Zum Glück aller Beteiligten war dieser Urenark zahm und unverletzt. Zum Glück hatte der unheimliche Reiter den Pfeil aufgefangen und zum Glück hatte En David dann schnell reagiert. Undenkbar, was passiert wäre, hätten sie den Urenark verletzt. Zahm wäre er dann höchstwahrscheinlich nicht mehr geblieben.
En David hatte den Urenark mit zwei anderen Männern, den einzigen die sich an ihn herantrauten, in einem leeren Stall angebunden. Darum hatte der Reiter, der sich als Omoktoplon vorstellte, sie gleich gebeten. Sein eigenes Wohl hatte ihm zweitrangig erschienen oder selbstverständlich? Er hatte sich den Pfeil, der tief in seinen Schienbeinknochen eingedrungen war, an Ort und Stelle abgebrochen. Gleich darauf ließ er sich von Mariol zu dessen Frau bringen, die sich mit der Versorgung von Verwundeten am besten auskannte.
Der Urenark war erstaunlich leicht zu führen, obwohl er En David und seine Gefährten nicht kannte. Auch ließ er sich mithilfe eines einfachen Stricks anbinden, den er allem Anschein nach nur als Symbol trug. Wenn er wollte, hätte er ihn mühelos zerreißen können.
Als die Männer damit fertig waren, liefen sie schnell zu ihren Frauen, nur Lennek, der noch ledig war, stand etwas verdattert in der Nähe des Stalls und fragte sich, ob er auch wirklich wach sei. Bevor Lennek schließlich zum Haus seiner Eltern ging, war En David schon in Valtivus Arme gefallen und hatte ihr zu verstehen gegeben, dass seine Reise wohl noch etwas warten könne. Die Neuigkeit mit dem Zeichen verschwieg er jedoch vorerst. Es war beruhigend für die angespannte Atmosphäre, zu wissen, dass keinem der Männer etwas passiert war. Die Kinder waren immer noch wach, doch nun ließen sie sich beruhigt darauf ein, dass Schlafenszeit war. Sie zu Bett zu bringen überließ En David jedoch seiner Frau, darum bemüht schnellstmöglich den geheimnisvollen Reiter des Urenark aufzusuchen.
Er wollte natürlich nicht nur nach seinem Wohlbefinden sehen, hatte er doch viele Jahre auf diesen Moment gewartet. Viel mehr ging es ihm darum, zu hören, was dieser seltsame Mann zu sagen hatte. Er erwartete sensationelle Nachrichten oder wenigstens solche, die dazu gedacht waren, dringende und wichtige Handlungen zu erwirken. Er war voller Tatendrang, bereit sich mit diesem Mann in ein Abenteuer zu stürzen, auch wenn er ahnte, dass sein Vater dahinter stecken mochte - in diesem Fall konnte es fast nichts anderes bedeuten: dieser Mann würde ihm aller Voraussicht nach eine geheime Söldnertruppe anbieten, mit der er die gefallene Dynastie wieder aufrichten konnte. Aber selbst dafür war En David nun offen, obwohl er sich nicht als König fühlte, war er doch auch nicht als Prinz geboren, sondern als einfacher Sohn eines Obstbauern. Vielleicht qualifizierte ihn genau das. Vielleicht würde er genau diese Nähe zum einfachen Volk brauchen, um gerade in dieser Zeit einer anbrechenden Hungersnot eine willkommene Ablösung zu sein. Die strenge Herrschaft der Ianer lastete längst schwer auf Land und Leuten.
En David hatte das große Haus seinem eigenen gegenüber betreten und ging zur Wohnung Mariols. Vor dem Vorhang, in der Türöffnung hielt er kurz inne. Ob er einfach eintreten sollte? An dem Vorhang konnte er ja schlecht klopfen.
"E!", sagte er in den Raum hinein, um sich bemerkbar zu machen, und dann noch einmal lauter: "E!", dann hörte er Schritte und als Avila den Vorhang beiseite zog sah er, dass in einer der Falten eine Glocke hing. Nun, Avila lächelte dennoch, oder gerade, weil er sich so angestellt hatte?
