Obwohl sich alle beeilt hatten, sich zu verabschieden, war der Nachmittag schon fortgeschritten, als die beiden so unterschiedlichen Reisenden aufbrachen. Die gelbe Sonne stand schon tief über den Häusern und würde ihnen nur noch für eine Stunde* direktes Licht geben.
Omoktoplon war dabei sichtlich gut gelaunt und erwartete dennoch vor Einbruch der Dämmerung ein Lager im Schatten des Waldes aufzuschlagen, wo es in der Nacht doch bedeutend wärmer sein würde, als auf dem Plateau, auf dem sie sich nun befanden.
Das ungleiche Paar verließ also reitend auf dem Urenark in Richtung Norden die Siedlung, die Sonne und das Winken aller die En David sein Leben lang gekannt hatte im Rücken. Bevor das Gezwitscher der Vögel die Stimmen überdeckte hörte man auch noch ihre Segenswünsche, die sie ihm nachriefen. Sie standen sicher noch da, bis En David und Omoktoplon auf dem seltsamen Reittier ein kleiner Punkt in der Ferne waren.
Und der Urenark war ein schnelles Tier. Tatsächlich war es ganz angenehm auf seinem Rücken zu sitzen, während er in einem leichten Trab vielleicht 40 Kilometer in einer Stunde* zurücklegte. En David wäre vielleicht sogar eingeschlafen, doch die Abenteuerlust hatte ihn gepackt. Er war nun begierig, den Wald von innen zu sehen, diesen grünen Ozean aus Blättern und Holz, den er nur am Rande betreten hatte, der ihm als Kind so streng verboten gewesen war und den er bis heute morgen für einen bedrohlichen Ort gehalten hatte.
Der Wald wäre auch nicht weit gewesen, doch jedes Kind wird verstehen, dass man nicht an einer beliebigen Stelle einen Abstieg in ein Tal beginnen kann, vor allem dann nicht, wenn man reitet. Man muss einem Pfad folgen, der nicht über zu steiles Gelände führt. Und wenn man die Tautanischen Berge kennt, wird man verstehen, dass es mit einem Pferd beinahe aussichtslos ist, einen Weg zu finden, auf dem man ins Tal reiten könnte, ohne ernsthafte Verletzungen zu riskieren. Selbst mit dem Urenark, der schwindelfrei wie eine Gemse und dabei stark wie ein Bär war, wäre es eine Herausforderung, wenn man den Weg nicht gekannt hätte.
Omoktoplon kannte den Weg und an irgendeiner Stelle, die für En David aussah wie jede andere, bog er nach links von der Handelsstraße ab und ließ den Urenark durch die offene Wiese laufen, bis sie an einen kleinen Bachlauf kamen, dem sie folgten.
Nur Wenige Minuten später floss der Strom bereits merklich tiefer in einem kleinen Tal, das nach vorne den Blick auf den Wald eröffnete, der En David immer noch einen Schauer über den Rücken laufen ließ, wenn er an die Märchen dachte, die er darüber gehört und geglaubt hatte. Doch nun war er entschlossen seine Geheimnisse zu lüften und jene Ängste schienen ihm unbegründet.
Sie erreichten bald die Baumgrenze, die sie noch im Trab passierten, sie hatten noch einige Höhenmeter vor sich, bevor der Wald genug Schutz vor der Kälte der Nacht bieten würde. En David hätte auch auf dem Hochland problemlos übernachten können, doch Omoktoplon war offensichtlich nicht für die niedrigeren Temperaturen dort gebaut.
Auch wenn sie die Sonne schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatten, fing es erst an zu dämmern, als sie ihr Lager im Schutz des Waldes errichtet hatten. Omoktoplon hatte ein Feuer angezündet, während En David sich noch wunderte, dass er den Urenark nicht an einen Baum band sondern frei herum laufen ließ.
Beim Abendessen, dass vor allem aus dem frischen Gemüse im Proviant bestand, in einer kleinen Pfanne mit Kräutern des Waldes geröstet, erklärte Omoktoplon, dass der Urenark sie gegen wilde Tiere beschützen würde, falls welche kommen sollten. Er behauptete, dass auch ein wilder Urenark nur sehr selten aggressiv sei, es aber andere Tiere gebe, die ihnen gefährlich werden konnten. An dieser Stelle wollte En David lieber nicht mehr erfahren und wechselte das Thema. Sie sprachen etwas über die Lebensweise der Talbewohner, doch Omoktoplon vertröstete seinen neugierigen Gefährten bei den meisten Details. "Nein", sagte er mehrmals, nachdem En David eine offene Frage gestellt hatte, "du stellst es dir nicht vor, wie es ist. Du wirst enttäuscht sein, wenn du es siehst, wenn du so vorgehst. Warte und denk nicht zu viel daran, dann wirst du dich später daran freuen. Und deine Fragen haben ihren Platz, wenn wir dort sind."
