Die ganze Strasse war voll mit Hexen, die hämisch lachten und dabei auf Trommeln schlugen oder in Trompeten bliesen. Der dadurch erzeugte Lärm war ohrenbetäubend. Einige trugen ausserdem Fackeln bei sich, mit denen sie die Nacht erhellten. Für Fremde wäre das Ganze ein ungeheurer Anblick gewesen, aber Leander wusste ganz genau, was sich da um ihn herum abspielte: die Walpurgisnacht. Jedes Jahr verkleideten sich in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai zehntausende von Menschen als Hexen. Dieses Jahr war er endlich alt genug, um mit seinen Freunden an diesem speziellen Event teilzunehmen. Schon immer hatte er sich gefragt, wieso die Leute sich ausgerechnet Hexenkostüme anzogen, aber er hatte nur herausgefunden, dass es ein christlicher Brauch ist. Doch Hauptsache war, dass er an diesem faszinierenden Umzug mitmachen konnte. Er liebte es über alles sich zu verkleiden und zudem mochte er den Trubel. Seine Eltern mahnten ihn, dass er sich nicht zu sehr ins Getümmel stürzen sollte, da er sich sonst verirren würde. Er hatte ihnen hoch und heilig versprochen, dass ihm nichts passieren werde, doch seine Eltern schienen immer noch etwas besorgt auszusehen.
Plötzlich wurde er von einer Hexe so stark angerempelt, dass er fast zu Boden stürzte. Sein bester Freund Tom legte ihm die Hand auf die Schulter und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei.
"Ja, danke. Mir geht's gut, ich war für einen kurzen Moment nur etwas schockiert." Seine übrigen Freunde schienen nicht bemerkt zu haben, was passiert war, denn sie sangen und jauchzten fröhlich weiter.
"Warum hatte der es so eilig?", fragte Tom.
"Keine Ahnung, das kam mir auch ziemlich komisch vor. Vielleicht ist etwas zu Hause geschehen und er musste so schnell wie möglich zurück", überlegte Leander. Tom schaute ihn ängstlich an:
"Mein Gott, hoffentlich ist es nichts Schlimmes."
"Nein, mach dir keine Sorgen. Komm, sonst verlieren wir unsere Freunde aus den Augen."
Kaum gesagt, rempelte ihn eine weitere Hexe an. Leander versuchte einen Blick auf ihre Maske zu erhaschen, doch sie war bereits in der Menge vor ihm abgetaucht.
"Was soll das?", rief Leander zornig. "Könnt ihr nicht aufpassen, wo ihr hinrennt?" Tom schwieg und schaute nachdenklich auf das Getümmel, welches sich vor ihnen ausstreckte.
"Das gefällt mir gar nicht", meinte Tom leise, "warum rennen diese zwei durch all die Leute?"
"Sind wahrscheinlich irgendwelche Spinner", vermutete Leander in zornigem Ton. Die beiden setzten sich weiter in Bewegung und beschleunigten ihre Schritte, um ihre Freunde aufzuholen. Aber diese waren weit und breit nicht zu sehen, dafür raste eine weitere Hexe zwischen Leander und Tom hindurch. Verblüfft starrten die beiden ihr hinterher, danach sahen sie sich verwundert an.
"Lass uns umkehren", schlug Tom vor und machte ein verängstigtes Gesicht. "Ich fühle mich nicht me...", doch weiter kam er nicht, denn er wurde von einer weiteren Hexe zu Boden befördert. Sie hielt kurz an, um Tom auf die Beine zu helfen und murmelte eine Entschuldigung. Da legte sie ihren Kopf in den Nacken und schrie: "Feuer, Feuer!"
