Es war ein anstrengender Tag gewesen. Erst neun Stunden Arbeit, dann duschen, dann zum Training. Das Training war trotz allem entspannend. Der Kopf wurde bei dem Randori und den anderen Übungen wieder vollkommen frei geblasen. Nach dem Abgrüßen noch schnell duschen und die Klamotten packen. Ich ahnte noch nicht, dass mich zu Hause eine Tsunami erwischen würde. Ich hatte gerade den Kimono in die Wäsche gelegt und mir noch etwas zu Essen genommen, da schrillte meine Klingel. Onur stapfte die Treppe hinauf und rief schon: "Wir müssen Özcan retten." Ich verstand die Worte, aber nicht warum ich Özcan retten musste. Eben beim Training ging es Özcan doch noch ganz gut. "Komm schnell, nehme deine Autoschlüssel mit und beeile dich. Er steckt arg in der Klemme."
Rasch tat ich, was mir aufgetragen worden war. Schuhe anziehen, Jacke überwerfen und die Autoschlüssel. Danach sprang ich die Treppe hinunter und Onur erklärte mir grob die Zusammenhänge. "Özcans Vater hat den Verstand verloren. Er hat Geld angenommen, damit Özcan in der Türkei eine ihm fremde Cousine heiraten soll." Ich schüttelte den Kopf. "Özcans Vater ist doch vorsitzender des Deutsch-Türkischen Freundschaftsvereins. Und Özcans Familie wirkt doch ganz vernünftig. Das muss ein Missverständnis sein. Sicher hast du dich nur verhört." Onur sah mich böse an. "Quatsch! Alte Traditionen leben länger als Menschen und bei ärmeren Familien gibt es Zwänge, die du dir nicht vorstellen kannst. Zumal Özcans Vater bei diesem Verwandten tief in der Schuldenfalle steckt. Oder kannst du Özcan eben mal fünfundfürzigtausend Euro zustecken, damit er sich vom Militärdienst freikaufen kann?" Ich verstand gar nichts. Naiv, wie ich war, dachte ich immer nur daran, dass es Mädchen treffen würde. Trotz allen fuhr ich Onur hinterher. Ich wusste nur, dass ich Özcan von einem Versteck abholen sollte. Mehr wusste ich nicht. Onur lud Ben Ali in den Wagen und machte sich auf den Weg, um den Lockvogel zu spielen. Ich hingegen fuhr zum Parkplatz der Universität. Dort erwartete mich Necibe, Özcans Schwester, die mir das nächste Ziel vorgab und einen Koffer mit Kleidung in den Wagen warf. Über einige Schleichwege und Wege, die in keiner Straßenkarte vorhanden waren gelangte ich zum Stadion. Dort sollte ich auf Özcan warten.
Ich fand Zeit, um mir erste Gedanken zu machen. "Was sind das für alte Traditionen, die einen Vater dazu bringen seinen Sohn zu verkaufen? Özcans Vater wirkte auf mich immer recht vernünftig und da er als Moslem auch gerne und oft Schnaps trank, dachte ich, die Sache mit der Religion sei nicht so dramatisch. Aber, was weiß ich schon?" Der Wagen von unserem Sponsor hielt neben meinem Auto. Das Fenster senkte sich ab. "Fast hätten sie Özcan erwischt. Mit dem Motorroller meiner Tochter ist er durch die Kleingartensiedlung entkommen. Er wartet auf dich neben dem REAL Markt. Nicht auf dem Parkplatz, sondern auf der Rückseite, da wo die Laderampen sind. Gebe Signal mit der Lichthupe. Drei mal mit der Lichthupe und einmal kurz die Blinker betätigen." Ich merkte es mir und fuhr zu besagter Stelle. unterwegs grübelte ich, ob ich bei der versteckten Kamera landen würde.
Die Sache entwickelte sich zu einem Krimi für mich, weil ich nichts verstand. Ich grübelte immer noch, was da gerade vor sich ging. "Wie kann ein anscheinend erfolgreicher Geschäftsmann, wie Özcans Vater, seinen Sohn verkaufen. Immerhin finanzierte er ja großzügig Özcans Studium. Auch die Feiern bei Özcan waren immer recht offen und Leute aus diversen Kulturkreisen waren stets zugegen." Ich peilte noch immer nicht, was Sache war. Auf kaum beleuchteten Nebenstraßen, näherte ich mich dem REAL Markt. Vorsichtig fuhr ich zuerst nur einmal vorbei und sah, dass der Parkplatz leer war und kein fetter BMW auf dem Parkplatz oder in der Umgebung stand. Erst danach fuhr ich zum Personaleingang, den ich bestens kannte. Immerhin bekamen wir für die Siegesfeiern dort immer die Getränke, die Grillkohle und das Bier übergeben. Ich betätigte also vor den Schranken die Lichthupe und setzte den Blinker. Endlich erschien Özcan zwischen den Mülltonnen. Rasch sprang er in den Wagen. "Ich muss ein paar Tage bei dir wohnen. Mein Großonkel will mich in die Türkei zwingen, damit ich seine Nichte eheliche. Damit wäre mein Vater frei von Schulden. Aber das ist seine Kiste, bei der ich nicht mitspiele. Ich kenne die Göre ja nicht einmal und mir bleibt nur ein Ausweg." Özcan sah mich mit versteinerten Augen an. " Ich muss mich von meiner Familie im Beisein eines Imams lossagen. Und dafür brauche ich zwei Zeugen. Du musst morgen zu Ben Ali und ihn fragen, ob er mir hilft, also bei dieser heiklen Sache. Den Imam wird Ben schon anrufen."
Meine Augen mussten mehr Erstaunen verraten haben, als beabsichtigt. Ich musste zudem auf die Straße und den Verkehr achten. Unterwegs berichtete Özcan alles aus seiner Perspektive. Ich erfuhr, dass sich sein Vater damals bei dem Großonkel verschuldet hatte und dieser nun einen Kuhhandel vorschlug. Özcan sollte die unbekannte Cousine ehelichen und damit wären die Schulden getilgt. Ich zweifelte an dem, was ich hörte. Bei mir zuhause parkte ich nicht. In einer Nebenstraße parkte ich den Wagen und über eine Baugelände gelangten wir zu meiner Studentenbude in der Kniestraße. Die Mauer zu überwinden war kein Akt, zumal wir beide sportlich waren und die Mauer keine zwei Meter Maß. Erst in der Wohnung beruhigte sich Özcan. Fast brach er zusammen. "Verstehst du, ich muss mich von meiner Familie lossagen. Nur so kann ich weiterleben. Stelle dir nur vor, du würdest verheiratet mit einer Ische, die du nicht mal kennst. Zudem muss ich morgen zum Studentenpfarrer, damit ich Konvertieren kann. Erst nachdem ich nicht mehr zur Familie gehöre und kein Moslem mehr bin - kann ich wieder frei leben. Dann hat mein Vater keinen Zugriff mehr auf mich. Versteh, ich flüchte vor ungeschriebenen Gesetzen und archaischen Traditionen."
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Etwa drei Jahre später erfuhr ich von Ben, dass Özcan einen anderen Namen angenommen hatte und seine deutsche Freundin geheiratet hatte. Mehr wurde mir nicht übermittelt.