Heiligabend stand vor der Tür. Genaugenommen war er am nächsten Tag und Elke stand trotz der Tatsache, dass sie mitten in der achtunddreißigsten Schwangerschaftswoche war, in der Küche.
Sie schälte und pellte Kartoffeln, weichte alte Brötchen für Serviettenknödel ein und auf dem Herd war trotz der frühen Uhrzeit schon der frische Rotkohl vor sich am Hinköcheln. Das Fleisch für den Festtagsbraten lag im Kühlschrank bereit und Elke werkelte geschäftig, wenn auch etwas schwerfällig in ihrem Reich herum.
Verschlafen, aber von den leckeren Düften angelockt, kamen Jürgen und Tim fast zeitgleich in der Kochstube an. Beide drückten der fleißigen Köchin einen Kuss auf die Wange, verkniffen sich aber jeglichen negativen Kommentar darüber, dass sie schon in der Küche stand.
Beide wussten, wie kleinlich ihre Verwandten waren. Wenn nicht alles perfekt war, dann war das Fest nicht gelungen und es wurde noch Jahre später gelästert. Jürgen verstand immer noch nicht, warum sie die ganzen Onkel, Tanten, Nichten und Neffen eigentlich einluden. Es war ja nicht so, als dass sie sich den Rest des Jahres um sie scherten. Es kam nie ein Anruf, eine WhatsApp, eine Email oder auch nur ganz altmodisch ein Brief oder eine Postkarte bei ihnen an.
Aber an Weihnachten standen sie alle auf der Matte und wollten verköstigt werden, als wäre Elke eine Sterneköchin statt einer bodenständigen Hausfrau. Jürgen und auch Tim hätte es gereicht, wenn Elkes und seine eigenen Eltern und seine Geschwister nebst ihren Partnern und Kindern aufgetaucht wären. Selbst das waren schon mehr als genug Leute. Gerade jetzt wo Elke hochschwanger war, wollte er ihr den Stress nicht zumuten, aber Elke hatte ihren Dickschädel durchgesetzt und so kam es, dass die beiden Männer statt eines Frühstücksbrotes beide einen Haufen Gemüse zum Schnippeln vor der Nase hatten.
Gnädigerweise hatte Elke ihnen jedoch Kaffee zugestanden.
*~*~*~*
Natürlich kam alles etwas anders, als Familie Janssen es geplant hatte.
Noch bevor Elke sich dem Braten zuwenden konnte, merkte sie, dass ihr Nachwuchs beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, sich langsam aber sicher auf den Weg in die Welt zu machen.
Die Rückenschmerzen, die sie bereits am Vortag immer wieder geplagt hatten, weiteten sich auf ihren Bauch aus und kamen in schöner Regelmäßigkeit. Elke ließ sich zunächst nichts anmerken. Stattdessen räumte sie ihre Arbeitsfläche auf, stellte den Herd aus und blickte dann erst zu den beiden Männern hinüber, die immer noch am Tisch saßen.
»Es ist Zeit«, teilte sie ihnen mit.
Danach ging alles ganz schnell und doch auch irgendwie in Zeitlupe.
Mit Jürgen und Tim an ihrer Seite ging es ins Krankenhaus. Tim rief von unterwegs an und so konnten sie direkt hoch in Richtung Kreißsaal. Auf eigenen Wunsch hin blieb Tim draußen vor der Tür. Er wollte seine Mutter so nicht sehen, aber er wollte in der Nähe bleiben.
Jürgen unterstützte seine Frau nach Kräften, coachte sie durch die Wehen und nahm der Hebamme soviel Arbeit ab, wie er nur konnte.
Kurz nach Mitternacht wurde der kleine Dominic geboren und schrie seinen Unmut über diese Tatsache laut vernehmlich in die Welt hinaus.