En David gab sich schließlich zufrieden und legte sich schlafen, nachdem er höflich die Kochkunst seines Führers gelobt hatte.
Viel zu früh für sein Gefühl wurde er wieder geweckt. Omoktoplon stand neben ihm und war damit beschäftigt, seinen Mantel auszuschütteln, auf dem er nachts geschlafen hatte. En David wurde plötzlich bewusst, dass ihm jetzt schon warm war - wie würde es erst sein, wenn sie das Tal erreicht hatten. Schlaftrunken wie er war, spukte dieser Gedanke in seinem Kopf herum, bis Omoktoplon ihn aus seiner Fantasie aufschreckte: "Steh auf, En David. Es wird bald Regen geben und wir sollten den Abstieg vorher geschafft haben. Wir müssen uns beeilen!"
Die Regenschauer auf Tauta waren heftig. Aber so heftig sie waren, sie waren eben auch kurz. "Lass uns doch warten, bis der Regen vorbei ist", sagte En David deshalb. In seinem gegenwärtigen Zustand hätte es ihm nichts ausgemacht, noch einen Tag hier liegen zu bleiben. Doch Omoktoplon ließ sich nicht erweichen. Er sagte, dass ihre Mission keinen Aufschub dulde und befürchtete außerdem, dass sie in Gefahr kommen konnten, solange sie nicht tiefer im Wald waren. Schließlich machten die Tauta Zet Jagd auf den Urenark. So mochte es doch sein, dass ein Jäger, falls denn einer in der Gegend war, einen Schuss abgab, wenn er Omoktoplons Tier sichtete.
En David war zwar der Meinung, dass sie zu weit von anderen Siedlungen entfernt seien, um sich solche Sorgen zu machen, doch das beeindruckte Omoktoplon nur wenig. Er gab En David eine Hand und half ihm auf. Dieser dürre Mann hatte eine Kraft, die En David ihm nicht zugetraut hätte. In die Senkrechte befördert ließ es sich gleich viel besser denken und es schien gar nicht mehr so unangenehm die Reise nun fortzusetzen. Auf dem Urenark zu reiten war sicher auch weit weniger anstrengend als diesen Weg selbst zu laufen.
Sie luden also ihr Gepäck wieder auf den Urenark und stiegen dann selbst auf, um unverzüglich loszureiten. An diesem Tag legten sie wohl gut 1000 Höhenmeter zurück und es war viel schweißtreibender im Gelände auf dem Urenark zu sitzen als auf gerader Ebene. Vielleicht lag es auch daran, dass es immer wärmer wurde. En David vermisste den kühlen Wind seiner Heimat und hatte das Gefühl schwer atmen zu können in der feuchten drückenden Luft des Waldes. So freute er sich, als es schließlich um die Mittagszeit anfing zu regnen. Einerseits, weil das eine ersehnte Abkühlung war. Andererseits, weil Omoktoplon sich anschickte einen geeigneten Platz auszumachen, an dem sie abwarten konnten, bis der Regen aufgehört hatte und es wieder trocken genug war, um die letzten Hänge zu passieren. Er war frustiert, denn er wusste, dass das auch nach einem kurzen Schauer wohl einen ganzen Tag dauern mochte.
Aber für den Moment konnte er nichts weiter tun und so blieben sie an einer einigermaßen ebenen Stelle stehen und sattelten ab. Omoktoplon nahm eine zusammengerollte Plane und spannte sie im Schatten eines Felsen auf, um sich vor dem Regen zu schützen, während En David sich weigerte, sich die Kühle der Tropfen entgehen zu lassen.
*Der Leser soll hier erfahren, dass eine Stunde nach Tautanischer Zeitmessung ein Zehntel des Tages ist, wie es von Anbeginn der Zeit in ganz Allrund üblich war. Der Tag wird also nicht wie bei uns in 24 sondern in zehn gleiche Teile aufgeteilt. Somit ist eine Stunde eine relativ lange Zeit verglichen mit einer irdischen Stunde.