Niedergeschlagen schlenderte er nach Hause, vorbei an den dunklen Häusern und Feldern, auf denen vielleicht Füchse oder Rehe waren, die aber aufgrund der Nacht nicht zu sehen waren. Es waren schüchterne Tiere, die sich nur selten blicken liessen, und wenn sie es tatsächlich taten, waren sie so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Tobias hatte es nicht eilig. Im Gegenteil: Am liebsten wollte er gar nicht zu Hause ankommen, denn dort könnte er seinen eigenen Gedanken nicht mehr nachhängen. Aber hier mitten in der Nacht, begleitet vom Zirpen der Grillen und dem fast nicht hörbaren Wogen der Grashalme, waren seine Gedanken frei wie ein Vogel und genau das brauchte er im Moment. Sein bester Freund Kevin hatte ihn nämlich arg im Stich gelassen, als er dringendst Hilfe benötigte und das, obwohl sie vor vielen Jahren geschworen hatten, einander in jeglicher Situation zu helfen, wenn der andere es benötigte. Und genau das hatte Kevin versäumt. Tobias konnte immer noch nicht glauben, dass er ihn einmal Freund nannte, doch nun war er fertig mit ihm. Kevin hatte bereits mehrere Male versucht, mit Tobias in Kontakt zu treten, doch dieser ignorierte alle Anrufe und Nachrichten und blockierte ihn schliesslich auf etlichen Social Media-Seiten wie Instagram oder WhatsApp.
Tobias hing so stark seinem eigenen Gedankenkarussell nach, dass er gar nicht bemerkte, dass er an seinem Haus vorbei gelaufen war. Als schliesslich die Häuserreihe endete und in den dunklen Wald überging, der sogar bei Tageslicht unheimlich erschien, fiel ihm auf, dass er zu weit gelaufen war und zurückkehren musste. Obwohl sein Gehirn immer noch nicht aufgehört hatte, neue Gedanken zu produzieren, wollte er nach Hause, denn er hatte Hunger und ihm wurde langsam kalt. Ausserdem würden sich seine Eltern sicher schon Sorgen machen, da er bei Einbruch der Dunkelheit immer noch nicht zu Hause war.
Da fiel ihm ein, dass er schon längst hätte zu Hause sein sollen. Seine Eltern wussten zwar, dass er heute nach der Schule zu seinem Freund Kevin (ach was Freund, ein Verräter ist das) gehen würde, aber sie hatten ihm eingebläut, dass er vor 21:00 Uhr zurück sein sollte. Das Lustige daran war, dass Tobias heute Nachmittag gar nicht bei Kevin war, da dieser ihn in der Schule aufs Übelste im Stich gelassen hatte. Stattdessen war er zu Lena, auf die er schon seit Monaten stand, es aber ihr nicht zu sagen getraute. Sie hatte ihn getröstet und ihm gesagt, sie sei sicher, dass er und Kevin wieder beste Freunde werden würden. Doch Tobias hatte nur traurig den Kopf geschüttelt und ihr erklärt, dass er womöglich für zehn Jahre niemandem mehr voll vertrauen kann. Da wurde Lena natürlich neugierig und fragte Tobias, was Kevin denn angestellt hätte, dass er nun solch schwere Vertrauensprobleme hatte. Doch wieder hatte Tobias nur traurig den Kopf geschüttelt und deprimiert auf den Boden gestarrt. Danach breitete sich für eine Weile peinliches Schweigen aus, das dadurch unterbrochen wurde, als Tobias bemerkte, wie Lena zu ihm herüberrutschte und ihn zu küssen versuchte. Doch der Versuch blieb bei einem Versuch, denn Tobias sprang vom Bett auf, als ob ein Feuer unter seinem Hintern ausgebrochen wäre. Er stammelte einen Abschiedsgruss Richtung Boden und stürzte Hals über Kopf aus dem Haus hinaus. Draussen angekommen schimpfte er sich einen Idioten und eine Welle von Gewissensbissen überkam ihn, da er sie einfach so hatte sitzen lassen. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, noch einmal umzudrehen und Lena sein merkwürdiges Verhalten zu erklären, doch dazu war er leider zu feige.
Endlich war er zu Hause angekommen (eigentlich schon zum zweiten Mal) und klingelte. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm die Zeit: 22:18 Uhr. Er machte sich auf eine Schimpftirade seitens seiner Eltern gefasst, doch als sein Vater auftat, umarmte ihn dieser, wobei Umarmung eine Untertreibung war. Eher quetschte sein Vater die Luft aus Tobias' Lungen, sodass dieser dachte, dass es jetzt aus mit ihm wäre. Schliesslich begriff er, dass sein Sohn Atemnot bekam und liess von ihm los. Tobias' Vater wollte gerade fragen, wieso er erst jetzt zu Hause war und nicht um die abgesprochene Zeit, als seine Mutter oben auf der Treppe erschien und einen spitzen Schrei ausstiess. Weinend stolperte sie hinunter und umarmte ihren Sohn. Sie drückte zwar nicht so fest wie sein Vater, dafür liess sie aber erst nach einer Minute locker. Tobias fand das Ganze etwas übertrieben, aber er verstand, wieso sie sich Sorgen um ihn gemacht hatten.
Nach der Umarmung blickte die Mutter ihren Sohn fragend an. Offenbar war auch sie daran interessiert, warum Tobias erst nach 22.00 Uhr zu Hause angekommen war. Also fing er an zu erzählen.
Bis auf die Tatsache, dass Lena versucht hatte, ihn zu küssen, er aber von ihr gewichen war, da er Panik bekam, liess er nicht das kleinste Detail aus.
Als er seinen Bericht geendet hatte, wollten seine Eltern wissen, was denn sein Freund Kevin getan hätte, dass sie miteinander zerstritten waren. Doch er konnte ihnen unmöglich den Grund dafür sagen, denn sonst wüssten sie, dass seine glamourösen Leistungen nicht sein eigener Verdienst waren, sondern Kevin geschuldet waren. Aber dieses eine Mal hatte sein bester Freund ihn voll verraten, obwohl sie geschworen hatten, bei jeglicher Situation einander zu helfen, wenn der andere es benötigte.