Früh am nächsten Morgen ging En David wieder zu Omoktoplon. Er hatte doch recht gut geschlafen, besser als erwartet jedenfalls.
Omoktoplon war auch schon wach und saß im Freien, vor dem Haus, auf einer Bank, eine hölzerne Tafel in Händen. Als En David näher kam, sah er dass eine Seite völlig glatt geschliffen war. In diese Fläche waren seltsame Zeichen eingraviert, in Spalten geordnet und schmucklos, ganz anders als die Schrift, die ihm bekannt war.
"Guten Morgen!", begrüßte Omoktoplon En David. Er war in ein Fell gehüllt, während En David nur einen leichten Lendenschurz trug.
"Guten Morgen, wie geht es deinem Bein?" - "Ach das ist halb so wild.", meinte der fremdartige Mann, der keinen Schmerz zu kennen schien.
"Setz dich zu mir, dann können wir gleich über die Reise sprechen.", En David gehorchte und war sich nicht sicher, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Er freute sich, dass einer gekommen war, der ihn nicht wie den König behandelte und ärgerte sich, dass dieser Gast sich selbst so viel Autorität zuerkannte.
Diesmal übernahm En David den Einstieg in das Thema, das im Raum stand: "Wir sollten erst noch ein paar andere Sachen besprechen, bevor ich mit dir in ein Abenteuer aufbrechen kann. Ich habe zwar alles für eine Reise vorbereitet, aber ich muss doch wissen, mit wem ich überhaupt reise."
Ein Schmunzeln huschte über Omoktoplons Gesicht, als er antwortete: "Ich bin Omoktoplon, ältester Prinz des Waldes. Ich komme aus dem Tal, um dich zu holen, denn unsere Väter sind gute Freunde gewesen." - "Wie kann es sein, dass du aus dem Tal kommst, dort kann man doch nicht leben?", fragte En David ziemlich ungläubig, was Omoktoplon erneut zum Schmunzeln brachte: "Hast du nie die Mythen gehört, die man sich erzählt? Jäger sahen im Wald Geister, die blass und dünn zwischen den Bäumen herumgleiten. Meist flohen diese Jäger dann voller Furcht. Doch was sie gesehen haben, sind Männer wie ich und auch Frauen sollen sie gesehen haben. Es gibt ein ganzes Volk im Tal, das von meinem Vater regiert wird. Eigentlich ist es gar nicht so zauberhaft, wenn man von der ersten Zeit unserer Ahnen absieht. Dir ist doch bekannt, dass ein Mann vor hunderten von Jahren mit einer Schar Aufständischer ins Tal verbannt wurde. Er hat wahrlich nicht lange überlebt, doch einige der Frauen, die unter ihnen waren lebten lange genug, um zu entbinden und Kinder zu säugen. Sie hatten Höhlen gefunden, in deren Schatten es kühl genug war um zu leben und in denen es kaltes Wasser gibt. Wenigstens ein paar Jahre überlebten sie noch, doch dann ließen auch sie ihre Kinder zurück und gaben ihre Seelen auf. Diese Kinder wurden wohl vom Himmel beschützt und man sagt, sie seien von Engeln erzogen worden. Von ihnen stammt dieses Volk im Wald ab. Wir sind die fünfzehnte Generation und es ist nun wohl die Zeit gekommen, euch wieder zu begegnen. Wir sind ja eure Brüder und Schwestern."
En David schwieg einige Sekunden nachdenklich bevor er erwiederte: "Das ist ganz schön viel. Ich will es kaum glauben, aber es fällt mir auch keine bessere Erklärung ein, warum dir hier sonst so kalt sein könnte. Sind alle eure Leute so dünn und blass?"
Omoktoplon musste sich merklich ein Lachen verkneifen, obwohl diese Frage ja gerechtfertigt war: "Ja, das sind sie allerdings. Diejenigen, die deinen Vater kennenlernten, waren auch immer ganz entgeistert, jemanden zu sehen in dessen Gewand drei unserer Männer gepasst hätten. Und dein Vater war für eure Verhältnisse wohl noch recht schlank, wenn ich die Männer hier betrachte."
