Das Date könnte nicht besser verlaufen. Martin hatte sie in ein luxuriöses Restaurant eingeladen und dort hatten sie ausgiebig gespeist und getrunken. Sie hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr so gut gegessen, doch als die Rechnung kam, setzte ihr Herz für einen kurzen Moment aus. Doch Martin beruhigte sie, denn er übernahm selbstverständlich die Kosten für ihren Schmaus. Ausserdem stammte er ohnehin aus einer sehr reichen Familie, daher schmerzte es ihn keineswegs, dass er etwas tiefer ins Portemonnaie schauen musste. Während ihres Dates war ziemlich Rotwein geflossen, deshalb waren die beiden sehr lustig, als sie das Restaurant verliessen. Sie kicherten und schauten sich gegenseitig in die Augen, so als ob sie eine seltene Gottheit vor sich hätten. Sie torkelten über die Strassen und über eine Brücke und gackerten dabei so laut, dass die anderen Passanten sie komisch anstarrten. Die beiden waren immerhin bereits über dreissig Jahre alt, also raus aus dem Alter, als die meisten noch jedes zweite Wochenende auf Partys und in Clubs gingen und sich dort dann volllaufen liessen. Doch Martin und Nina störte die Blicke der anderen Leute nicht im Geringsten. Sie waren beide ja ziemlich voll.
Nachdem sie unfreiwillig die halbe Stadt in der Nacht erkundet hatten, thronte ein riesiger Gebäudekomplex vor ihren Augen auf. Sie waren endlich beim Hotel angekommen, das Martin gebucht hatte. Er war momentan alleine auf Geschäftsreisen. Trotzdem hatte er ein Zimmer mit Doppelbett genommen. Nicht etwa, weil er es sich einfach leisten konnte, sondern vielmehr aus dem Grund, dass er womöglich eine Frau kennenlernen würde, mit der er später in der Kiste landen würde. Und genau dieses Szenario sollte bald eintreffen.
Das Hotel war von oben bis unten mit Gold und Diamanten gesprenkelt. Die hellen Töne der Verzierungen an der Treppe und an den Wänden blendeten fast, nachdem Martin und Nina eine halbe Stunde lang durch die nächtliche Stadt geirrt waren. Hinter der Rezeption stand ein arrogant aussehender junger Herr, der eindeutig zu viel Gel in seinen Haaren hatte. Als Martin auf ihn zu torkelte, blickte dieser ihn nur verächtlich an, sagte aber nichts. Solange er nicht erbrach, konnte er ihn nicht aus dem Hotel werfen.
Martin gab seine Schlüsselnummer an, wobei er aber so undeutlich sprach, dass der junge Mann hinter der Rezeption ihn fast nicht verstanden hätte. Als Martin sich vom Empfang abwandte, stolperte Nina ihm hinterher, die bislang in einer Ecke halb stand, halb sass. Ihr war ziemlich übel geworden, weshalb sie sich stark zusammennehmen musste, um nicht den wertvollen Boden vollzukotzen. Irgendwie gelangten die beiden in Martins Hotelzimmer, auch wenn sie auf der Treppe fast liegen geblieben wären. Den Lift durften sie nicht benutzen, nachdem die anderen Fahrgäste bemerkt hatten, in welchem Zustand sie sich befanden. Im Zimmer angekommen, plumpsten sie auf ihr Bett und starrten auf die sich bewegende Decke hoch. Nachdem Möbel, Wände und Decke wieder allmählich zum Stillstand kamen, setzten sie sich auf und blickten sich verträumt an.
Martin hatte bereits sein T-Shirt von seinem Körper gerissen, als ein schriller Pfeifton einsetzte. Im ersten Moment verstanden die beiden nicht, dass es sich dabei um den Feueralarm handelte. Das Piepsen war wahrscheinlich nur in ihrem Kopf; ein Nebenprodukt des Rotweins. Doch das Pfeifen wurde immer wie lauter bis es schliesslich so schrill war, dass sie sich die Ohren zuhalten mussten. "Oh Gott, ich wusste gar nicht, dass Alkohol einen Tinnitus auslösen kann", rief Nina. Martin wollte ihr schon zustimmen, als er bemerkte, dass das Lämpchen am Rauchmelder durchgehend rot leuchtete. Sofort weiteten sich seine Augen vor Schreck: Das Piepsen war nicht in ihrem Kopf, es pfiff aus dem Rauchmelder hinaus. Von einer Sekunde auf die andere stellten sich Martins Sinne wieder ein. "Verdammt, das ist nicht in unseren Köpfen. Es brennt irgendwo!", schrie er ängstlich. Nina war offenbar noch betrunkener als er, denn sie lachte nur: "Ach, du bist mir aber ein Lustiger." Martin hatte keine Zeit ihr zu erklären, dass die Situation todernst war, daher packte er sie am Unterarm und zog sie aus dem Zimmer hinaus. Wütend protestierte sie. "Was soll das? Wieso gehen wir jetzt hinaus in den Flur? Willst du etwa dort mit mir herummachen?" Unverständlich blickte Martin sie an. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und rief: "Verstehst du denn nicht, dass es im Hotel brennt. Wir müssen hier sofort hinaus!" Zuerst blickte Nina ihn weiterhin verloren an, dann bemerkte er eine Regung in ihren Augen, so als ob ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen wäre. "Das würde ja heissen, dass wir schleunigst aus dem Hotel müssen", schlussfolgerte sie. "Ja, Watson, das versuche ich dir schon die ganze Zeit klarzumachen", antwortete er, "und jetzt nimm deine Beine in die Hand".
