen? Nein das musste sie sich eingebildet haben. Ein weiterer Schritt auf der Treppe. Da war es wieder. Noch ein Schritt. Ein Rumsen, als würde eine Tür mit voller Wucht gegen die Wand geknallt werden. Mouna blieb wie angewurzelt stehen. Ein Windhauch umflog ihr Haar und verpasste ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper. Die Fenster waren alle geschlossen, jemand musste tatsächlich durch die Tür gekommen sein. Doch es konnte nicht ihre Mutter sein. Sie war immer so lieblich und sanft in allem was sie tat. Dieses Geräusch klang grob und schwer, vielleicht etwas tollpatschig oder sogar gefährlich. So klingt keine Mutter, die zu ihrer Tochter nach Hause kommt. So klingt nur jemand, der etwas unrechtes tun wollte.