"Ele, En David. Möchtest du zu Omo..., ach wie war der Name nochmal?" - "Ja, Omoktoplon, glaube ich." - "Er hat gerade schon nach dir gefragt. Ich weiß nicht, was er wollte."
"Wer ist da, Avi?", hörte man gedämpft Mariols Stimme aus dem Nebenraum rechts von der Tür. "Es ist En David. Er möchte O-mok-to-plon sehen."
En David schmunzelte darüber, wie Avila den Namen nun bewusst vorsichtig aussprach. Mariol trat schnell ins Zimmer, um En David zu begrüßen. "Unser Gast hat schon nach dir gefragt. Sein Bein ist versorgt und er behauptet, er brauche sich überhaupt nicht länger ausruhen. Vielleicht beruhigst du ihn - er wäre bald zu dir gehumpelt, wenn du nicht gekommen wärst."
En David trat in den Nebenraum, der keine Fenster hatte und von einer kleinen Öllampe auf einem Schemel in ein heimlich warmes Licht getaucht wurde. Auf dem Bett an der Wand setzte sich Omoktoplon auf und neigte sein Haupt ehrerbietend vor En David. Dieser Mann mochte in seinem Alter sein und doch sah er ausgezehrt und seltsam mager aus, auch war seine Haut viel heller, als die der meisten Männer, die En David je gesehen hatte. Selbst unter den Frauen kannte er keine, die so blass wirkte. Die meisten Frauen arbeiteten viel im Haus und wenig in den Hainen, weil die Wärme und das Licht der Sonne sie besonders schnell müde machten. En David fragte sich, wo Omoktoplon her sein konnte, doch dieser begann zu sprechen, bevor En David überhaupt E sagen konnte. "En David, schön dich nun endlich zu treffen. Dein Vater Seneor hat uns viel von dir erzählt. Er hat uns vor zwei Wochen verlassen und es war sein Wille, dass ich dich nach unserer Trennung aufsuchen sollte. Er sagte, du wärest sicher froh zu wissen, dass er sein Ziel erreicht habe. Ich habe dir noch einiges zu erzählen, doch du bist müde wie ich sehe. Lass uns das morgen in Ruhe besprechen, bevor wir aufbrechen."
En David war schlagartig nicht mehr müde oder erschöpft. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. „Moment mal, Moment mal! Bitte was? Vaters Ziel wurde erreicht?“ Er starrte den unverhofften Besucher an. „Und was bedeutet; bevor wir aufbrechen? Wohin sollen wir denn gehen, bitteschön?“ Omoktoplon winkte ab. „Das klären wir morgen, wenn du ausgeschlafen bist!“ Er drehte sich unmissverständlich zur Wand. Das Gespräch war vorerst beendet.
Wenn ich ausgeschlafen habe? Lachte En David in sich hinein, als er das Haus verließ. Er konnte froh sein, wenn er überhaupt Schlaf finden würde.
Sein Vater hatte also sein Ziel erreicht. Aber was bedeutete das jetzt für ihn und würde er seinen Vater je wiedersehen?
Er kam völlig aufgewühlt in sein eigenes Haus. Valtivu würde ihn zu beruhigen wissen. Das hoffte er zumindest.
Die Kinder waren in der Zwischenzeit eingeschlafen, Rundor wohl vor Erschöpfung, nachdem er so viel geweint hatte. Ara hingegen war ohne Murren oder Jammern zu Bett gegangen, sie war schon ein Segen für ihre Eltern - ein braveres Kind, als Ara es war, wäre wohl kaum noch als Kind durchgegangen - nur sehr selten hatte sie irgendwelche Flausen im Kopf, die man ihr auszureden bedacht war.
Valtivu war heute Nacht besonders glücklich, dass sie in En Davids Armen liegen durfte, sie genoss es nur noch mehr, nachdem sie sich darauf eingestellt hatte, dass diese Nacht für eine Zeit ihre letzte gemeinsame sein würde.
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überarbeiten:
– Kapitel evtl. als Anfangsszene fürs nächste Kapitel zusammenkürzen