Als sie die Treppe hinunterstürzten, hörten sie Feuerwehrsirenen aus der Ferne, die rasch immer näher kamen. "Komm schon", rief Martin, als er bemerkte, dass Nina Anstalten machte, sich auf eine Treppenstufe zu setzen. "Du kannst dich jetzt unmöglich ausruhen. Wir haben bereits zu viel Zeit verloren." "Aber ich bin so müde", jammerte sie, "ausserdem spüre ich gar keine Hitze, was bedeutet, dass das Feuer weit weg von uns ist".
"Wenn du hier ein Nickerchen einlegst, wirst du vermutlich nicht mehr aufwachen", antwortete er. Nina wusste, dass Martin Recht hatte, und trotzdem musste sie ihre ganze Willenskraft aufwenden, um sich in Bewegung zu setzen. Sie torkelten weiter die Treppe hinab bis sie endlich das Erdgeschoss erreichten. Auf dem Weg nach unten waren sie anderen Fliehenden begegnet, die sich gegenseitig fast über den Haufen gelaufen wären. Im Parterre riefen die Menschen panisch umher, während die Feuerwehrleute verzweifelt versuchten, die Menge koordiniert aus dem Gebäude zu führen. "Meine Tochter, wo ist sie? Ich finde sie nicht", schrie eine besorgte Mutter. Ein Feuerwehrmann nahm sie tröstend in die Arme und versicherte ihr, dass sie sie um jeden Preis finden würden. Glücklicherweise mussten sie das gar nicht mehr tun, denn die Tochter hatte sich in einer Ecke verkrochen und wimmerte leise vor sich hin. In dem ganzen Getummel und Geschreie wurde aber niemand auf sie aufmerksam. Die Hotelgäste begannen allmählich wie eine Masse aus dem Gebäude zu treiben. Als Nina am Eingang ankam, erblickte sie rechts aus den Augenwinkeln eine kleine Gestalt. Sofort blieb sie stehen und wandte sich in die entsprechende Richtung. Dort kauerte ein kleines Mädchen, das leise nach seiner Mutter rief. Nina bückte sich und nahm das Kleine in ihre Arme. "Wem gehört dieses Kind hier?", rief sie über die Köpfe hinweg. Es kam keine Antwort, dafür tauchte die Mutter urplötzlich vor Nina auf und nahm es ihr dankbar ab.
Als Martin draussen in der Kälte angelangt war, starrte er hinauf und erblickte lodernde Flammen, die bereits in drei Stockwerken das Zepter an sich gerissen hatten. Er betete im Stillen, dass niemand vermisst wurde, doch da hörte er, wie der Hauptmann der Feuerwehr einem seiner Leute sagte, dass ein kleines Mädchen vermisst wurde und er die Leiter hochklettern musste. Besagter Feuerwehrmann wollte sich schon auf den Weg in die Hölle machen, als Nina wild gestikulierend angerannt kam. "Nein, warten Sie! Das Mädchen ist bei ihrer Mutter." Zum Glück hatte der Feuerwehrmann sie gehört, denn er hielt inne und drehte sich um. Fragend blickte dieser den Hauptmann an, welcher ihm nach einigem Nachdenken den Befahl gab, wieder von der Leiter hinunter zu kommen. "Du hast gehört, was die junge Frau gesagt hat. Ich opfere sicher nicht unnötig meine Männer."
Martin lief auf Nina zu und umarmte sie. "Ich habe dich schon vermisst", sagte er. "Ich dich auch", antwortete sie. Um sie herum standen Feuerwehrautos, die dem Feuer den Kampf ansagten, Krankenwagen, die die Verletzten betreuten und eine riesige Menschenmenge, die gebannt auf die lodernden Flammen starrten. Nach drei Viertel Stunden war das letzte Fünkchen gelöscht. Tote oder Vermisste gab es zum Glück keine.