Verständnislos schüttelten Leander und Tom ihre Köpfe, denn einige der Hexen trugen zwar Fackeln mit sich, was aber kein Grund gewesen wäre, panisch durch die Gegend zu schreien. Die anderen Leute in der nahen Umgebung schienen genauso verwirrt zu sein, denn sie hörten einen Moment auf, auf ihre Trommeln zu hämmern und in ihre Trompeten zu blasen. Nun nahm die Hexe ihre Maske ab und darunter kamen vor Angst aufgerissene Augen zum Vorschein. Nervöses Gemurmel breitete sich aus und Leander und Tom schauten sich besorgt an.
"Die Hexe meint es total ernst", wimmerte Tom, "da brennt es irgendwo, deshalb sind diese vier wie die Irren durch die Menge gerannt." Er verstummte für einen kurzen Moment, bevor er weiter sprach:
"Aber warum haben nur diese vier davon etwas bemerkt", überlegte er laut und blickte Leander fragend an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. Er sah inzwischen genauso verängstigt aus und wollte nur noch raus in Sicherheit, denn wenn hier wirklich irgendwo in der Nähe ein Feuer ausgebrochen war, so würde dies verheerende Folgen haben. Schon jetzt schauten die meisten Hexen gehetzt umher; wenn sie also das Feuer mit eigenen Augen sehen würden, würde es nicht mehr lange dauern bis sie in Panik gerieten und wie wild durch die Gegend trampelten. Beim Gedanken daran wurde Leander schlecht, doch da fiel ihm etwas auf: Die Hexe, die sie vor dem Feuer gewarnt hatte, musste sich ein Grinsen verkneifen. Rasch lief Leander auf sie zu und packte sie am Arm, jedoch war sie viel grösser und stärker als er und schüttelte ihn wie eine lästige Fliege ab. Blitzschnell rannte sie weg, doch sie kam nur wenige Meter weit, denn sie stolperte aus Versehen über ein Paar Füsse.
"Packt sie!", rief Leander und zeigte auf die am Boden liegende Hexe. "Sie und ihre Kumpanen wollten euch nur einen bösen Streich spielen."
Verdutzt schauten ihn die übrigen Hexen an, doch dann traten drei vor und beugten sich über sie.
"Ist das wahr?", fragte einer der drei.
Zuerst schwieg die Hexe, dann antwortete sie mit tiefer Männerstimme: "Ja, es stimmt."
Entrüstet murmelte die Menge, einige nahmen sogar ihre Masken ab. Die meisten hatten inzwischen aufgehört ihre Instrumente zu spielen, sogar diejenigen, die sich nicht in der Nähe des Geschehens befanden. Tom lief auf Leander zu und fragte ihn:
"Du hast was von Kumpanen gesprochen, wen meintest du denn damit?"
"Na, die anderen drei, die durch die Menge gesprintet waren. Sie wollten den Eindruck erwecken als ob irgendwas nicht stimmte und als das nicht klappte, schrie der vierte, dass ein Feuer ausgebrochen wäre, um die anderen Hexen in Angst zu versetzen. Das hat bei dir zumindest ganz gut geklappt", sagte Leander und lachte beim letzten Satz.
Sein Freund starrte ihn für einen Augenblick ungläubig an und meinte dann:
"Und woher willst du das wissen? Die Erklärung scheint mir zwar plausibel, aber ich würde dir trotzdem davon abraten irgendwelche Leute zu beschuldigen."
"Du hast ja gehört wie der Mann vorher zugegeben hatte, dass es sich dabei nur um einen Streich handelte. Dass die anderen drei vorher wie die Wahnsinnigen durch all diese Leute hier rannten, konnte nicht wirklich ein Zufall sein, oder?", antwortete Leander.
"Also wenn es tatsächlich stimmt, was du mir erzählst, dann solltest du definitiv Detektiv werden", meinte Tom und nickte anerkennend.
Doch ob Leander mit seiner Theorie richtig gelegen hatte oder nicht, fanden die beiden nie heraus, denn als die Polizei eintraf und den Mann, der die Leute in solchen Aufruhr versetzt hatte, der Täuschung bezichtigte, konnte keiner der beiden einen Beweis vorlegen, dass vorher bereits drei andere durch die Menge gerannt waren.