Verschlafen und doch aufgedreht hielt Tim seinen kleinen Bruder kurz nach der Geburt in seinen Armen, während sein Vater seiner Mutter unter die Dusche half, und schwor ihn immer zu beschützen.
*~*~*~*
Auf eigenen Wunsch und da soweit auch alles in Ordnung war, wurden Elke und der kleine Dominic bereits am Mittag des 25. Dezember aus dem Krankenhaus entlassen.
Zuhause machte sie es sich mit dem Säugling auf dem Sofa bequem und ließ sich von Jürgen und Tim umsorgen.
Keiner von ihnen hatte daran gedacht, der Verwandtschaft abzusagen. So kam es, dass es um siebzehn Uhr an der Tür klingelte und gefühlt fünfzig Leute das Haus stürmten, bevor Tim auch nur mehr als ein ›Hallo‹ herausbekommen hatte.
Ungefragt verteilten sie sich durchs Haus und sofort ging das Genörgel los.
»Warum steht das Essen nicht auf dem Herd?«
»Der Tisch ist nicht gedeckt!«
»So was schlampiges. Hier liegen überall Sachen rum und das faule Stück sitzt einfach auf dem Sofa!«
»Wo ist der Festtagsbraten?«
Die Stimmen halten durcheinander und Jürgen hatte genug. Der sonst so ruhige Mann stieß einen lauten Pfiff aus und es kehrte Ruhe ein. Zumindest weitestgehend. Irgendein Onkel maulte immer noch leise herum, weil er nirgends Braten sehen konnte.
»Ihr seid ein echt undankbares Pack. Heute ist Weihnachten und für uns ist es ein ganz besonderer Tag, aber mit euch wollen wir ihn garantiert nicht teilen. Also raus hier. Meine Frau ist nicht faul und ganz sicher nicht schlampig. Was sie ist, ist eine frischgebackene Mama. Ach ja ... und der Festtagsbraten ... der heißt Dominic, schläft gerade in Mamas Armen und hätte gerne seine Ruhe!«, sagte er gezwungen ruhig, um den Säugling nicht zu stören.
Protestgemurmel wurde laut und einige wollten zu Elke ins Wohnzimmer gehen, Baby gucken, wie die Kinder verkündeten, aber Tim stellte sich ihnen in den Weg. Jürgen dirigierte die ganze Mannschaft aus dem Haus, ignorierte alle Fragen und jeglichen Protest, wo man denn nun noch Essen herbekommen sollte und der Braten, wo der denn wäre. Er schloss die Tür hinter der Menschenmasse ab, seufzte schwer und blickte dann zu seiner kleinen Familie.
»Also ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber ich glaube, der Braten muss warten. Ich schieb uns ne Pizza in den Ofen, okay?«, sprach Tim mit einem Mal.
Jürgen und Elke sahen sich an und lachten.
»Pack das Fleisch in die Tiefkühlung, wenn du die Pizza rausnimmst. Den kleinen Festtagsbraten hier, den hab ich schon versorgt. Der muss nicht mehr warten«, sagte sie und lehnte sich gegen Jürgen, der inzwischen neben ihr saß.
Einige Minuten später kam Tim mit Tee für alle bewaffnet zurück und machte es sich mit seinen Eltern und seinem Bruder unter dem Tannenbaum gemütlich. Die Lichter glänzten. Jürgen entzündete ein paar Kerzen und dimmte das Licht. Es war heimelig und so konnte Weihnachten in seinen Augen immer sein.
Draußen vor dem Fenster rieselte der Schnee leise vom Himmel herab und hüllte das Land in einer schützenden Decke ein. Es war knackig kalt und genau so, wie man sich ein Weihnachtsfest im Bilderbuch vorstellte.
Nur eine Tatsache wich von diesem Bild ab. Familie Janssen saß statt mit Rotkohl, Knödeln und Braten mit Tiefkühlpizza unterm Tannenbaum. Trotzdem konnten sie glücklicher nicht sein.