En David fühlte sich schuldig, hier für sein Volk zu sprechen: "Ja. Es ist in gewisser Weise ein Zeichen von Reichtum und Macht, wohlbeleibt zu sein und starke Schultern zu haben. Mein Vater hat von diesen Dingen nie etwas gehalten. Ich dagegen weiß nicht, was daran verwerflich ist. Doch genug davon. Möchtest du mir nun erklären, Omoktoplon, welche Reise ich mit dir unternehmen soll?"
"Du wirst mich ins Tal begleiten, En David. Du sollst dort Dinge lernen, die euer Volk früher wusste, die aber lange in Vergessenheit geraten sind. Du sollst lernen, wie du die Tauta Zet regieren kannst. Sie sind dein Volk. Sie sind dein Garten, doch dies ist eine Zeit, in der sie dir verschlossen sind. Es ist eine Zeit, der wir bald ein Ende setzen müssen. Denn andernfalls wird das, was ich nun noch einen Garten nenne, schnell wieder ein wilder Wald sein. Dein Volk ist geknickt, En David. Du sollst lernen es zu stützen, bevor es zerbricht."
Als er dies hörte, verfinsterte sich En Davids Miene. Und er erwiderte müde: "Da ist es also doch. Mein Vater konnte es nie lassen. Er träumte davon, der große König in Ed Bad zu sein, doch diese Zeiten sind vergangen. Unser Königreich, die Dynastie der Eyaded, Die Spiele durch die der Rat gewählt wurde: All das ist Geschichte. Wir sollten dem nicht nachtrauern. Wir müssen darauf sehen, was wir heute tun dürfen. Nicht auf das, was eines vergangenen Tages möglich gewesen wäre."
Omoktoplon war den Tränen nahe. Er fühlte, dass En David seinen Glauben an ein gutes Ende nicht teilte. Es tat im weh, ja alles in ihm wollte diesem Mann wieder Hoffnung schenken, die er noch nicht annehmen konnte. Also antwortete er so sanft und ruhig, wie er konnte: "En David, es stimmt, dass du zur Zeit nicht in der Lage bist, den Ianern ihren Platz streitig zu machen, geschweigedenn, sie wirklich zu besiegen. Doch die Geschichte deines, ja die Geschichte unseres Volkes liegt noch zum größten Teil vor uns. Dessen bin ich mir sicher. Es gibt nun einen Tyrannen, doch es wird auch Befreiung geben und ein Ende der Tyrannei. Wenn du nicht das Ende setzt, wird es länger dauern. Ein anderer wird geboren werden, er wird sich erheben und für die Freiheit kämpfen. Doch du wirst diese Freiheit nicht mehr sehen."
En David straffte sich etwas, doch er schien nur halb zugehört zu haben. Seine Stimme klang hart und kalt, ganz anders, als er noch am Tag zuvor mit seiner Frau gesprochen hatte, als er seinen Entschluss fasste: "Nun denn. Ich werde mit dir ziehen, Omoktoplon. Aber sei dir bewusst, dass ich es aus Liebe zu meinem Vater tue. Ich möchte seinen Spuren folgen, wissen, was ihm geschehen ist. Den Glauben an die Auferstehung unseres Königtums teile ich nicht."
Nun floss eine Träne aus Omoktoplons rechtem Auge und er kümmerte sich nicht darum sie abzuwischen, sondern sagte mit dem Ton, den ein Vater anschlägt, wenn er darum kämpft, seinem Sohn den richtigen Weg zu zeigen: "Du hast keine wahre Liebe, En David. Dein Herz ist erfüllt von Ängsten und du musst noch vieles lernen, bevor du sie ablegen oder ihrer Herr werden kannst. Es steht nicht in meiner Macht, dich das zu lehren. Mein Vater wird es tun. Nun geh und bereite alles vor, damit wir noch heute aufbrechen können, sobald die Sonne den höchsten Stand überschritten hat."